Durch Palästina reisen und darüber schreiben

Andreas Altmanns „Verdammtes Land. Eine Reise durch Palästina“ sollte man lesen..

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte des Nahost-Konflikts ist eine, die nicht enden will. Sie ist keine Geschichte des Reisens: als Reiseländer sind weder Israel noch Palästina, was vielleicht gar kein Land ist, im Fokus der Öffentlichkeit. Andreas Altmann hat sich an das Abenteuer herangewagt und eine Reisereportage geschrieben, eine Reisereportage über Palästina. Unter dem sprechenden Titel „Verdammtes Land. Eine Reise durch Palästina“ ist das Buch im vergangenen Jahr im Piper-Verlag erschienen.

„Verdammtes Land“ ist keine leichte Lektüre, was an zweierlei Dingen liegt: zum einen an der unbegreiflichen politischen Situation, die jede Reportage vor die große Herausforderung stellt, einen absurden Zustand in eine sinnvolle Darstellung zu überführen. Zum anderen spielt die Persönlichkeit Andreas Altmanns dabei eine Rolle. Der Autor zählt zu den bekanntesten deutschen Reiseautoren und man kennt ihn als Journalisten, der kein Blatt vor den Mund nimmt und schonungslos offen schreibt. Das konnte man in seinem letzten Buch „Dies beschissen schöne Leben. Geschichten eines Davongekommenen“ genauso sehen wie in „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“, in denen er sich 2011 radikal mit seiner Kindheit im Wallfahrtsort Altötting und seiner Familie auseinandersetzt. Altmann hat etwas zu sagen und er hat zu fast allem eine Meinung, was Reportagen wie der vorliegenden, in der es eigentlich um das bereiste Land gehen sollte, zeitweise nicht so gut tut, weil die Meinungsäußerung zu Begegnungen, Menschen oder Religion allgemein die Darstellung des Geschehens selbst oftmals überlagert.

Dennoch gelingt es Altmanns Reisebericht auf jeder Seite, uns ein authentisches und beeindruckendes Bild Palästinas zu liefern – und auf jeder Seite aufs Neue deutlich zu machen, wieso es ein verdammtes Land ist, was er bereist hat. In den Oslo-Verträgen 1993 (Oslo 1) und 1995 (Oslo 2) erkannten sich beide Seiten, Israel und Palästina, zum ersten Mal offiziell an, Israel die PLO (Palestinian Liberation Organisation) und die PLO Israel, mit dem Zusatz, dass sie aus ihrer Charta die Passagen, die die Existenz Israels auslöschen wollten, strichen. Zum ersten Mal waren hier den Palästinensern territoriale Zugeständnisse gemacht worden. Für die sogenannte Zone A im Westjordanland, 3% der Fläche, wurden ihnen autonome Regierungskompetenzen zugesprochen. Die Zone B sollte künftig unter geteilter Verwaltung von Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde stehen, ca. 25% der Fläche Palästinas. Und der Rest – etwa 70% – stand damit unter alleiniger Kontrolle Israels. Hier dürfen Palästinenser, obwohl es sich um ihr Land handelt, nicht bauen ohne Genehmigung, hier stehen die Siedlungen, hier bauen die Israelis Straßen, die für Palästinenser nicht befahrbar sind:

„Jeder Palästinenser, der in seinem eigenen Land – abgesehen von den paar Prozent unter Eigenverantwortung – bauen (ja, nur umbauen) will, und wäre es einen Kuhstall oder eine Latrine, muss bei dieser Behörde [Verwaltungsbehörde der israelischen Regierung im besetzten Gebiet] um ein construction permit nachsuchen. Die er in 94 von 100 Anträgen nicht bekommt. Also baut er heimlich. Und irgendwann wird das entdeckt und die Civil Administration kommt vorbei und klebt einen Zettel […] an den Schwarzbau. Mit 94-prozentiger Sicherheit fährt dann eines Tages ein Bulldozer vor, in Begleitung von Polizei und Armee, und reißt den Stall oder die Garage oder das Wohnhaus nieder.“

Man kann all diese Fakten in der Presse und Dossiers nachlesen, aber Altmann lernt auf seiner Reise Menschen kennen, die plötzlich direkt und persönlich von diesen abstrakten Regeln betroffen sind und er lässt sie zu Wort kommen, spricht mit ihnen. Wie Eid und dessen Vater Suleiman, die sich ärgern, weil die israelische Armee mitten auf das Weideland ihrer Ziegen einen Stacheldrahtzaun gebaut hat, an dem sich die Tiere immer verletzen. Suleiman tobt vor Wut, herannahende israelische Polizisten drohen mit Gewalt. Als Altmann fragt, warum keiner der Polizisten die Beschwerde aufnehme, verweisen sie ihn an das zuständige Büro, nach Hebron. Sowohl Altmann wie dem Leser ist klar, dass Suleiman seine Beschwerde dort nie wird loswerden können.

Immer wieder, wenn Altmann von solchen Situationen berichtet, schlägt sein journalistischer Tonfall um in Pathos, die Grenze zum Kitsch wird zeitweise überschritten:

„Und mittendrin eine Schaukel. Und ich schaukle, in Palästina. Für eine halbe Stunde bin ich ein Kind, das nichts weiß von dem Land, in dem die Schaukel steht. So euphorisch macht es, wieder ganz jung und ganz unschuldig zu sein.“

Gespräche bleiben bei Altmann selten Gespräche über Politik, es geht immer um etwas mehr, um Metaphysik, um Geist und Kultur, was unangemessen und überzogen pathetisch wirkt:

„Aber nun beginnt etwas himmlisch Schönes und wird über Stunden dauern. Etwas, das man vor fünf Minuten nicht einmal ahnen konnte. Mohammed und ich, wir Wildfremden, können sofort miteinander kommunizieren. Ganz innig. Als wüsste jeder vom anderen die Namen seiner zwei unerschütterlichsten Lieben: Sprache und Literatur. Eine leichte Brise weht, wir sitzen im Schatten und ein Gespräch, unendlich weit weg vom Krieg und seiner Aussichtslosigkeit, nimmt seinen Anfang.“

Stellenweise finden sich in der Reportage Sätze, die so einfältig sind, dass man sie in einem solchen Buch nicht lesen möchte: „Mit einem Lächeln gehen wir auseinander. Wobei ich wieder einmal der Beschenkte bin. Ja, ich bohre gern. Eben nicht nach Erdöl, auch nicht nach Gold und Edelstein, nein, ich bohre nach Hirn.“

Es hätte Altmanns „Verdammtem Land“ gut getan, wenn er auf solche überflüssigen Sprachspielereien verzichtet und sich auf das Besondere konzentriert hätte, was das Buch ausmacht: das Land und die Begegnungen, denn davon lebt seine Reportage. So wenn sich der Autor zu den Samaritanern begibt, einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft, von denen nur noch rund 600 existieren und die sich nur untereinander vermehren dürfen. Sie leben als radikale Siedler mitten in Palästina, in Nablus. Den Patriarchen der Gemeinde mit drei schwer behinderten Söhnen fragt Altmann, wie er es sich erkläre, dass Gott das zulasse und ob der vorgeschriebene Inzest nicht überholt wäre. Lange beharrt der Gottesmann lächelnd auf der Aussage, da müsse man Gott fragen – bis er endlich zugibt, dass er, wenn er allein sei, zweifle und sich frage, ob es das Richtige sei, was er da verbreite. Und irgendwie scheinen sie alle in diesem Buch nur in Gesellschaft so dogmatisch. Je länger sie alleine sind, je persönlicher sie werden, desto mehr stellen sie ihren Dogmatismus in Frage, desto vernünftiger sind sie. Doch in Gemeinschaft, das wird recht schnell klar, sind sie verbohrt und zerfressen von einem Hass, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. Weil sie, sobald in Gemeinschaft, immer von Gott oder Allah sprechen, jemand anderen fragen als sich selbst, sich auf etwas Überirdisches beziehen anstatt den Verstand zu befragen. Immer dann wird es absurd.

Die Absurdität der religiösen Stätten fängt Altmanns Buch dabei wunderbar ein, weil er sprachlich direkt und zugleich unbeholfen ist, wenn er diesen Orten sich zu nähern versucht, die ein rationales Nähern eigentlich unmöglich machen. In Hebron, wo die Machpela (das Grab der Patriarchen für die Juden) oder die Abrahamsmoschee (das Grab Abrahams für die Muslime) steht, gibt es zwei Eingänge, einer für Juden, einer für Muslime, um dann in dieselbe Höhle, dasselbe Grab zu schauen – ob da allerdings überhaupt etwas liegt? Man weiß es nicht, denn „dort hinein darf niemand“. In einer Nische aber sehe man den Fußabdruck Mohammeds, sagen die Araber, nein, den Fußabdruck Abrahams, sagen die Juden und streiten sich: „Hat Schwachsinn einen Namen? Bisweilen nicht.“ Bei aller Polemik des Ausdrucks kann man kaum anders als Altmann zuzustimmen, bei aller historischen Gewachsenheit dieses Konflikts, den Gründen, die man analysieren kann, der Toleranz religiösem Glauben gegenüber kann man kaum anders, als diese Groteske als Schwachsinn abzutun.

Durch Altmanns zeitweise penetrant und übertrieben zur Schau gestellte atheistische Haltung (auf eine vorsichtigere, agnostische Haltung lässt sich der Polemiker nicht ein) gelingt es denn auch, die religiöse Symbolik im ‚Heiligen Land‘ in all ihrer Scheinheiligkeit, in ihrem Stumpfsinn zu entlarven. In Hebron gibt es – mitten in dieser palästinensischen Stadt – eine Enklave von Juden, H2 heißt das Viertel, 700 Juden leben hier hermetisch abgeschirmt, 1800 Geschäfte und Wohnungen stehen hier leer, es gleicht einer Geisterstadt. Doch immer wieder findet sich eine ‘heilige Stätte‘, wie das Grab des Vaters Davids, der hier in Hebron zum König gesalbt wurde (angeblich, denn Beweise gibt es nicht), umzäunt von Stacheldraht, bewacht von Soldaten, ein kleines Fleckchen Stein, bewacht wie Fort Knox:

„Hier haben sie das unverwüstliche Talent, aus jedem Stein einen Stein des Anstoßes zu inszenieren, jeden Felshügel zu einer Frage auf Leben und Tod zu erklären, um jeden Quadratmeter Land eine Schlacht anzuzetteln. Und so muss auch dieses heruntergekommene Mausoleum eingemauert und observiert werden. Obwohl keiner drunterliegt, der oben als Name draufsteht.“

Die Tradition ist es, die vielen Palästinensern den Weg verstellt, beobachtet Altmann. Die Tradition, dass nur Söhne den Stolz der Familie bilden können, die Tradition, dass Kinder die Kinder der Nachbarn heiraten, mit gerade einmal 18 Jahren. Traditionen, die nicht hinterfragt werden und die es schwierig machen, der Realpolitik den Eintritt in das Leben zu gewähren und Kompromisse zu ermöglichen, sei es im eigenen familiären Zusammenleben, sei es im Zusammenleben mit den Israelis: „So haben Palästinenser immer zwei Feinde: den einen vor ihrer Haustür und den anderen in ihrem Kopf.“

Das ist bei der anderen Seite, den Israelis, nicht anders:

„Der Wahn ist das kostbarste Gut einer Religion. Nicht umsonst gibt es in der Medizin den offiziellen Begriff vom ‚Jerusalem-Syndrom‘. Bis zu zweihundert Frauen und Männer werden pro Jahr in die umliegenden Psychiatrien der Stadt eingeliefert, weil sie plötzlich von der – oft für die anderen lustigen, oft für sie selbst unheilvollen – Hysterie erfasst wurden, zum Personal der Bibel zu gehören. Und schlagartig als Samson oder Johannes der Täufer oder Prophet Elias oder Jungfrau Maria oder – in der Hauptrolle – als Jesus Christus durch Israel spazieren. Manchmal als zündelnde Radaubrüder, manchmal als Kinder der Wiederkunft des Messias, manchmal als närrische Jungfern, die nach Bethlehem aufbrechen, um ‚ihr Baby‘ dort zu suchen.“

Solche Beobachtungen, die zwar bedrückend, gleichzeitig aber sympathisch sind, machen den Mehrwert von Altmanns Reportage aus. Er schreckt nicht davor zurück, absurd lustige Details des blutigen Konflikts herauszustellen, er schreckt nicht davor zurück, den religiösen Fanatikern anstatt mit Verständnis und Argumenten mit einem radikalen Verlachen zu begegnen.    

Am stärksten ist Altmann als Reporter dort, wo er anhand der Fakten und der Lage vor Ort zu eindeutigen politischen Schlussfolgerungen kommt und sich nicht scheut, diese auch auszusprechen – ohne dabei in irgendeine Art von Hass oder Fremdenfeindlichkeit zu verfallen:

„Am Ende des Tages bleibt stets nur eine Wahrheit: Hier stiehlt ein Staat, Israel, einem Volk, den Palästinensern, sein Land. Getrieben von Gier und/oder religiösem Fanatismus und/oder politischer Unbelehrbarkeit. Das ist jammerschade und unheimlich schwer zu verstehen, wenn man bedenkt, was viele Bewohner Israels an Erbarmungslosigkeit hinter sich haben.“

Altmann stutzt ob einer Wetterkarte in der Jerusalem Post: Es gibt keinen Grenzverlauf zu Palästina, nicht eine palästinensische Stadt wird gezeigt, nur jüdische Siedlungen im Westjordanland: „Hier retuschieren sie täglich ein Volk weg.“

Und „Verdammtes Land“ ist schließlich dort am stärksten, wo es sich traut, das eigentliche Problem anzusprechen: Gewaltiges Unrecht, das ein Volk erfahren hat, berechtigt es nicht, selbst Unrecht auszuüben.

„Denn Zuneigung, die sich von Ressentiments nährt, ist keine Zuneigung, eher das Vorführen von Zuneigung: Ich bin lieb zu dir, weil ich dich einmal vernichten wollte! Zugleich stehe ich mit meinem ‚Liebsein‘ moralisch einwandfrei da: ‚Schaut nur, ihr Juden, ich mag euch!‘, Subtext, vollkommen unbewusst: Ich mag euch, aber nicht, weil ich euch mag, sondern weil ich dazu – siehe Nazibarbarei – verpflichtet bin!“

Diese Zeilen sind in ihrer Schonungslosigkeit so gefährlich wie treffend. Sie benennen den Kern des Problems, die Verwechslung von historischer Schuld und dem Recht auf Kritik am gegenwärtigen Handeln: „Doch, meine Zuneigung zu Israel war nicht gespeist vom deutschen Mord und Totschlag. War nicht als ‚Wiedergutmachung‘ gedacht. Sie galt vor allem einem Volk, das mir ungemein klug und feinsinnig, ungemein versessen nach Erkenntnis schien, ja, das sich nie schonte mit Selbstkritik. Heute muss ich um dieses Gefühl kämpfen. Israel unterlässt keinen Versuch, seine Freunde in die Flucht zu schlagen.“

Man kann den vielen Wahrheiten, die Altmann in „Verdammtes Land“ formuliert, kaum eine mehr hinzufügen, nur den Wunsch, dass Betroffene beider Seiten es einmal lesen werden, um zu begreifen, was sie einander zufügen und womöglich lesend verstehen, was sie in der sie tagtäglich umgebenden Realität nicht erkennen können.   

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Andreas Altmann: Verdammtes Land. Eine Reise durch Palästina.
Piper Verlag, München 2014.
303 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783492056243

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