Zwischen Bewunderung und Distanzierung

William Blakes Zeichnungen zu Dantes „Divina Commedia“ als Dialog mit dem Wort

Von Alla SoummRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alla Soumm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dante Alighieris „Commedia“ (etwa 1321) – das große Epos von der Durchquerung der drei jenseitigen Reiche Hölle, Fegefeuer und Paradies durch das Dante genannte lyrische Ich bis zur Erlangung der höchster Stufe der Erkenntnis und der höchsten Glückseligkeit beim Anblick Gottes – stellt nicht nur einen außerordentlichen Versuch dar, die Jenseitsfahrten aus der antiken (Homers „Odyssee“, Vergils „Aeneis“) wie christlichen Literatur („Visio Pauli“) fortzuschreiben und dabei, aller Anknüpfung an die Tradition ungeachtet, eine revolutionäre neue literarische Form zu kreieren: ein Epos in der toskanischen Vulgärsprache, die als Literatursprache „erst noch erfunden werden musste“, in einem Stil, „der sämtliche Sprachregister, einschließlich der niedrigsten, ermöglicht“, und von einem derartigen thematischen Synkretismus, dass „antike und mittelalterliche Kultur, Heilige Schrift und lateinische Klassiker, Literatur und Philosophie, Naturwissenschaft und Geographie, Politik und Geschichte, christliche und heidnische Welt“ zu einer Einheit verschmolzen und so miteinander versöhnt werden (Terzoli). Das Werk, dem von Giovanni Boccaccio das Epitheton divina (göttlich) verliehen wurde, steht zugleich am Beginn der italienischen und damit auch der neuzeitlichen europäischen Literatur.

Als „Archetypus eines visionären Kunstwerks in Versen und Vulgärsprache“ stellt die „Commedia“ eine Brücke vom mittelalterlich-scholastischen Denken  zur Urteilskraft und Empfindung des individualistischen Renaissancekünstlers dar: Die minutiös entworfene Architektur der drei Jenseitsreiche nimmt zwar Impulse der antiken wie biblischen und christlich-theologischen Vorstellungen auf, verdankt sich in ihrer endgültigen Gestalt jedoch „allein der schöpferischen Kraft Dantes“. Das vom Dichter ausgeklügelte Belohnungs- und Bestrafungssystem folgt dabei nur sporadisch dem etablierten kirchlich-dogmatischen Tugend- und Sündensystem (etwa in der Übernahme der Todsünden in dem Aufbau des Purgatorio); vielmehr scheint es das zentrale Anliegen Dantes zu sein, durch eine individuelle Fortschreibung des antiken wie biblisch-christlichen Mythos eine eigene, individuelle Wertehierarchie zu entwerfen, die mitunter die theologische Tradition selbstbewusst negiert:

So werden von Dante – einem glühenden Unterstützer der Florentiner Partei der Weißen Guelfen, der auf einer politischen Mission in Rom vom Vatikan hintergangen und, bei gleichzeitiger Konfiszierung seiner Güter und der Androhung der Todesstrafe, in Verbannung geschickt wurde – Verrat und Vertrauensbruch als die schlimmsten Sünden postuliert, symbolisiert sowohl am Beispiel der geistlichen (Kain) als auch der weltlichen Sphäre (Brutus und Cassius). So werden „[a]ls Führer durch Hölle und Purgatorium […] weder antike oder moderne Philosophen noch christliche Heilige oder mythische Helden gewählt, sondern der Dichter Vergil“ – eine Wahl, die programmatisch „dem künstlerischen Schaffen […] den ersten Rang einräumt“. So werden im Inferno zahlreiche weltliche wie geistliche Würdenträger, allen voran Papst Bonifaz VIII. gerichtet, während der Protagonist Dante die unglückliche Ehebrecherin Francesca da Rimini genauso wie seinen guten Freund, den homosexuellen Gelehrten Brunetto Latini, auf seiner Höllenwanderung zutiefst bedauert. Einen heidnischen Selbstmörder wie Cato den Jüngeren erhebt der exilierte Florentiner Bürger sogar zum Wächter des Purgatoriumberges, da jener ihm als Bürgerideal gilt, während die Fülle der göttlichen Offenbarung von einer anderen, für Dantes Werk seit der „Vita Nova“ (etwa 1295) schicksalsträchtigen Persönlichkeit symbolisiert wird: Dantes Muse Beatrice, die in der himmlischen candida rosa, dem rosenförmigen göttlichen Amphitheater der seligen Seelen im Empyreum, unweit der Mutter Gottes gleich neben der Erzmutter Rahel sitzen darf.

Die Figur Dantes als des Urhebers und zugleich Protagonisten der für die italienische wie europäische Literatur- und Geistesgeschichte epochalen „Commedia“ erlebte nach einer triumphalen Rezeption in der italienischen Renaissance und einem Nachlassen des Interesses im Zeitalter des Barock im späten 18. und 19. Jahrhundert eine beispiellose Konjunktur auch über die Grenzen Italiens hinaus: Dante wurde nunmehr „zu einer Identifikationsfigur des modernen Künstlers“ (Schütze). Die sich in kühnen sprachlichen Bildern entladende Intensität seiner Einbildungskraft, die geradezu plastische Eindringlichkeit der von ihm evozierten Figuren, Körper, Räume sowie die zahlreichen Referenzen im Text der „Commedia“ auf Werke und Vertreter der Bildenden Kunst – etwa die Erwähnung der durch Gotteshand gemeißelten „marmorne[n] Historienreliefs“ oder die Evozierung antiker Bildhauerkunst wie zeitgenössischer Malerei von Polyklet bis Giotto im Purgatorio – wurden, nachdem sie solche Renaissance-Meister wie Botticelli, Raffael und Michelangelo fasziniert und herausgefordert hatten, ab dem Zeitalter der europäischen Romantik zu einer Inspirationsquelle für solche Vertreter einer neuen Künstlergeneration wie Théophile Géricault und Eugène Delacroix. Während in Frankreich zudem Gustave Doré von 1861 bis 1868 seine in der Holzstichtechnik, „eine[r] Technik, die Holzschnitt und Kupferstich verbindet“, gefertigten Illustrationen der „Commedia“ veröffentlichte, und der Vater der modernen Skulptur Auguste Rodin ab 1880 die Arbeit an seinem von Dante inspirierten Meisterwerk „La porte de l’enfer“ („Das Höllentor“) beginnen sollte, wurde Dante in England, nicht zuletzt durch die Vermittlung solcher Künstler wie Johann Heinrich Füssli oder John Flaxman „in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ‚entdeckt‘ und zu einem entscheidenden Katalysator ‚gotischer‘ Kunstbestrebungen“.

Die Begeisterung seiner Künstlerfreunde Füssli und Flaxman für Dante konnte einem „visionären Geist“ (Terzoli) wie dem „sozialrevolutionär[en] Utopist[en]“ William Blake, der als Dichter und Grafiker in seiner radikalen Ablehnung der Rationalität der Aufklärung und in seiner „Suche nach dem Imaginären, Übernatürlichen und Mystischen, […] seinen visionären Erkundungen von Subjektivität, Eros und Psyche, von Träumen und Albträumen zur Identifikationsfigur für Romantiker und Präraffaeliten, für Symbolisten und Surrealisten bis hin zu zeitgenössischen Bewegungen wie New Age und Gothic“ (Schütze) werden sollte, nicht unbeeindruckt lassen. Als ein von einzigartig individuellen, plastischen Sprachbildern durchzogenes allegorisches Werk von großer politischer und moralischer Dimension war die „Commedia“ besonders dazu geeignet, Blakes eigene Einbildungskraft herauszufordern, um mit ihr in einen „Dialog von Wort und Bild“ (Schütze) treten zu kennen.

Als der fast siebzigjährige Blake – der Autor der berühmten „Illuminated Books“ (von 1788 bis 1820), die eine private, mystische Mythologie um allegorische Figuren wie Urizen, dem Demiurgen der materiellen Schöpfung als dem falschen Gott, oder Los, der Verkörperung von Imagination und Poesie als dem Gegenentwurf zur ‚schlechten‘ Schöpfung, entwerfen (vgl. „The Book of Urizen“ [„Das erste Buch von Urizen“; 1794]) und in einer neuen, von Blake erfundenen Technik der Reliefätzung Bilder und Texte zu „Bild-Text-Kunstwerke[n]“ (Schütze) verschmelzen lassen – 1824 von dem jungen Landschaftsmaler John Linnell, seinem Freund und Bewunderer, nach der Fertigstellung von 21 Kupferstichen nach dem Buch Hiob nun mit der Anfertigung von Illustrationen für Dantes „Commedia“ beauftragt wurde, war seine Faszination für Dante als Dichter derart, dass er, ohne jemals in Italien gewesen zu sein, am Lebensabend beschloss, Italienisch zu lernen, um das Werk im Original lesen zu können. Tatsächlich galt ihm Dante „[m]it den Propheten des Alten Testaments, mit Homer, Shakespeare und Milton […] als höchste Verkörperung des ‚poetic genius‘“.

So groß Blakes Verehrung für Dante als Dichter war, so groß war sein Unverständnis für dessen theologische und politische Vorstellungen: Dantes Herbeisehnen nach dem Kaiser, der – wie im Schlussgesang des Purgatorio, im irdischen Paradies prophezeit – als Fünfmalhundertfünfzehn, d.h. als DXV oder Dux, ganz Italien führen und einen wird, beschworen Blakes Entrüstung genauso herauf wie der gesamte Entwurf eines universellen Systems, das auf der Existenz von Hölle und Sünderbestrafung fußt: „Whatever Book is for Vengeance for Sin & Whatever Book is Against the Forgiveness of Sins is not of the Father, but of Satan the Accuser & Father of Hell“, notierte Blake in einer Beischrift zu seiner Zeichnung der Höllenkreise.

Blake, dessen Kunst den menschlichen Körper ins Zentrum rückt, fertigte nach einer eingehenden Dante-Lektüre von 1825 bis zu seinem Tod zwei Jahre später insgesamt 102 Zeichnungen an, von denen 10 dem abstrakten und von Dante nicht selten als unbeschreiblich geschilderten Paradiso, 20 dem an Landschaftsbeschreibungen reichen Purgatorio, die restlichen 72 aber den sich in Höllenqualen windenden Verdammten des Inferno gewidmet sind – und das Blakes eigener, dem Höllenkonzept gegenüber feindlichen Weltanschauung zum Trotz. Da Blake jedoch mitten in der Arbeit an den Illustrationen verstarb, lässt es sich darüber, ob es bei diesem Verhältnis zugunsten des Inferno geblieben wäre, allenfalls spekulieren.

Die Zeichnungen, welche nach dem Grad der Ausführung von Bleistiftskizzen bis zu fertigen Aquarellen variieren, werden auch im unvollendeten Zustand von der „Enciclopedia Dantesca“ gepriesen als „bildlich-figurative[…] Interpretationen“, die von einer „eingehenden, freien und kritischen Lektüre zeug[en]“ und zugleich „durch kreativen Einfallsreichtum, Eleganz der Zeichnung und ein Licht- und Farbempfinden […], [das] man sonst bei keinem anderen modernen Künstler findet“, den „Höhepunkt der Dante-Illustrationen der Neuzeit“ markieren (zitiert in Terzoli).

Blakes kritischer Dialog mit Dante entlädt sich in expliziter Kritik (wie im ersten Entwurf des Höllentores, über dem die bedrohliche Gestalt des Demiurgen thront, vor welcher sich irdische und geistliche Macht auf die Knie wirft), meist aber in Beischriften (etwa „The Angry God of this World“ auf derselben Zeichnung). Zugleich dient das Dantesche Universum als Aufforderung zu einem „Paragone, eine[m] Wettstreit der Künste“, etwa wenn es darum geht, visuelle Analogien zu Dantes kühnen Sprachbildern zu finden – z.B. der im fünften Gesang des Inferno geschilderte Wirbelwind der Wollüstigen in Blakes Darstellung zu einem Strom der Leiber wird. Obgleich also jeder Medientransfer, jede Übersetzung des dichterischen Wortes in Bilder eine Aktualisierung und zugleich eine neue Lektüre des literarischen Werkes bedeutet, war Blake „durch seine Doppelbegabung als Dichter und bildender Künstler […] besonders berufen, den Deutungs- und Bedeutungshorizont der ‘Divina Commedia’ neu zu vermessen“ (Schütze).

Aus Anlass von Dantes 750. Geburtstag werden nun alle 102 Zeichnungen, die sich heute in sieben verschiedenen Museen des ehemaligen British Empire befinden, in einem Prachtband des Kölner Taschenverlags vereint. Die von den Herausgebern, der italienischen Literaturwissenschaftlerin Maria Antonietta Terzoli und dem Kunsthistoriker Sebastian Schütze, verfassten einleitenden Essays führen dabei sowohl in das Werk Dantes als auch in dessen Einfluss auf die europäische Kunstgeschichte speziell am Beispiel William Blakes ein. Als das Herz der Veröffentlichung erscheint der Bildkatalog mit zahlreichen Bildtafeln, in höchster Druckqualität auf hochwertigem Papier, in sachkundiger Kommentierung jeder einzelnen Tafel unter Rekurrenz auf Dantes Text sowohl im Original als auch in der neuesten deutschen Prosaübersetzung von Hartmut Köhler. Angereichert wird der Bildkatalog zudem durch beispielhafte Exkurse in die Dante-Rezeption der Bildenden Kunst (von den frühesten Fresken und Buchmalereien über Botticelli bis Rodin).

Die Auszüge aus der neuesten Prosaübersetzung machen deutlich, dass Köhler selbst die für die „Commedia“ zentralen „stelle“ (Sterne, Gestirne), mit denen jeder der drei großen Jenseitsgesänge, der Danteschen cantiche, endet, nicht adäquat, d.h. wirkmächtig in ungebeugter Form am Satzende belassend, zu übersetzen vermag und dabei, wie von einer Prosaübersetzung nicht anders zu erwarten, die unnachahmliche Lautgestalt der von Dante erfundenen Terzinenform dem als primär empfundenen Inhalt opfert.

Terzolis literaturwissenschaftlicher Essay zur „Commedia“, von Petra Kaiser aus dem Italienischen übersetzt, strotzt wiederum von zahlreichen Ungenauigkeiten, ja sogar von fehlerhaftem Nacherzählen: So besitzt Lucifer nicht drei, sondern 6 Flügel; so benutzt Dante im Inferno keine „harte, raue Sprache“, sondern bedauert im metanarrativen Sinne, über keine solche zu verfügen; so „verabschiedet“ sich die Figur Dante im irdischen Paradies des Purgatorio nicht von Vergil, sondern reagiert sichtlich geschockt auf dessen plötzliches Verschwinden; so erscheinen im Paradiso, aller interpretatorischen Vereinfachung zum Trotz, nicht alle Seelen „als leuchtende Punkte“, sondern werden, je weiter Dante und Beatrice durch die Sphären steigen, mit der fortschreitenden Abstraktion erst immer mehr dazu; so wird zu Beginn des Paradiso nicht „erneut“ Apoll angerufen, sondern erst jetzt, wo Dante in seinem der Hybris gleichenden Dichterstolz sich nicht mehr mit den Musen, selbst nicht mit der höchsten Muse der epischen Dichtung, der Philosophie und der Wissenschaft Kalliope zufrieden geben will, sondern sich, seinem Gegenstand gemäß, dazu berufen sieht, den Gott der Kunst selbst zu beschwören uvm. In einem fragwürdigen argumentativen Aufbau werden in Terzolis Essay zudem solche dem nicht sachkundigen Leser unbekannten Termini wie Empyreum ohne eine erklärende Erläuterung eingeführt und dabei zentrale Aspekte des Werkes, etwa dessen politische Dimension, oder Dantes Individualität im Ummünzen eines universellen in einen nicht zuletzt auch privaten Mythos, der sich über die kirchliche Deutungshoheit souverän hinwegsetzt, bestenfalls gestreift.

Schützes Einführung in die Bedeutung Dantes für die Bildende Kunst kann diese Mängel jedoch in vielfachem Maße aufwiegen und bietet nicht zuletzt dank der minutiösen Schilderung der Arbeitsweise Blakes, die im Bildkatalog durch unterschiedliche Arbeitsschritte veranschaulicht wird, eine sehr lohnende Lektüre.

Titelbild

William Blake: Die Zeichnungen zu Dantes "Göttlicher Komödie".
Herausgegeben von Sebastian Schütze und Maria Antonietta Terzoli.
Taschen Verlag, Köln 2014.
324 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-13: 9783836555135

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