Forscher mit Hang zum Bergler

Esther Bertschinger-Joos und Richard Butz haben ein biographisches Buch über den Anarchisten und Maler Ernst Frick geschrieben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Pardon wird nicht gegeben“, gab der imperiale Herrscher Wilhelm II. anno 1900 seinen Soldaten in der berüchtigten „Hunnenrede“ mit auf den Weg, bevor sie zur Niederschlagung des Boxeraufstandes nach China aufbrachen. Die anarchistische Linke war seinerzeit allerdings keineswegs zimperlicher und beschied ihrem „Todfeinde“, den „Herrschern“, ihrerseits: „Pardon wird unter keinen Bedingungen gewährt!“ Nachzulesen ist diese feine Botschaft in einem Flugblatt der Schweizer „Weckruf“-Gruppe zum 1. Mai 1908. Zu den Mitarbeitern des Blattes zählte Ernst Frick. Der junge Anarchist entwickelte sich später zum Maler und Hobby-Forscher. Sonderlich bekannt wurde er jedoch auf keinem der so verschiedenen Gebiete, heute ist er weithin vergessen. Bislang tauchte er denn auch nur als eher randständige Figur in den Biographien bekannterer GenossInnen seiner frühen Jahre oder in Sach- und Fachbüchern über die Sehnsuchtsorte der alternativen Szene des frühen zwanzigsten Jahrhunderts Monte Verità und Ascona auf.

Nun ist ihm aber erstmals ein ganzes Buch gewidmet. Esther Bertschinger-Joss und Richard Butz haben es geschrieben und es trägt seinen Namen im Titel. Die beiden AutorInnen haben allerdings keinen gemeinsamen Text verfasst, sondern sich die Aufgabe der Lebensbeschreibung Fricks geteilt. Widmet sich Bertschinger-Joos der frühen anarchistischen Phase, die Frick als junger Mann durchlebte, so gilt das Interesse von Butz dem älteren Künstler und Forscher.

Bertschinger-Joos schildert den 1881 in dem Städtchen Kronau geborenen Schweizer als „sensiblen Jüngling“, der sich 1902 während eines Streiks zum „selbstbewussten, kämpferischen politischen Aktivisten“ entwickelt habe, der bald darauf durch sein „theoretisches Wissen, seine Lust, über ‚Gott und die Welt‘ zu diskutieren und zu streiten“ die Aufmerksamkeit seiner GesinnungsgenossInnen erregte.

Im folgenden Jahr erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift „Weckruf“, an der er von Beginn an mitarbeitete. Zu seinen Bekannten und MitstreiterInnen zählten zu dieser Zeit Fritz Brupbacher, Margarete Faas-Hardegger, Erich Mühsam und Otto Gross. 1904 übernahm er kurzfristig die verantwortliche Herausgeberschaft des „Weckruf“. Damit „wurde der Ton der Zeitschrift kämpferischer, gewaltbereiter“. Da sich der „ungeübte Redakteur“ jedoch bald überfordert und erschöpft fühlte, legte er das Amt nach nur einem viertel Jahr wieder nieder. Allerdings vertrat er von September 1905 bis Februar 1906 seinen zu dieser Zeit eine Gefängnisstrafe verbüßenden Nachfolger Robert Scheidegger noch einmal. Doch wurde das Erscheinen der Zeitschrift bereits im gleichen Jahr eingestellt. In den folgenden Jahren saß Frick selbst mehrere Gefängnisstrafen ab, etwa „weil er sich einer 21tägigen Militärdienstübung entzogen hatte“. Außerdem wurde er beschuldigt, auf einen Polizisten geschossen zu haben. Gegen Faas-Hardegger, die mit Frick womöglich eine Weile liiert war, wurde wegen des Verdachts der Falschaussage ermittelt. Sie hatte ihm ein – wie vermutet wurde falsches – Alibi gegeben, als er im Verdacht stand, 1907 an einem Bombenanschlag mit dem Ziel, einen Gesinnungsgenossen zu befreien, beteiligt gewesen zu sein. Frick wurde ungeachtet des Alibis zu einem Jahr Haft „ohne Anrechnung der Untersuchungshaft“ verurteilt, Faas-Hardegger wegen Falschaussage zu vier Monaten.

Die Gefangenschaft belastete Frick sehr und er begann in der Haft, seine bisherige Ideologie in Frage zu stellen. „In seinem Kopf kreisten unablässig Gedanken über Sinn und Unsinn, Recht und Unrecht, Freiheit und Gefangenschaft“, berichtet Bertschinger-Joos, die offenbar tiefe Einblicke in das Inneneben ihres Protagonisten hat. Immerhin kann sie sich dabei auf Max Weber berufen, der seiner Frau schrieb: „Das Gefängnis hat so auf ihn gewirkt, dass er mit seinem Grübeln über die Bedeutung des ‚Guten‘ nicht fertig wird. Dass der Erfolg des guten Handelns so oft gänzlich irrational ist und üble Folgen eintreten, wo man ‚gut‘ handelt, hat ihn irre gemacht daran, dass man überhaupt ‚gut‘ handeln solle.“ So kehrte Frick nach dem Gefängnisaufenthalt dem Anarchismus und überhaupt der Politik den Rücken.

Eine wichtigere Rolle als Faas-Hardegger, die vergeblich versucht hatte, ihn vor der Haftstrafe zu bewahren und selbst dafür büßen musste, spielte in seinem Leben jedoch eine andere Frau: Frieda Gross. Sie war mit dem bereits erwähnten Psychoanalytiker, Kokainisten und Polygamisten Otto Gross verheiratet. Seine Vielweiberei verbrämte der beredte Womanizer mit einer Heilslehre, der zufolge – leicht verkürzt und ein wenig polemisch gesagt – Frauen mit möglichst vielen Männern schlafen sollten, damit nicht mehr feststellbar ist, wer die Väter ihrer Kinder sind, was wiederum ganz im Sinne der Frauen sei, da es zur Überwindung des Patriarchats führen werde. Wie Bertschinger-Joos formuliert, war Gross „bereit“, seine Thesen „um jeden Preis zu erproben“. Anzumerken ist allerdings, dass es stets die Frauen waren, die diesen Preis zu zahlen hatten. Lotte Chattemer und Sofie Benz etwa kostete die von Gross praktizierte polygame Sexual- und Gesellschaftstheorie das Leben, während er nicht einmal für die Alimente seiner Kinder aufkommen mochte.

Von 1911 an lebte Frick mit Frieda Gross zusammen. Aus der Liaison gingen drei Kinder hervor. Das letzte gebar sie 1920 im Alter von 44 Jahren. Wie sich zeigte, war Frick ebenso wenig willens und in der Lage, für seine Kinder zu sorgen wie Otto Gross für die seinen.

Auch lebte er bei der Geburt des letzten Kindes bereits mit Margarethe Fellerer zusammen, die er allerdings erst 1941 heiratete. Die erfolgreiche Fotografin war zehn Jahre jünger als Frieda Gross, hatte dieser gegenüber für den stets klammen Frick den unschätzbaren Vorteil, über ein geregeltes Einkommen zu verfügen und wird von Butz im zweiten Teil des vorliegenden Buches als „flamboyant“ apostrophiert. Zwar war sein Verhältnis zu Frieda Gross schon lange „brüchig“, wie Bertschinger-Joos formuliert, und „die Liebe Ernst Fricks hatte sich eindeutig zu Gunsten Margarethe Fellerers verschoben“, doch mochte er auch nicht ganz auf Frieda Gross verzichten, sodass „die Konstellation Frick-Gross-Fellerer“ auch nach 1920 auf einige Zeit „ein Dreieck“ bildete.

Zwar schildert Bertschinger-Joos Fricks Leben bis zu dessen Tod 1956, doch konzentriert sie sich ganz auf seine anarchistische Phase und sein Zusammensein mit den GenossInnen und der damaligen Geliebten Frieda Gross. Insgesamt ist der von ihr verfasste Teil durchaus informativ, doch formuliert sie gelegentlich allzu unbedacht, so etwa wenn sie schreibt, Franziska zu Reventlow „versuchte sich mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten, auch mit Liebe gegen Geld“. Gemeint ist natürlich Sex gegen Geld.

Fällt der Abschnitt über Fricks Kunstschaffen bei Bertschinger-Joss denkbar knapp aus, so widmet sich Richard Butz im zweiten Teil des Buches dafür umso ausführlicher dem künstlerisch und später auch durch ein Forschungsvorhaben geprägten Lebensabschnitt Fricks, der 1924 eines der sieben Gründungsmitglieder der nicht sonderlich bedeutenden Asconeser Künstlergruppe „Der grosse Bär“ war. Auf eine Gründungsurkunde verzichteten die sieben Angehörigen ebenso wie auf Statuten oder gar ein Manifest. Ihre Mitglieder sind größtenteils vergessen. Immerhin aber gehörte ihr – als einzige Frau – auch die noch immer namhafte Expressionistin Marianne von Werefkin an. Die Gruppe als solche ist jedoch keineswegs dieser Kunstrichtung zuzurechnen. Vielmehr können ihre Angehörigen überhaupt „keiner bestimmten einheitlichen Stilrichtung zugeordnet werden“. „Das malerische Handwerk“ erwarb Ernst Frick Butz zufolge bei dem „Künstler und Kunstpädagogen“ Arthur Segal. Doch sei er eigentlich ein „überzeugter Autodidakt“ gewesen. Fricks Aquarelle „wirken durch ihre Feinheit und Transparenz“, „die Ölbilder und Figurendarstellungen treten zahlen- und qualitätsmäßig zurück“, zitiert Butz, der sich selbst offenbar kein fundiertes Urteil zutraut, die Kunsthistorikern Suzanne Lüthi. So weist er auch darauf hin, dass Lüthis Kollege Theo Kneubühler Frick für einen „mittelmäßigen und weitgehend gescheiterten Künstler“ hielt. Ihm selbst, gesteht Butz ein, „bleibt Ernst Fricks künstlerisches Leben und Wirken in vielem ein Rätsel“. Der von Butz verfasste Abschnitt ist allerdings reich mit teils farbigen Wiedergaben der Werke Fricks illustriert, so dass sich die Lesenden selbst eine gewisse Vorstellung von dem künstlerischen Wirken Ernst Fricks machen können.

Zwar zeigen die in den Band ebenfalls aufgenommenen „Fotos der 1920er- und 30-Jahre“ Frick als „asketischen Künstlertyp mit Zigarette zwischen den Fingern und elegant gekleidet“, doch gab es auch einen anderen, womöglich authentischeren Frick dieser Zeit: der seines damaligen Heimatortes, dem Walserdorf. Dort traf man ihn „nicht mehr elegant gekleidet, sondern als Bergler mit Beret oder Wollkappe“. Er habe eben einen „Hang zum Bergler“ gehabt, meint Butz wohl nicht zu Unrecht. Dieser Hang schlug sich auch in seiner etwa 1928 erfolgten Entdeckung einer keltischen Festung nahe Asconas nieder, die Frick fortan zu erforschen trachtete.  Ihr und Fricks Versuchen, aus dem Keltischen eine Ursprache abzuleiten, sind die letzten Abschnitte von Butz’ Text gewidmet.

Bis in sein dreißigstes Jahr hinein hat der Protagonist des vorliegenden Buches sicher ein bewegtes Leben geführt, ohne dass er allerdings je wirklich Bedeutendes geleistet hätte, sei es auf politischem oder künstlerischem Gebiet oder in der Kelten-Forschung. So hat er es wohl doch eher seinen Berührungspunkten mit Menschen wie Otto Gross, Franziska zu Reventlow oder Max Weber zu verdanken, dass er nicht ganz in Vergessenheit geraten ist. Doch sei’s drum, es wurden schon unbedeutenderen ZeitgenossInnen Biographien gewidmet.

Titelbild

Esther Bertschinger-Joos / Richard Butz: Ernst Frick. Zürich - Ascona, Monte Veritè. Anarchist, Künstler, Forscher.
Limmat Verlag, Zürich 2014.
384 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783857917424

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