Die zweite Hälfte des Lebens
Jean Kriers letzter Gedichtband „Eingriff, sternklar“
Von Nina Janz
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Alles ist in den besten Anfängen“. Dieser Satz aus Kafkas letztem Brief an seine Eltern steht als Motto dem ersten Kapitel von Jean Kriers Gedichtband Eingriff, sternklar (2014) voran, der posthum von Michael Braun herausgegeben wurde. Braun versammelt in diesem Band in vier Kapiteln Gedichte des 2013 verstorbenen Krier, die etwa zwischen 2009 und 2012 entstanden sind. Interessant ist vor allem das letzte Kapitel Varianten, in dem Versionen von Gedichten zusammengestellt sind, bei denen unklar ist, bei welchen von ihnen es sich um die jeweils letzt(gültig)en Fassungen handeln mag. Braun stellt in seinen editorischen Schlussbemerkungen heraus, dass man hier „Jean Kriers Verfahren zur poetischen Konzentration und rhythmischen Dynamisierung seiner Texte genau studieren“ könne. Dieser editorische Kniff ist eine große Bereicherung für das eigene Lesen, da man vielen dieser Gedichte bereits in den vorhergehenden Kapiteln begegnet ist – und nun ein ganz neuer Lektüreeindruck entstehen kann.
Insgesamt ließe sich wohl kaum eine treffendere Einleitung als das Zitat aus Kafkas letztem Brief finden, wurde Jean Krier in seinen letzten Jahren doch immer wieder durch schwere Krankheit mit dem Tod konfrontiert, ein Schicksal, das seine späte Lyrik stark geprägt hat. Für Herzens Lust Spiele (2010) erhielt er 2011 den Chamisso-Preis – für einen Band, in dem er sich, nach ersten Operationen an Herz und Leber, intensiv mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzte. Wie auch bei Herzens Lust Spiele deutet bereits das Umschlagmotiv von Eingriff, sternklar, eine Ultraschallaufnahme von Kriers erkranktem Herzen, die Programmatik dieses Gedichtbandes an: Es geht um Endlichkeit, Sterblichkeit, vor allem aber um Ernüchterung, die auch immer wieder in seinen Gedichten aufscheint. Symptomatisch hierfür ist das Herz, das nicht mehr länger das wohl ursprünglichste (und meistbesungene) Symbol der Liebe ist, sondern ein lebensnotwendiges, gefährdetes und in diesem Fall todkrankes Organ.
Ernüchterung zeigt sich bereits im ersten Gedicht „Vieles aber ist / zu behalten“. Den ursprünglich Hölderlins „Mnemosyne“ entstammenden und in beinahe emphatischer Aufbruchsstimmung eingebetteten Versen „Und immer ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist zu behalten. Und Not die Treue. Vorwärts aber und nicht rückwärts wollen wir sehen“ stellt Krier eine nüchterne Sichtweise entgegen: „Das nimmt mir keiner […]. Dies alles ist zu behalten, denn dann geht das Alte wieder los“. Als deutliche intertextuelle Referenz taucht auch das Motiv von Brot und Wein immer wieder in Kriers Gedichten auf. Doch Brot und Wein haben ihre pathetische Wirkung wie in Hölderlins umfangreichster Elegie oder auch ihre aus dem Christentum herreichende sakrale Bedeutung verloren: Sie sind reine Nahrungsmittel geworden, die nüchtern und ohne symbolische Aufladung auf einem gewöhnlichen Esstisch stehen. Es ist kein Platz oder zumindest nicht mehr die Zeit für Pathos oder romantische Darstellungen.
Dennoch klingen Kriers Gedichte trotz aller Schwermut selten nach Resignation. Vielmehr finden sich in der Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit immer wieder Momente des Aufbruchs oder der Umkehr, wenn er etwa in seinem Gedicht „Tom-Tom“, dessen Titel nicht ohne Grund an einen Hersteller von Navigationsgeräten erinnert, das wohlbekannte „Wenn möglich, bitte wenden“ fordert oder programmatisch trotz des bevorstehenden Todes „Jetzt mal was ganz anderes“ ausprobieren wird. Auch Katzen mitsamt ihren symbolischen sieben Leben streifen durch Kriers Gedichte. Beinahe unsterblich werden sie zu einem alter ego des Autors, spätestens in „Tombeau pour un chat“ werden lyrisches Ich und Katze annähernd ununterscheidbar.
Die Sprachlosigkeit, die das lyrische Ich manchmal brutal heimzusuchen scheint – „nein, sing nicht, schrei und heul, blutwund im Mund. […] stimmlos, letzte Worte, die bleiben im Halse stecken“ – verbindet Krier gekonnt mit der beinahe jedem Gedicht zugrundeliegenden alkäischen Odenstrophe. Wo augenscheinlich Sprachlosigkeit herrscht, holt Krier Hölderlins sprachgewaltigen, oftmals pathetischen ‚hohen Ton’ zurück in seine Lyrik und schafft somit eine Spannung zwischen Euphorie und Melancholie, zwischen Pathos und Profanem, die doch etwas irgendwie Tröstliches in seinen Gedichten entstehen zu lassen scheint.
Eingriff, sternklar ist ein Band voller schöner, zum Teil wunderbar ergreifender Gedichte, die den Leser manchmal ein wenig schwermütig zurücklassen, ihm (und wahrscheinlich auch zuletzt Krier selbst) aber auch immer wieder Tröstendes entgegenbringen: „Es ist vollbracht, nun stirbt’s sich schattenleicht“.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen