Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten

Georges Didi-Hubermans Reflexionen zur Bildlichkeit des Geschichtlichen in „Borken“ und „Remontagen der erlittenen Zeit“

Von Antje GéraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antje Géra

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einige Zeit vor dem Gedenken des 70. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz erschien unter dem Titel Borken ein sehr behutsam gestaltetes, kleinformatiges Buch des Philosophen und Kunsthistorikers Georges Didi-Huberman. Aus der Stille des zurückhaltenden (typo‑)graphischen Duktus’, aus den Zwischenräumen der Schwarz-Weiß-Fotografien –  schwarz-weiß wie die titelgebende Rinde von Birkenbäumen – wendet sich Didi-Huberman eindringlich an seine Leserinnen und Leser. Er spricht sie an als Zeugen, indem er sie im Lesen mitvollziehen lässt, wie er selbst einen wenige Jahre zurückliegenden „Besuch“ von Auschwitz-Birkenau erinnernd rekonstruiert.

Ein Stückchen abgeblätterte Birkenrinde, das er seither aufbewahrt, setzt Didi-Hubermans Erinnern in Gang. Wir begleiten ihn, wie er sich tastend hineinbewegt in den Fundus seines Gedächtnisses, wie er zu bergen sucht, was von dem Ereignis seiner Begehung des Lagers übrig ist. Die persönliche Tonlage seiner Betrachtungen sollte uns jedoch nicht täuschen: Gegenstand dieses Essays ist nicht ein bloß individuelles Erinnern an eine private Begebenheit. Im Fortgang der von Horst Brühmann sorgsam aus dem Französischen übertragenen essayistischen Betrachtungen wird vielmehr deutlich, dass eine Begegnung mit dem, was von dem Vernichtungslager übrig ist, auch eine Begegnung mit bestimmten kollektiven und gesellschaftlichen Erinnerungspolitiken, mit bestimmten Inszenierungsformen und Auffassungsweisen des Gedenkens ist. Didi-Hubermans Gedenken jenes Tages ist verwoben mit seiner Erinnerung an die Irritationen, die sich ihm durch die Formen gesellschaftlich vermittelten Gedenkens ergaben. Im Nachgang dieser Irritationen zeigt sich die Verflochtenheit dessen, was sich anfänglich als scheinbar persönliches Erinnern darstellte.

Im Vollzug seines eigenen Erinnerns an jenen Tag in Auschwitz erinnert er sich also daran, wie er sich in Auschwitz an das historische Geschehen „Auschwitz“ zu erinnern suchte. Er erinnert sich, wie er versuchte, dies mit und gegen ein institutionell angeleitetes, ritualisiertes Erinnern des sich als „Gedenkstätte“ präsentierenden ehemaligen Lagers zu leisten, in deren Pädagogik des Erinnerns und Aufarbeitens sich wiederum bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen des Erinnerns ausdrücken. In der dramaturgischen Überlagerung der Reflexion dieser unterschiedlichen Erinnerungsvollzüge entfaltet Didi-Huberman virtuos die philosophisch komplexe Problemlage, wie sich denn erklären ließe, was das überhaupt ist: „Erinnern“ und „angemessenes Gedenken“, und wie sich Erinnern und Gedenken als Praxen von Vergegenwärtigung verstehen lassen.

Didi-Hubermans kleine Schrift Borken lässt sich so als eine Kristallisation dessen lesen, was er 2007 in Bilder trotz allem detailreich dargelegt hat. In seiner jüngsten deutschsprachigen Veröffentlichung Remontagen der erlittenen Zeit findet sich die Problemstellung beider Werke wieder aufgegriffen und kenntnisreich in den Kontext aktueller Diskussionen gestellt. Auch hier geht es darum, zu verstehen, was angemessene Formen des Erinnerns und Gedenkens sind, ob und inwiefern sie einen geschichtlichen Gegenstand treffend vergegenwärtigen und wie sich diese Fragen wiederum zu einer Modellierung von Vollzügen des Erinnerns, Gedenkens und Vergegenwärtigens verhalten. Mit einer an Aby Warburg geschulten Hingabe, die noch am kleinsten Detail das Bedeutsamste zu enthüllen vermag, führt Didi-Huberman deutend durch dokumentarische und künstlerische Versuche, Erfahrungen des Leidens, des Lagers, der Shoah bildlich darzustellen.  

Didi-Huberman kontextualisiert die Filmaufnahmen Samuel Fullers von der Öffnung des Lagers Falkenau und analysiert umfangreich mit großer hermeneutischer und stilistischer Kunst Harun Farockis filmisch-künstlerische Befragung der Bilder nach ihrem Verhältnis zu politischer Gewalt. Er rekonstruiert die Blickweise, von der Agustí Centelles fotografische Aufnahmen des Lagers Bram zeugen. Er zeichnet ein nahezu zärtliches Porträt des Künstlers Christian Boltanski, dessen Installationen von dem Traum künden, niemanden an die Geschichte verloren zu geben und zu vergessen.

Dieser Traum ist auch Didi-Hubermans Traum, der selten so deutlich hervortritt wie in den Remontagen der erlittenen Zeit, in denen er sich als Movens seiner transdisziplinär angelegten philosophischen, kunstgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Forschungen und der Form seines Schreibens und Mitteilens zu erkennen gibt. So träumend drängt er in seinem Schreiben auf das Erwachen hin. „Erwachen“ meint: Er schreibt für ein Bewusstwerden der Tragweite dessen, dass „Auschwitz in uns eine offene Wunde“ bleibt – wie er es in den Remontagen mit den Worten von Imre Kertész formuliert. Nicht zufällig haben Borken die Struktur einer Wunde, die nicht im Schwinden begriffen ist, sondern höchstens – immerwährend offen für den Schmerz – verschorft. Der Schmerz schreibt mit an den Erkundungen des Leidens. Er pulsiert unablässig unter den Bemühungen des Autors, zu verstehen, was Erinnern, Gedenken, Vergegenwärtigen heißt. Er äußert sich jedoch nicht in einer moralischen oder moralisierenden Färbung seiner Betrachtungen, noch soll er durch diese hervorgerufen werden. Der Schmerz arbeitet in den Reflexionen, die aus der Wechselrede des Schreibens und Lesens hervorgehen. Er drückt sich aus in Didi-Hubermans methodologischen Entscheidungen.

Dies ist zu beachten, damit seine Erörterungen in Borken, Bilder trotz allem und Remontagen der erlittenen Zeit nicht einfach als einzelne Beispiele oder Fallstudien für das allgemeine Problem „Vergegenwärtigung eines geschichtlichen Gegenstandes“ genommen werden. Dann könnte diesen Werken mit jenem Misstrauen begegnet werden, dass sich in dem berühmten Vorwurf Jean Amérys gegen Theodor W. Adornos Negative Dialektik ausspricht: „daß wieder einmal Auschwitz herhalten muß, ein dialektisches Exerzitium zu inspirieren“. Didi-Huberman geht es um eine dialektische Perspektive (er spricht etwas missverständlich von „dialektisieren“). Doch ist es nicht so, dass er auf Auschwitz „Dialektik anwendet“. In Borken zeigt er, was er in den Remontagen umfänglicher entwickelt: Um der Besonderheit von Auschwitz in unserem Gedenken gerecht zu werden, sind die Vollzüge des Vergegenwärtigens und Erinnerns dialektisch zu verstehen.

Dazu gehört, der Frage danach, wie Erinnern, Gedenken und Vergegenwärtigen angemessen zu modellieren seien, nicht lediglich erkenntnistheoretisch nachzugehen, sondern sie als politische Frage zu nehmen. Didi-Huberman knüpft darin an die Überlegung Walter Benjamins an, dass das Gewesene aufgrund der Gegenwartsbezogenheit und Umkämpftheit seiner Deutung nicht in historischen, sondern politischen Kategorien zu behandeln ist. In Konsequenz dieser Forderung teilt er mit Benjamin nicht nur eine kritische Positionierung gegenüber bürgerlichen, historistischen und ästhetizistischen Modellierungen von Geschichtlichkeit und historischer Erkenntnis. Er nimmt auch dessen methodologische Überlegungen auf, wie eine Forschungsperspektive ausgerichtet sein muss, die sich kritisch zu diesen Modellierungen verhält.

Eine solche Forschungsperspektive richtet sich auf eine Reflexion der Mittel und Medien des Erinnerns, Gedenkens und Überlieferns bezüglich ihrer vergegenwärtigenden Dimensionen. Gemäß dem Diktum Walter Benjamins, dass Geschichte „als höhere Aktualität“ des Vergangenen „nicht in Geschichten“, sondern „in Bilder zerfällt“, sind es Bilder und ein Denken des Bildes, die im Mittelpunkt der theoretischen Bemühungen Didi-Hubermans stehen. Was wir verstehen müssen – so ließe sich seine Denkbewegung charakterisieren – ist die Rolle der Bilder in Vollzügen des Vergegenwärtigens. Es gilt, die politische Dimension der Bilder und eines Begriffes von „Bild“ zu entfalten. Damit widmet er sich Problemstellungen, die nicht selten von bildwissenschaftlichen Forschungen aus ihrem Gegenstandsbereich verbannt werden.

Das Besondere der Darlegungen Didi-Hubermans in Borken ist, dass hier einige seiner  grundlegenden Reflexionen dem Mit-Denken seiner LeserInnen in performativer Weise überantwortet werden. Wie die Rolle von Bild und Bildlichkeit in Vollzügen des vergegenwärtigenden Erinnerns und erinnernden Vergegenwärtigens zu verstehen ist, entfaltet sich auch in der Zeitlichkeit eines Lese- und Denkprozesses: Im Wechselspiel dessen, was Didi-Huberman als sein Erinnern beschreibt und dem Nachvollzug all der Bilder, mit denen er dabei umgeht, die er heranzieht, die er selbst gibt. So vollzieht sich sein Gedenken jenes Tages in Auschwitz-Birkenau in und mit Bildern, die Bilder in vielfältigem Sinne sind: überlieferte und aktuelle Bilder, erinnerte, projizierte, produzierte und rezipierte Bilder, die uns wiederum als imaginäre Bilder, als Vorstellungsbilder, aber auch als materielle Bilder begegnen können.

Didi-Huberman geht es allerdings nicht um eine Systematisierung dieser Unterscheidungsmöglichkeiten. Um sich nicht in all den unterschiedlichen Bezügen auf „Bilder“ in seinen Betrachtungen zu verfangen, ist es hilfreich, die eigene Lektüre wachsam dafür zu halten, in welchem Sinne die von ihm angesprochenen jeweiligen Bilder nun Bilder sind. Didi-Huberman zieht zwar Bilder heran, die aus der Perspektive auf ihre Stofflichkeit durchaus Bilder im materiellen Sinne sind (wie Fotografien oder Filme) und bezieht sie bisweilen auf vorgestellte Bilder und umgekehrt. Er gebraucht diese Bilder jedoch, um in der Darstellung ihrer Reflexion etwas aufzuspannen, was Walter Benjamin als „Denkbild“ oder „dialektisches Bild“ bezeichnet. Wesentlich für ein Verstehen von Bildlichkeit und ihrer Rolle im Vollziehen des Erinnerns und Vergegenwärtigens ist ihm, das Augenmerk darauf zu legen, wie Bilder wirken – was Bilder mit uns tun, indem wir etwas mit ihnen tun. In Bezug auf die Rolle der Bilder in einem Vergegenwärtigen der Shoah heißt dies zunächst und vor allem: Ob und wie uns mithilfe der Bilder etwas bewusst wird.

In Borken treten Bilder auf als etwas, das im Vollzug des Erinnerns die Leerstellen dessen füllt, was nicht mehr sichtbar ist – was verblasst ist durch den Gang der Zeit, unkenntlich geworden durch Verwitterung, was bedeckt ist von darüber gewachsenem Gras im buchstäblichen und metaphorischen Sinne. Es geht auch um jene Bilder, die an die Stelle dessen treten, was nicht mehr sichtbar ist durch all jene Eingriffe, die in einer pädagogisch motivierten „Gedenkstättenkultur“ und „Gedächtnispolitik“ gestalterisch vorgenommen werden – gerade um doch etwas sichtbar zu machen.

Wer hier zurückweisende Kritik einer institutionell operierenden „Erinnerungskultur“ vermutet, schließt aber etwas zu voreilig. In der Reflexion des Umganges mit Bildern, ihrer Erzeugung, Bearbeitung und Auswahl im Hinblick auf bestimmte Konzeptionen angeleiteten Gedenkens trägt Didi-Huberman ein Fragezeichen in das ihnen zugrundeliegende Verständnis eines Verhältnisses von „Erinnerung“ und „Kultur“ ein. Kultur ist „nicht die Kirsche auf dem Tortenstück der Geschichte“. Auch wenn die „Überreste von Auschwitz“ sich als eine „Stätte der Kultur“ darbieten – so bleibt es doch ein „Ort der Barbarei ermöglicht von einer gewissen Kultur“. Auch dies ist als eine Dimension des Erinnerns an Auschwitz zu vergegenwärtigen.  

Das Gedenken an jenen Tag in Auschwitz vollzieht sich in Borken ebenso anhand derjenigen Bilder, die Didi-Huberman im Gang durch das Lager selbst fotografierte – während ihm das Sprechen versagte, es ihm die Sprache verschlug angesichts des sich einem Begreifen Entziehenden all dessen, wofür Auschwitz als „Chiffre“ steht – all dessen, was wohl durch kein Bild der Welt zur Gänze darstellbar wäre. Allerdings sind seine Ausführungen – dies bezeugen seine weitreichenderen Darlegungen in „Remontagen der erlittenen Zeit“ – sehr weit davon entfernt, diese Erfahrung münden zu lassen in den Strom jenes Diskurses, der die Schwierigkeiten eines angemessenen Sprechens und Darstellens in unterkomplexen Ausdeutungen der Topoi des „Unsagbaren“, „Undarstellbaren“ und „Unvorstellbaren“ zu beruhigen sucht. Müssten diese doch in einen Skeptizismus münden, weil sich in ihrer Konsequenz ergäbe, dass das Leiden des Anderen aufgrund seiner Unermesslichkeit und Einzigartigkeit nicht nachvollzogen werden könne. Das kann und darf so nicht sein.

Das Problematische der Rede von der „Unvorstellbarkeit“ der Shoah liegt jedoch nicht zur Gänze in ihrer Betonung dessen, dass man sich vom Leiden kein Bild machen dürfe, weil man es nicht könne, weil es Hybris wäre gegenüber der Besonderheit der Erfahrung derjenigen, denen es widerfuhr, und weil es jegliche „menschliche“ Vorstellungskraft übersteige. Diese Momente sind durchaus als Ausdrücke bestimmter Erfahrungen im Prozess einer Auseinandersetzung mit der Shoah anzuerkennen. Sie als „Unvorstellbares“, „Undarstellbares“, „Unsagbares“ zu thematisieren, eröffnet einen theoretischen Raum, in dem das Spannungsverhältnis zwischen dem wirklichen Vollzug des Leidens (als Gegenstand des Vorzustellenden, Darzustellenden, zu Sagenden) und seiner Beschreibung hervortreten und reflektiert werden kann. Problematisch ist, wenn diese Erfahrung eines sich dem Vorstellen und angemessenen Versprachlichen zunächst verweigernden „Ungeheuerlichen“ (Adorno) sich verfestigt zu einer Sichtweise, welche die Barbarei zu einem ganz Anderen und vollkommen Singulären erklärte.

Maurice Blanchot habe in seiner Schrift des Desasters von „Auschwitz gerade nicht unter dem Diktum des Unvorstellbaren oder Unsichtbaren gesprochen“. Ganz im Gegenteil. In den Lagern sei „das Unsichtbare auf immer sichtbar geworden“. Dies gilt es zu verstehen, wenn wir Adornos Diktum einer uns aufgegebenen „Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei“ für uns anerkennen. „Uns“ heißt: Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, auch wenn sie nicht außerhalb eines je individuellen Erfahrens zu verstehen ist. Das Problematische an bestimmten Thesen über das „Unvorstellbare“ und „Undarstellbare“ ist auch ihre mögliche Anschlussfähigkeit für Bemühungen, Gedenken und Erinnern aus einer gesellschaftlichen Verantwortlichkeit zu lösen und zu einer rein privaten Angelegenheit zu erklären.

Um also diese uns gegebene gesellschaftliche Aufgabe in ihrer Tragweite zu verstehen, müssen wir wissen, „was die Hölle von Auschwitz gewesen ist“, schreibt Didi-Huberman in Bilder trotz allem. Und um dies zu wissen, dürfen wir – gegen eine in Diskursen über das „Unvorstellbare“ beredt reinszenierte Sprachlosigkeit – nicht vergessen, dass diese „von Menschen geschaffene Hölle“ auch die Bilder und „die Sprache ihrer Opfer auslöschen“ sollte. Angesichts dessen, dass uns Zeugnisse aus den Lagern überliefert sind, es unter großer Gefahr entstandene zeichnerische, fotografische und literarische Darstellungen gibt, können wir uns nicht auf das „Unvorstellbare“ und „Undarstellbare“ berufen, ohne dass wir diese darstellenden Akte ihrer Aussagekräftigkeit und Widerständigkeit enteigneten. Schließlich gehören diese Akte des Widerstands zu einem Erinnern dazu, das einem vergangenen Leiden in all seiner Besonderheit gerecht würde und es als etwas anerkennt, das uns gegenwärtig betrifft.

In ihrer Intervention gegen bestimmte verkürzende Auffassungen des „Unvorstellbaren“ und „Undarstellbaren“ sind Didi-Hubermans eigene fotografische Bilder in Borken, ebenso wie seine bildhaften essayistischen Untersuchungen in Remontagen der erlittenen Zeit, solidarisch mit jenen, die für ihre Zeugnisse dessen, was wir wissen und erinnern müssen, ihr Leben riskierten. Seine Bilder und Reflexionen machen ihr Anliegen zu dem unseren, verankern es in unserer Gegenwart. „Um zu wissen“ und um „sich zu erinnern, muß man sich ein Bild machen“ – ein Bild von den Umständen, unter denen ihnen zusammen mit Millionen anderen ihr Leben genommen wurde. Wir müssen uns vergewissern, dass die Wahrheit des Bildes nicht darin zu suchen ist, dass es ein für alle Mal etwas festhält, sondern wir uns immer wieder aufs Neue fragen müssen, ob es das je besondere Leiden trifft. Das Bild ist zu befragen, ob es die Bezogenheit dieses besonderen Leidens auf das angemessen ausdrückt, was sich an den Umständen als Allgemeines ausmachen ließe. Und wir müssen uns in unserer Gegenwart in diesem Bild als „gemeint erkennen“, um es nicht als „ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit“ dem Verschwinden anheimfallen zu lassen – so Didi-Huberman mit Walter Benjamin.

Wie aber erkennen wir uns in einem Bild der Vergangenheit als „gemeint“? Schließlich verhält es sich damit nicht so, dass es ausreichte, dies einfach zu wollen oder zu beschließen, es mithilfe bestimmter Praxen des Darstellens hervorzurufen. „Bild“ ist hier nicht so zu verstehen, als sei es etwas, das unmittelbar eine bestimmte Wirkung erzielt. Auch Didi-Hubermans eigene Fotografien stellen uns nicht einfach das, was er durch sie darzustellen beabsichtigte, so vor Augen, dass wir auch dasjenige erkennen, was er an Erkenntnis durch sie erhoffte.

Gegen solche abbildtheoretischen Konzeptionen von „Bild“ betont er in Remontagen der erlittenen Zeit, dass sich dieses „Gemeint-Erkennen“ nur in einer bestimmten Konstellation ereignen kann, einer Konstellation, in der das hier mit „Bild“ Angesprochene überhaupt erst zur Lesbarkeit gelangt. Dazu bedarf es einer bestimmten historisch-politischen Situation ebenso wie die das Bild Lesenden, die dem Erkennen und dem spezifischen Wirken des Bildes zugeneigt sind – die ihm mit ihrem Erkenntnisinteresse entgegenkommen. Hierauf bezieht sich Didi-Hubermans Metapher des Bildes als „das Auge der Geschichte“, das „ihre beharrliche Aufgabe“ erfülle, „etwas sichtbar zu machen“, aber doch zugleich „im Auge der Geschichte“ sei, „an einem bestimmten Ort, in einem Augenblick der vernehmbaren Schwebe“, als Augenblick des zur Lesbarkeit Kommens und Deutens.

Im Auge der Geschichte II, so lautet der Untertitel von Remontagen der erlittenen Zeit. Der Essayband führt fort, was 2011 mit dem ersten Band dieser Reihe – Wenn die Bilder Position beziehen –  anhand einer Analyse des Arbeitsjournals und der Kriegsfibel Bertolt Brechts begonnen wurde: Eine Rekonstruktion des Verhältnisses der Lesbarkeit geschichtlicher Bilder, der Perspektive ihrer Produzenten als eine, die Partei ergreift und der Montage als Darstellungsform, die diesem Verhältnis gerecht wird. Zwar sind Teile der beiden großen Essays bereits an anderer Stelle erschienen, doch wurden sie für ihre Publikation im Wilhelm Fink Verlag von Didi-Huberman wesentlich erweitert, teils aktualisiert und von Markus Sedlaczek neu übersetzt. Dies muss erwähnt werden, denn seiner Übertragungskunst ist es zu verdanken, dass sich das metaphorische Geflecht des Textes in all seinen feinen Nuancierungen und vielfältigen Verweisungen so sprach- und bildmächtig zu präsentieren vermag – und darin auch die Besonderheiten der französischen Fassung nicht überdeckt werden.

Die den Band beschließenden, bescheiden als „Anhänge“ eingeordneten Kurzessays, zwei schlaglichtartige Miniaturen zu Agustí Centelles und Christian Boltanski, werden hier erstmalig in deutscher Sprache zugänglich gemacht. In den vorangehenden großen Essays über die Filmbilder Samuel Fullers und Harun Farockis weist Didi-Huberman das hermeneutische Handwerkszeug aus, mit dem sich die Arbeiten von Centelles und Boltanski als Bilder der Geschichte erschließen lassen.

Der erste Essay „Die Lager öffnen, die Augen schließen: Bild, Geschichte, Lesbarkeit“ hebt an mit einer Thematisierung der Irritationen, die sich für Didi-Huberman aus der Art und Weise ergaben, wie der 60. Jahrestag der Befreiung von  Auschwitz durch eine Vielzahl ritualisierter Formen des Erinnerns begangen wurde. Das kennen wir aus Borken, die Nuancierungen dieses Essays werden jedoch anders gesetzt. Eine merkwürdige „Kluft“ scheint sich aufzutun zwischen den Zielen eines Gedenkens an Auschwitz – nämlich dass es nie wieder sei – und einer im Gedenken „verordneten“ Präsenz bestimmter Bücher (in Neuauflagen und Auslagekästen der Bibliotheken), Bilder (auf Titelseiten der Zeitschriften, in Dokumentationen, Reportagen und Ausstellungen) und Thematisierungen (in Fernsehdiskussionen und Podiumsveranstaltungen).

Könnte es nicht sein, dass die Art und Weise dieses Gedenkens auch etwas verdeckt, Verdrängtes unangetastet lässt oder selbst verdrängt, dass sie einem „Willen zum Vergessen“ zuarbeitet? Dass dieses Gedenken also mehr Gewohnheit ist statt ein Gedenken, das erfahrend vollzogen wird? Erfahrend vollzogenes Gedenken läse diese präsentierten Bilder als geschichtliche Bilder: Als Bilder, die als wirksam für die eigene Gegenwart erkannt werden – in denen man sich eben „gemeint“ erkennt.

Um zu erläutern, dass eine verordnete Präsenz bestimmter Bilder nicht bedeuten muss, dass diese auch erkennend gesehen werden können, geht Didi-Huberman zurück zu den Bildern, die 1945 zur Zeit der Öffnung der Lager aufgenommen worden waren. Das Problem, mit dem uns diese Bilder konfrontieren, ist weniger, dass wir nicht benennen könnten, was auf ihnen zu sehen ist. Doch ein Bild „lesen“ können, heißt mehr: Es heißt, zu wissen, warum es etwas in einer bestimmten Form, in einer bestimmten Art und Weise zu sehen gibt – es heißt zu wissen, was sich vermittels dieses Bildes ausdrückt. Die Bilder der Öffnung der Lager zu lesen, heißt auch, sich die Zwecke vor Augen zu führen, die das Entstehen dieser Bilder leiteten. In Didi-Hubermans Formulierung: Bilder lesbar zu machen, heißt, „ihre Konstruktionsweise sichtbar zu machen“ – „[u]m zu sehen, muss man wissen.“

So macht es durchaus einen Unterschied, ob man weiß, dass der grausam und kalt erscheinende Blick der Kamera, die sich in direkter Einstellung mit scharfgestelltem Objektiv auf Berge von Toten richtet (jeder menschliche Blick müsste sich doch abwenden), nicht aus einer verdinglichenden Haltung resultieren muss, welche den Toten ein weiteres Mal ihre „Würde“ nähme. Diese ersten Bildaufnahmen hatten den Zweck eines „Archives der Befreiung“: Sie sollten die Öffnung der Lager festhalten und zugleich das Beweismaterial ihrer Existenz stellen, sie sollten „visuelle Zeugnisse“ sein, um „den Lagern den Prozess“ zu machen. Sie sollten das Geschehen in den Lagern jenen vor Augen führen, die davon nichts gewusst haben wollten.

Aber man erhoffte sich von diesen Bildern auch eine Illustration des Grauens und bearbeitete sie, um sie „schockpädagogisch“ einsetzen zu können – das Scheitern dieses Umganges mit Bildern hat Sylvie Lindeperg als „blinde Leinwand“ bezeichnet. Nicht wenige aktuelle Dokumentarfilme produzieren in ihrem unvermittelten Zeigen dieser Bilder solche „blinden Leinwände“. Der Filmemacher Claude Lanzmann hat daraus einst die Konsequenz gezogen, auf das beweisende Zeigen solcher Bilder zu verzichten.

Didi-Huberman schlägt dagegen nicht den Verzicht auf Bilder vor, sondern eine andere Auffassung davon, wie sich ein Vollzug ihres Lesens gestalten könnte. Um diesen Bildern zur Lesbarkeit zu verhelfen, ist nicht einfach zu fragen, „was diese Bilder verraten“, sondern vielmehr, wie sie uns „die Erfahrung eines sich öffnenden Lagers“ sichtbar machen. Um diese Erfahrung (nach)vollziehen zu können, wären beispielsweise die Filmbilder jenseits ihrer Sprecherkommentierungen zu konfrontieren mit Augenzeugenberichten und literarischen Darstellungen, und zwar nicht nur mit deren faktischen, sondern auch poetischen Gehalten.

Es wäre sich so in „einer Montage anderer Art“ dem zu nähern, was es heißen könnte, die Öffnung eines Lagers zu erfahren. Der „Ortsbefund“ dieser filmischen Zeugnisse wäre mit der Erstellung eines „Zeitbefundes“ dieser Erfahrung gegenzulesen, denn die Filme, die „bei der Öffnung der Lager von Militärangehörigen gemacht wurden“, verdeckten „zunächst einmal, und unweigerlich, die Dauer: Ein Lager öffnet man nicht, wie man eine Tür aufmacht, und Gefangene eines Lagers befreit man nicht so, wie man Vögel aus einem Käfig freilässt.“

Der weitere Verlauf des Essays fügt daher, gleich der zeitlichen Stationen der Erfahrungen des Öffnens der Lager, derartige Zeugnisse zu einem Bild der Erfahrung zusammen, um sie in eine Analyse der filmischen Aufnahmen eines „würdevollen Begräbnisses“ der Toten des Lagers münden zu lassen. Es sind jene Anfang Mai 1945 im Lager Falkenau entstandenen Aufnahmen des Soldaten Samuel Fuller, dessen „kleiner wackeliger Film […] nicht unter die visuellen Beweismittel für die künftigen Prozesse über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen wurde“ und somit für vierzig Jahre in der Schublade des späteren Filmemachers verschwand.

Didi-Huberman legt dar, wie nicht nur dieses Begräbnis und die Aufnahmen dieses Begräbnisses eine „kurze Lektion in Menschlichkeit in 21 Minuten“ darstellen, sondern sich diese Bilder in ihrem „ethischen“ Gehalt erst durch die Dialogizität ihrer späteren Remontage ergeben. Der Regisseur Emil Weiss filmte 1988 eine „direkte Konfrontation“ des gealterten Samuel Fuller mit den Bildern des Dokuments von 1945, in der wir sehen, was Fuller damals sah, und im Audio-Kommentar hören, wie er sich erinnert. In einer erläuternden Aufzählung von fünf „Lesbarkeitsfaktoren“ verdeutlicht Didi-Huberman, wie wir allererst durch die Konfrontation dieser beiden zeitlichen Ebenen mit derjenigen unseres deutenden Vollzuges vermögen, diese Bilder wirklich zu lesen.

Darin, uns dieses erkennende Lesen der Bilder zu ermöglichen, trifft sich die Motivation von Fuller und Weiss mit derjenigen, die „auch dem Unterfangen des Historikers angesichts der Frage der Lager zugrunde liegt: In ein und derselben Geste geht es darum, den Toten die Augen zu schließen […] und unsere Augen [im Hinblick] auf die Toten offen zu halten“. Wenn Didi-Huberman daran mit Michel de Certeau anschließt, dass sich aus dem Verlust eine „Verpflichtung“ ergebe, „die das Schreiben hervorbringt“, ein Schreiben, welches das Leid und Leiden im Hegel’schen Sinne aufhebe – charakterisiert er im selben Atemzug seine eigene Motivation. „Aufheben“ meint aber nicht, wie gern angenommen, ein alltagssprachlich verstandenes Versöhnen. Etwas auf dialektische Weise aufheben heiß: Die Wunde nicht verheilen lassen. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, Auschwitz vergegenwärtigen, immer und immer wieder.

Kein Bild

Georges Didi-Huberman: Borken.
Übersetzt aus dem Französischen von Horst Brühmann.
Konstanz University Press, Paderborn 2012.
85 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530267

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Georges Didi-Huberman: Remontagen der erlittenen Zeit. Das Auge der Geschichte II.
Übersetzt aus dem Französischen von Markus Sedlaczek.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
280 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770552269

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch