Übergang in ein ökologisches Zeitalter

Der Theoretiker Bruno Latour wird in seinem neuen Buch zum Praktiker

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So wie jetzt kann es nicht weitergehen. Ohne eine neue Klimapolitik steuert die Menschheit direkt auf ihr Ende zu. Denn die Erde – vom Menschen versklavt, verletzt und misshandelt – schlägt immer heftiger zurück. Das ist die Ausgangssituation für „Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen“, das neue Buch von Bruno Latour. Der französische Soziologe warnt: Die Welt, die er Gaia nennt und die in der griechischen Mythologie die personifizierte Erde verkörpert, werde den Krieg gegen ihre hilflosen Bewohner entfachen. Durch die drohenden ökologischen Kollapse wandelt sich die Welt auch politisch. Es gibt einen Kampf um Wasser, Land, Energie und Rohstoffe. Latour stellt sich in diesem Buch die Frage, wie unsere ruinöse Moderne in ein ökologisches Zeitalter übergehen kann.

Latour ist bekannt für seine Theorie, dass Menschen nicht allein handeln, sondern vernetzt mit Dingen aktiv sind. Der Franzose entwarf eine Soziologie, in der auch Tiere und Pflanzen sowie Pilze und Bakterien relevante Akteure sind, weil eben auch sie den menschlichen Existenzraum aktiv gestalten. Als Antwort auf die Ausbeutung der Erde und den daraus folgenden Katastrophen fordert der Soziologe eine Rückbesinnung auf Werte (Vertrauen) und Institutionen (Universitäten): „Das Ziel besteht darin, ein zwischen Ökonomie und Ökologie umherirrendes Volk zu begleiten“, heißt in der Einleitung zum ersten Kapitel. Der inzwischen 67-jährige Professor, der von der Zeitung „Le Monde“ jüngst als „Hegel unserer Zeit“ bezeichnet wurde, probiert vieles aus in seinem neuen Werk. Dabei lässt der große Theoretiker jedoch seine lückenlose Absicherung und präzise Überzeugungsarbeit vermissen. An vielen Stellen im Buch wird es ungewohnt fahrig und schlampig, ab und an gar widersprüchlich. Doch den Schwerpunkt hat Latour diesmal ganz offensichtlich auf etwas anderes gelegt: auf die Praxis.

Ausgerechnet der Theoretiker will also den modernen, mit dem Planeten auf Kriegsfuß stehenden Menschen wieder erden, indem er an europäische Vorfahren erinnert. Und genau hier liegt die Stärke von „Existenzweisen“: Latour präsentiert nicht die Lösung, er regt aber zur Lösungsfindung, zum Umdenken, zum Neu- und Andersmachen an. Dazu passt auch, dass „Existenzweisen“ nicht nur als analoges Buch verfügbar ist, sondern vor allem auch in digitaler Form als Website. Auf dieser können alle Leser Kommentare hinterlassen und miteinander diskutieren. Weit mehr als 4000 Diskutanten haben sich bislang an der Diskussion beteiligt. Auf diese Art und Weise ist ein Meta-Buch entstanden, eine sich immer weiter entwickelnde Vision, diplomatisch verhandelt, zusammengesetzt aus unterschiedlichsten Perspektiven und wissenschaftlich moderiert. Damit ist Latours Anthropologie der Moderne dann doch noch ein großer Wurf: Er serviert der Welt zwar keine Antworten auf einem Silbertablett, aber er hat immerhin ein Silbertablett entworfen, auf dem viele Antworten Platz finden. Latour spendet Hoffnung: So wie jetzt wird es nicht weitergehen.

Titelbild

Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen.
Aus dem Französischen von Gustav Roßler.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
666 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783518586075

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