Vom Schöpfen und vom Schöffen

Ein Rundgang durch die Forschungsstelle des Deutschen Rechtswörterbuchs in Heidelberg

Von Kaspar RennerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kaspar Renner

Wer sich für das Verhältnis von Recht, Sprache und Geschichte interessiert, der sollte unbedingt die Forschungsstelle des Deutschen Rechtswörterbuchs in Heidelberg besuchen, die an der dortigen Akademie der Wissenschaften angesiedelt ist. Erst kürzlich wurden die Beiträge einer Heidelberger Akademiekonferenz veröffentlicht, die sich der „Historischen Rechtssprache des Deutschen“ widmen. Die Lexikographie, die Rechtslexikographie zumal, dürfte den wenigsten vertraut sein – obwohl sie für eine kulturgeschichtlich fundierte Germanistik überaus hilfreich ist. Denn viele Wörter, die uns in literarischen Texten begegnen, sind (historische) Rechtswörter: Man denke nur an den „Landfrieden“, mit dessen Bruch Heinrich von Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“ aus dem Jahr 1808 überaus umständlich beginnt. Es empfiehlt sich also, einmal die Homepage des Deutschen Rechtswörterbuchs zu besuchen, um in die digitale Ausgabe des Wörterbuchs hineinzublättern. Dort wird man reiche Quellen nicht nur zum Verhältnis von „Land(es)frieden“ und „Gottesfrieden“ finden – vom vieldeutigen Wortfeld „Roßhändler“, „Roßkamm“ und „Roßtäuscher“ ganz zu schweigen –, sondern auch zur „Fehde“, wie sie schon der historische Hans Kohlhase geführt hat, den sich Kleists Erzählung zum Vorbild nimmt.

Noch besser ist es allerdings, gleich selbst in die Kurpfalz zu reisen – das geht heute glücklicherweise ohne jenen „Paßschein“, der Kohlhaas angeblich für die Einreise nach Kursachsen fehlte –, um die Forschungsstelle des Deutschen Rechtswörterbuchs in Heidelberg zu besichtigen. Das haben wir getan. Andreas Deutsch, der gegenwärtige Leiter der Forschungsstelle, war so freundlich, uns zu begleiten. Schon auf dem Weg zur Bibliothek, die sich in der zweiten Etage des Akademiegebäudes am Karlsplatz befindet, erfährt man allerhand über die Geschichte des Wörterbuchs. An der Wand des Korridors, der die Büros der Mitarbeiter miteinander verbindet, findet sich eine kleine Ahnengalerie mit Porträts ehemaliger Leiter und Mitarbeiter, die sich auf je unterschiedliche Weise um das Deutsche Rechtswörterbuch verdient gemacht haben. Auf dem ersten Bild ist eigentlich nur ein langer weißer Bart zu erkennen. Er gehört Karl von Amira, einem Rechtsgelehrten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der an der Konzeption des Wörterbuchs federführend beteiligt war.

Den Kennern gilt Karl von Amira als Gründervater der sogenannten Rechtsarchäologie. Das ist durchaus buchstäblich zu verstehen: Sein Leben lang sammelte Amira nicht nur Rechtswörter, sondern auch ganz handgreifliche Rechtsdinge, um Aufschluss über symbolische Handlungen und Vollzüge des vergangenen Rechtslebens zu gewinnen. Vor allem für Richtstätten, diverse Straf- und Folterwerkzeuge sowie Galgen konnte sich der Gelehrte begeistern – der Schauplatz so mancher Kleist’scher Anekdote: „Ein Kapuziner begleitete einen Schwaben“, beginnt eine der bekanntesten, „bei sehr regnichtem Wetter zum Galgen …“. Das groß angelegte Werk „Rechtsarchäologie. Gegenstände, Formen und Symbole des germanischen Rechts“ konnte Karl von Amira zu Lebzeiten (1848 bis 1930) nicht abschließen – die meisten Blätter seiner rechtsarchäologischen Sammlung sind mittlerweile aber digitalisiert worden. Wichtige Anregungen für das Projekt Amiras hatte schon Jacob Grimm, ein Zeitgenosse Kleists, mit seinen rechts- und sprachgeschichtlichen Studien gegeben, mit seinem frühen Aufsatz „Von der Poesie im Recht“ (1816), dann vor allem mit den „Deutschen Rechtsalterthümern“ (1828), die den Sprachgebrauch des (west)germanischen Rechts dokumentieren sollten. Insbesondere in den sogenannten „Weistümern“ (ab 1840) hatte Grimm dabei bereits ein besonderes Augenmerk auf die lokale beziehungsweise dialektale Differenzierung verschiedener deutscher Rechtssprachen gelegt (auch des Schwäbischen); diese Perspektive hatte dann Eberhard Freiherr von Künßberg weiterverfolgt, der als Begründer der sogenannten Rechtskartographie gilt; wie Amira findet sich auch dessen Schüler Künßberg (1881 bis 1941) in der kleinen Ahnengalerie des Deutschen Rechtswörterbuchs. Sein Bild hängt hoch. Künßberg habe, so heißt es im historischen Abriss des Wörterbuchs, das Projekt seit 1933 vor „Konzessionen an den damaligen Zeitgeist“ bewahrt; sein Tod im Jahr 1941 und die Folgen des Zweiten Weltkriegs markierten einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Rechtswörterbuchs.

Ganz frei von Ideologie ist das Deutsche Rechtswörterbuch freilich nie gewesen, auch nicht in seinen Anfängen. Als im Jahr 1896 die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften eine Kommission einberief, um das Wörterbuch zu entwickeln, verfolgte man nicht zuletzt eine sprachpolitische Agenda: Durch den Rückgang auf die Geschichte, so argumentierte der damalige Leiter Richard Schröder (1838 bis 1917), sollte das deutsche Recht und seine Sprache von den Schlacken der römischrechtlichen Tradition befreit werden.: Zentrale Stichwörter wie die „Jurisdiktion“ wurden daher im Wörterbuch nicht belegt, man wird nur an die einschlägigen – wenigstens teilweise deutschen – Kompositbildungen weiterverwiesen (beginnend mit der „Amts-“, „Brunnen-“ und „Forst-Juridiktion“). Das wäre wohl selbst Mitgliedern der Deutschen Tischgesellschaft wie Kleist, Achim von Arnim oder Clemens Brentano etwas zu weit gegangen. Das Zeitalter des Sprachpurismus war zugleich jedoch ein positivistisches; es wurde also die Quellengrundlage auch für die gegenwärtige Forschung geschaffen. So begann die Arbeit am Rechtswörterbuch als eine groß angelegte Sammlungsaktion. Um die deutsche Rechtssprache in ihrer geschichtlichen Entwicklung möglichst dicht zu belegen, wurde eine Vielzahl von historischen Quellen gesichtet, ausgewertet und exzerpiert. Dabei wurde ein gewaltiges Corpus bearbeitet: Es umfasst Quellen, die sich vom letzten Drittel des 5. Jahrhunderts bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts erstrecken. In Heidelberg allein konnte diese Arbeit nicht bewältigt werden; man war auf auswärtige Expertise angewiesen. So entwickelte sich die Forschungsstelle im Lauf des 20. Jahrhunderts zum Knotenpunkt eines lexikographischen Netzwerks in- und ausländischer Wissenschaftler, die verschiedene Teilcorpora bearbeiteten, auswerteten und ihre Ergebnisse nach Heidelberg schickten. Die Resultate dieser kollektiven Sammlungs-, Exzerpier- und Sichtungsarbeit kann man heute noch im Archiv der Forschungsstelle besichtigen. Hier finden sich die Belegzettel, die von den Zu- und Mitarbeitern des Wörterbuchs in jahrhundertelanger Fleißarbeit angefertigt wurden. Heute werden sie in Archivkästen aufbewahrt, geordnet sind sie nur nach den jeweiligen Stichworten. In jedem Kasten befinden sich etwa 1600 Zettel, beschrieben in der charakteristischen Handschrift des jeweiligen Exzerptors, die häufig schon zu verblassen droht und also möglichst bald entziffert werden sollte.

Vom Archiv führte uns der Leiter der Forschungsstelle, Andreas Deutsch, in die Bibliothek. Selbstverständlich findet sich hier ein gedrucktes Exemplar des Deutschen Rechtswörterbuchs im Halbledereinband. Das Wörterbuch umfasst mittlerweile zwölf abgeschlossene Bände, deren Stichworte alphabetisch gegliedert sind, beginnend mit Band 1 von „Aachenfahrt bis Bergkasten“ (11224 Artikel) und Band 2 von „Bergkaue bis entschulden“ (12314 Artikel) über Band 6 von „Hufenwirt bis Kanzelzehnt“ (7368 Artikel) und Band 8 von „Krönungsakt bis Mahlgenosse“ (5531 Artikel) bis hin zu Band 11 von „Rat bis Satzzettel“ (5060 Artikel) und Band 12 von „Sau bis schwedisch“ (5299 Artikel). Derzeit ist man also mit der Bearbeitung all jener Stichworte beschäftigt, die mit „S“ beginnen. Zum dreizehnten Band liegt bereits ein erstes Heft vor, von „Schwefel bis selbzwölft“ (1274 Artikel), das nun im Jahr 2014 erschienen ist. Gerade das „S“ sei, so Andreas Deutsch, rechtsgeschichtlich ein überaus ergiebiger Buchstabe. Das „T“ wird daher noch etwas warten müssen. Schon an den Stichworten der obigen Bände erkennt man, dass ins Deutsche Rechtswörterbuch ganz unterschiedliche Gattungen von Wörtern aufgenommen werden: Zum einen solche, deren Bedeutung sich zunächst und vor allem rechtlich definiert („Satzzettel“), wenngleich dabei kirchliche Bezüge („Kanzelzehnt“) beziehungsweise politische Vollzüge („Krönungsakt“) stets mitzudenken sind; zum anderen Wörter, die neben ihrer rechtlich-kirchlich-politisch definierten Bedeutung auch für den allgemeinen Sprachgebrauch relevant geworden sind („entschulden“ beziehungsweise „entschuldigen“). Daran werden die vielfältigen Interaktionsverhältnisse zwischen Rechtssprache und Alltagssprache deutlich, die in der Vergangenheit noch nicht so scharf voneinander abgegrenzt waren wie heute. Hinzu kommt der Bezug auf spezielle ökonomische Praxisfelder, sei es in Landwirtschaft, Handwerk oder Bergbau (siehe „Bergkasten“ und „Bergkaue“). Das Deutsche Rechtswörterbuch liefert also nichts weniger als eine Enzyklopädie des sprachlich verfassten Rechts in seinen kirchlich-politisch-ökonomischen Bezügen.

Auch die kulturelle Einbettung des Rechts lässt sich von der Warte des Deutschen Rechtswörterbuchs aus gut beobachten. Das wollen wir exemplarisch an einem Artikel des Wörterbuchs zeigen, nämlich demjenigen zum „Schöffen“. Der Artikel findet sich im zwölften Band des Deutschen Rechtswörterbuchs. Er beginnt mit einer allgemeinen Begriffsbestimmung: „die Gemeinschaft der Schöffen findet das Recht“, heißt es dort, „d.h. sie trifft die gerichtlichen Entscheidungen in Zivil- und Strafsachen, fällt insbesondere Urteile, vermittelt Vergleiche und stellt bestehendes (Gewohnheits-) Recht (Weistümer) fest, während der Richter die Gerichtssitzung leitet und Entscheidungen verkündet; das Zusammenwirken von Richter und Schöffen“, heißt es weiter, „ist hierbei je nach Rechtskreis und Zeit unterschiedlich.“ Davon ausgehend werden Belegstellen geliefert, welche die Praxis der Schöffengerichtsbarkeit auf verschiedenen Ebenen konkretisieren, vom I) „Begriff und Amtsverständnis“ des Schöffen und den II) „(persönlichen) Voraussetzungen für die Amtsausübung“ (eheliche Geburt, guter Leumund, hinreichendes Vermögen) über die III) „Formalia der Amtseinsetzung und –ausübung“ (Wahl, obrigkeitliche Einsetzung, Vererbung) bis zu den IV) „gerichtlichen und außergerichtlichen Zuständigkeiten und Tätigkeiten“, vor allem IV 1) „in Bezug auf die gerichtliche Entscheidungsfindung“, IV 2) „bei der Beweissichtung, insbes. Augenschein und Wundbeschau“ oder aber IV 3) „bei Rüge, Anzeige von strafbaren Handlungen“. Bereits durch die systematische Gliederung der historischen Quellen wird also gleichsam ein Querschnitt durch die rechtliche Praxis der Schöffengerichtsbarkeit etabliert, die zugleich als kulturelle Praxis in einem allgemeineren Sinne verstanden werden kann – und zwar gerade deshalb, weil sie der spezifisch modernen Differenzierung von Experten- und „Laiensphäre“ vorausliegt: Die Schöffen werden als Organ eines kollektiv verfügbaren Rechtswissens interpretiert, das durch den richterlichen Urteilsspruch nur kanalisiert werden soll.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb sich schon Jacob Grimm intensiv mit dem Phänomen der Schöffengerichtsbarkeit beschäftigt hat, und zwar zunächst in seinem – längst kanonisch gewordenen – Aufsatz „Von der Poesie im Recht“, der im Jahr 1816 in der „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ erschien. „Dasz recht und poesie miteinander aus einem bette aufgestanden waren“, so der vielzitierte erste Satz des § 2 des Aufsatzes, der auf den „Eingang über verbindung der poesie mit dem recht“ in § 1 folgt, soll dabei nicht zuletzt durch den „Beweis aus der sprache“ in § 3 gezeigt werden: „Alles was anfänglich und innerlich verwandt ist“, argumentiert Grimm dort, „wird sich bei genauer untersuchung als ein solches stets aus dem bau und wesen der sprache selbst rechtfertigen lassen“. Die Verwandtschaft von Recht und Poesie soll dabei nicht zuletzt über den etymologischen Zusammenhang der Richter und der Dichter erwiesen werden, und zwar vor allem am Wortfeld von Schöffen und Schöpfen: „die richter heiszen finder“, führt Grimm dazu aus, „weil sie das urtheil finden, wie die dichter finder (trobadores, trouveurs); beide werden belegt mit dem namen: schaffer, schöffen, scof (ganz eigentlich das gr. ποιηταί) weil sie schaffen, d.h. bestimmen, ordnen*“.

Die mit einem „*“ markierte Fußnote liefert neben der griechischen darüber hinaus noch eine lateinische Belegstelle, die neben der Poetik auch auf eine rhetorische Tradition verweist: „* ein urtheil schöpfen, haurire, invenire“. Diese etymologische Verknüpfungslogik, welche die frühen Aufsätze Jacob Grimms kennzeichnet und dabei vom Haupt- bis in den Nebentext ausgreift, mag uns heute als kurzschlüssig erscheinen. Stefan Willer ist diesem poeto-philologischen Verfahren in seinen Studien zur „Poetik der Etymologie“ nachgegangen. In seinen – allgemein weniger bekannten – „Deutschen Rechtsalterthümern“ aus dem Jahr 1828 geht Grimm jedoch schon deutlich behutsamer vor: Hier wird sorgfältig zwischen den „Richtern“ einerseits und den „Urtheilern“ andererseits differenziert, bevor Grimm dann das Verhältnis von „Geschworenen“ und „Schöffen“ diskutiert, die vor Gericht jedoch meist dieselbe Funktion erfüllt hätten: Sie werden als Sprachrohr eines topisch beglaubigten Rechtswissens gedeutet, das nicht nur in der Gerichtspraxis, sondern ebenso im außergerichtlichen Rechtsverkehr zum Ausdruck kommen soll – diese Topoi, die sich zwischen Experten- und Populärdiskurs frei bewegen und gerade dadurch Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit stiften sollen, hat Grimm in den „Rechtsalterthümern“ sehr genau verzeichnet, von der Alliteration (etwa: „mit bausch und bogen“) über den Reim („schalten und walten“) bis hin zu tautologischen Wendungen der Rechtssprache („nach altem brauch, herkommen und gewohnheit“).  

Dabei ist zu bedenken, dass diese formalen Besonderheiten der alten deutschen Rechtssprache (etwa Alliteration, Reim und Tautologie), die wahlweise als rhetorisch, topisch oder – wie vom frühen Jacob Grimm bevorzugt – als „poetisch“ beschrieben werden, nicht zuletzt auf die medialen Bedingungen ihrer Überlieferung verweisen, nämlich auf eine Mündlichkeit, die meist erst später verschriftlicht wurde. Umgekehrt, und als Problem formuliert: Was Grimm als mündliche deutsche Rechtssprache entwirft, ist häufig nur im Medium lateinischer Schriftquellen verfügbar. Dies ist ein ganz grundlegendes Problem, das sich auch bei der Arbeit am Deutschen Rechtswörterbuch stellt: Wie Heino Speer, der frühere Leiter der Forschungsstelle ausgeführt hat, wird dabei mehr und mehr das komplexe Interferenzverhältnis zwischen deutschsprachiger mündlicher und lateinischer schriftlicher Überlieferung berücksichtigt, das sich vielleicht am ehesten als eines der „Hybridität“ beschreiben lässt. Wer sich auf Jacob Grimm beruft, um „Recht und Literatur“ beziehungsweise „Literatur und Recht“ als Forschungsfeld abzustecken, der muss also nicht nur eine sprachliche Differenz (zwischen deutscher Volks- und lateinischer Gelehrtensprache), sondern zugleich eine Mediendifferenz (zwischen mündlicher und schriftfixierter Überlieferung) berücksichtigen, und zwar mit Blick auf ihre historische Entfaltung (die durchaus paradoxe Phänomene zeitigen kann, wie etwa eine „sekundäre Oralität“).

An diesen Differenzen arbeitet sich dabei nicht zuletzt jene Form von Literatur ab, die sich als neuere deutsche Literatur etwa zeitgleich zu Grimms rechts- und sprachgeschichtlichen Forschungen auszubilden beginnt. Und zwar sowohl in der Prosa – siehe etwa „Michael Kohlhaas“ oder „Der Zweikampf“ – als auch im Drama. Man nehme nur, in diesem Zusammenhang vielzitiert, Heinrich von Kleists „Zerbrochnen Krug“ aus dem Jahr 1808 (Uraufführung) beziehungsweise 1811 (erste vollständige Druckfassung). Was hier auf die Bühne gebracht wird, ist ja nichts anderes als der Gegensatz zwischen mündlich tradiertem Gewohnheitsrecht der deutschen (Peripherie) und schriftlich fixiertem Gesetzesrecht der lateinischen Rechtssprache (Zentrum), der tragikomisch zugespitzt und zum Kollaps gebracht wird, nicht zuletzt in der ebenso paradoxalen wie selbstentlarvenden Wendung des Dorfrichters Adam: „Wir haben hier, mit Eurer Erlaubnis“, wendet er sich an den Gerichtsrat Walter, „Statuten, eigentümliche, in Huisum, / Nicht aufgeschriebene, muß ich gestehn, doch durch / Bewährte Tradition uns überliefert. Von dieser Form, getrau ich mir zu hoffen / Bin ich noch heut kein Jota (!) abgewichen.“ (V. 130-135).

Wie Grimm entwickelt dabei auch Kleist ein feines Gespür für die Etymologie des Gesetzes als Norm, die festgesetzt wurde: „Er mir den Krug ersetzen“, hören wir Marthe vor Gericht ganz volkstümlich klagen, „Wenn ich mir Recht erstreiten kann, ersetzen. / Setz’ er den Krug mal hin, versuch’ er’s mal / Setz’ er’n mal hin auf das Gesims! Ersetzen! / Den Krug der kein Gebein zum Stehen hat / zum Liegen oder Sitzen hat, ersetzen!“ (V. 424-429). „recht und gesetz“, heißt es im Jahr 1816 dazu in Grimms Aufsatz „Von der Poesie im Recht“, „ist das feste, gerade, stehende oder sitzende, welches in der sprache einerlei.“ Diese etymologische Erkenntnis produziert auch Kleists Drama, es lässt die Figuren selbst auf diese Erkenntnis stoßen und in so manch slapstickhafter Einlage über die Differenz zwischen buchstäblicher und übertragener Bedeutung von Gesetz, Fall und Zufall stolpern und dabei ins Straucheln geraten. Gleichzeitig liefert Kleist eine dramatische Analysis all jener topischen Verfahren (der inventio) und der rhetorischen Techniken (der elocutio beziehungsweise der actio), die auf der Bühne des Gerichts aufgeboten werden, um den Gegner zu widerlegen beziehungsweise den Richter zu überzeugen, und die auch Grimm in seinen „Deutschen Rechtsalterthümern“ aus dem Jahr 1828 archiviert hat. In Kleists dramatischem Meta-Gericht wird dabei deutlich, wie das Gericht als symbolische Raum-, Zeit- und Redeordnung allererst etabliert wird, um gerade am titelgebenden Gegenstand der Verhandlung – eben dem „zerbrochnen Krug“ – zu demonstrieren, wie diese Symbolisierung fehlschlägt. Was Eve, der Tochter der Klägerin widerfahren ist, lässt sich nicht darstellen, weder im Medium des Bildes, noch im Medium der Sprache, die beide gleichermaßen in dieses Rechtsdrama eingelassen sind: So erklärt sich Johann Wolfgang von Goethes – häufig angeführtes – Dictum, „daß das Stück (wieder) dem unsichtbaren Theater angehört.“

Rechtsdramen wie diejenigen Kleists oder Goethes – man denke nur an den „Götz von Berlichingen“ aus dem Jahr 1773 (Uraufführung der 1. Fassung) beziehungsweise 1804 (Uraufführung der 3. Fassung) – lassen sich dabei nicht nur als historical reenactment längst vergangener Rechtszustände interpretieren; vielmehr spiegeln sich in den rechtsgeschichtlichen Umbrüchen, die hier meist auf das 16. Jahrhundert datiert werden, zugleich auch die charakteristischen Problemlagen der (nicht nur) literaturgeschichtlichen Epoche der „Goethezeit“, die im Deutschen Rechtswörterbuch ebenfalls mit vielen Quellen belegt ist. Das mag uns wieder Kleists „Zerbrochner Krug“ verdeutlichen. Denn was hier inszeniert wird, lässt sich nicht zuletzt als ein Drama der Zeugenschaft deuten: Keiner hat gesehen, was eigentlich geschehen ist, als der Krug zerbrach. Durch Zeugenaussagen kann der Täter also nicht überführt werden, sondern schließlich nur durch einen Indizienbeweis, der erst im letzten Auftritt erbracht wird: Die Perücke, die eigentlich „Insignie der richterlichen Würde“ sein sollte, verwandelt sich in ein „Indiz“, das eben diesen Richter der Tat überführt. So hat es Joseph Vogl prägnant in einem Aufsatz zu den „Scherben des Gerichts“ ausgedrückt, der die rechtsgeschichtliche Unterscheidung Michel Foucaults zwischen „épreuve“ (Probe, geständniszentriert) und „enquête“ (Untersuchung, indiziengeleitet) als Leitdifferenz auch für die Dramengeschichte fruchtbar machen will. Dabei lassen sich durchaus Bezüge zur zeitgenössischen Rechtsdebatte herstellen. Thomas Weitin hat in einer quellenreichen Monographie zur „Zeugenschaft. Das Recht der Literatur“ darauf hingewiesen, dass Dramen wie der „Zerbrochne Krug“ nicht zuletzt auf die strafrechtlichen Reformen reflektieren, die sich an dieser Epochenschwelle vollziehen, etwa mit der Einführung der preußischen Kriminalordnung von 1805, die das Verhältnis von Zeugenschaft und Indizienverfahren neu bestimmt. Bis der Band des Deutschen Rechtswörterbuchs zu „Z“ wie „Zeuge“ vorliegt, um all dies an rechts- und literaturgeschichtlichen Quellen genauestens zu belegen, wird man sich allerdings wohl noch etwa zwanzig Jahre gedulden müssen (während das „Bezeugen“ im Wörterbuch bereits dicht belegt ist.). 

Literaturhistoriker, zumal der neueren deutschen Literatur, neigen dazu, sich auf ganz bestimmte lokale Ballungszentren zu konzentrieren, wenn sie nach den Produktions- und Rezeptionsbedingungen ihrer literarischen Gegenstände fragen. Das gilt nicht zuletzt für die Dramengeschichtsschreibung: Der Verweis darauf, wie Kleists „Zerbrochner Krug“ am Weimarer Hoftheater durchgefallen sei, darf in keiner dramengeschichtlichen Überblicksdarstellung fehlen. Ähnliches gilt für Goethes „Götz von Berlichingen“. Das Deutsche Rechtswörterbuch bietet gleichsam ein Korrektiv für diese literaturgeschichtliche Konstruktion einer Weimarer Klassik. Denn in sprach- und rechtsgeschichtlicher Perspektive erweisen sich zeitliche ebenso wie räumliche Grenzziehungen als weit durchlässiger, als von der literaturgeschichtlichen Warte aus gesehen. Das führte uns Andreas Deutsch in der Bibliothek der Forschungsstelle sehr anschaulich anhand einer Karte vor, welche die Verbreitung der für das Deutsche Rechtswörterbuch relevanten Quellen dokumentiert. „Deutsche“ Quellen im Sinne des Rechtswörterbuchs finden sich dabei keineswegs nur im heutigen Deutschland.

Um nur ein besonders prägnantes Beispiel zu nennen: Nicht zuletzt in den Territorien der ehemaligen russischen Ostseeprovinzen, also vor allem im heutigen Estland (insbesondere in Tallinn und Tartu) sowie im heutigen Lettland (insbesondere in Riga), findet sich eine Vielzahl von rechts-, sprach- und schließlich auch literaturgeschichtlich überaus ergiebigen Quellen, vom 13. bis ins frühe 19. Jahrhundert. Dem sind Ulrich Kronauer und Thomas Taterka in einer umfangreichen Publikation zur „Baltisch-europäischen Rechtsgeschichte und Lexikographie“ nachgegangen, die ebenfalls auf eine Heidelberger Akademiekonferenz zurückgeht. Neben Beiträgen, die sich dem Problemkomplex von Sprache, Geschichte und Recht im Baltikum in verschiedenen historischen Epochen widmen, finden sich hier auch dezidiert personenbezogene Beiträge zu juristisch ausgebildeten Literaten wie Carl Gustav Jochmann. Wollte man das Projekt einer Enzyklopädie der „Dichterjuristen“ weiterverfolgen, das schon in den 1950er Jahren begonnen wurde, um jüngst in dem von Yvonne Nilges herausgegebenen Sammelband „Dichterjuristen. Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis 21. Jahrhundert“ fortgeführt zu werden, dann wären gerade auch solche Figuren wie der in Pernau geborene Publizist Jochmann (1789 bis 1830) zu berücksichtigen, der nach seinern juristischen Ausbildung in Heidelberg zunächst nach Riga zurückkehrte, um sich dort als Anwalt niederzulassen, bevor er (bildungs)revolutionär schreibend und reisend in die weite Welt aufbrach, nach Berlin, Paris und darüber hinaus.

Über die Kreuz- und Quergänge solcher juristisch-literarisch-journalistischen Lebensläufe im baltisch-deutschen Bezugsfeld gibt uns heute der digitale Ableger des „Baltischen Biographischen Lexikons“ zuverlässig Auskunft. Und auch das Deutsche Rechtswörterbuch ist längst im World Wide Web angekommen. Es findet sich hier nicht nur eine umfassende Dokumentation zu Geschichte, gegenwärtigem Forschungsstand und künftigen Desideraten des Rechtswörterbuchs, vor allem kann auf alle Artikel zugegriffen werden. Die digitale Ausgabe des Deutschen Rechtswörterbuchs bietet dabei sogar mehr Belegstellen, als in die gedruckte Ausgabe aufgenommen werden konnten. Machen wir die Probe aufs Exempel: Unter dem Stichwort „Leib(es)eigenschaft“, das gerade für die baltisch-deutsche Rechts-, Literatur- und Kulturgeschichte überaus relevant ist, finden sich Belege nicht zuletzt mit Blick auf die – von Reinhart Koselleck so genannte – „Sattelzeit“ (1770 bis 1830). Besonders prominent freilich die einschlägige Bestimmung des Preußischen Allgemeinen Landrechts: „es findet daher“, heißt es in diesem Gesetzeswerk, das im Jahr 1794 in Kraft trat, „die ehemalige leibeigenschaft als eine art der persönlichen sklaverey, auch in ansehung der unterthänigen bewohner des platten landes, nicht statt.“ In den russischen Ostseeprovinzen Livland, Estland und Kurland wird sich dieser Grundsatz erst viel später durchsetzen. Wie Thomas Taterka mit Blick auf Garlieb Merkels Streitschrift „Die Letten“ aus dem Jahr 1796 gezeigt hat, die sich dezidiert gegen die Leibeigenschaft wendet, besteht die Stärke des Deutschen Rechtswörterbuchs gerade darin, bei der lexikographischen Erfassung der gutsherrlich-bäuerlichen Rechtsverhältnisse auch die livländische Provinzialsprache zu berücksichtigen und sie differenziert ins Verhältnis zur allgemeinen Rechtssprache zu setzen (was an Wörtern wie „Gefälle“, „Gehorch“ und „Gerechtigkeit“ deutlich wird, auch wenn hier noch weiter zu differenzieren sei).   

Für rechts-, sprach- und literaturgeschichtliche Forschungen in kulturellen Grenzräumen wie dem Baltikum ist das digitale Deutsche Rechtswörterbuch also ein vorzügliches Hilfsmittel, zumal es mit weiteren digitalen Beständen verlinkt ist, die häufig auch die Volltexte der zitierten Quellen bieten, so etwa die Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte. Im Netz ergeben sich also stets neue Verknüpfungsmöglichkeiten. Als Architekt der digitalen Revolution des Deutschen Rechtswörterbuchs kann der ehemalige Leiter der Forschungsstelle Heino Speer gelten. In einem faszinierenden Aufsatz zum „Deutschen Rechtswörterbuch im Medienwandel“ beschreibt Speer, welche neuen Perspektiven sich durch die Digitalisierung bieten: „Der digital geradezu grenzenlos zur Verfügung stehende Publikationsraum will zwar wissenschaftlich verantwortlich genutzt werden“, so Speer, „aber eine Vielzahl von bislang nur werkstattintern oder gar nur in der lexikographischen Phantasie vorhandenen Möglichkeiten könnte hier realisiert werden.“ Viele Rechtswörter, die in das gedruckte Exemplar des Wörterbuchs nicht aufgenommen werden konnten, finden sich nun also in der digitalen Ausgabe (so wird die besonders für Livland relevante „Güterreduktion“ etwa über die Worterklärung mit der „Reduktionsverordnung“ verknüpft). Andere sind mit weiteren Belegstellen nachgewiesen. Das Internet erweist sich somit als Idealrepräsentanz nicht nur der Bibliothek, sondern zugleich auch des Archivs des Deutschen Rechtswörterbuchs. Dieses in Heidelberg persönlich zu besuchen, sei gleichwohl jedem rechts-, sprach- und literaturgeschichtlich interessierten Forscher empfohlen!

Literaturhinweise

Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Gesamtwerk. Bearbeitet von Heino Speer und Andreas Deutsch. 12 Bde. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998ff.

Andreas Deutsch (Hrsg.): Historische Rechtssprache des Deutschen. Heidelberg: Winter 2009ff. (erscheint im Rahmen der Reihe „Akademie-Konferenzen“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften).

Ulrich Kronauer, Thomas Taterka (Hrsg.): Baltisch-Europäische Rechtsgeschichte und Lexikographie. Heidelberg: Winter 2009.