Und der Berg ruft immer noch
Johann Georg Lughofers Sammelband widmet sich den Alpen in der deutschsprachigen Literatur von Albrecht von Haller bis zur neuen ‚vague alpine‘
Von Martina Kopf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn die Alpen rufen, ist Literatur nicht nur das Echo. Vielmehr sind es literarische Texte, die den Blick auf die Alpen erst lenken, die Berge rufen lassen, die Alpen nicht zuletzt konstruieren, um sie anschließend zu dekonstruieren. Dies klingt bereits im Titel des von Johann Georg Lughofer herausgegebenen Sammelbands über die Alpen in der deutschsprachigen Literatur an: Die Alpen werden nicht nur beschrieben, sie werden regelrecht erschrieben.
Auch fast 300 Jahre nach Albrecht von Hallers vielzitiertem Lehrgedicht Die Alpen, das zum „Prototyp der literarischen Alpensehnsucht“ (S. 39) wurde und als Meilenstein des literarischen Alpinismus gefeiert werden kann, scheint der europäische Gebirgszug als literarischer Schauplatz und als literarisches Motiv kaum an Wirkungsmacht eingebüßt zu haben. Alpen und Alpinismus spielen in der deutschsprachigen Literatur immer noch eine zentrale Rolle wie die in den letzten Jahren herausgebrachten Romane von Roman Graf, Norbert Gstrein, Robert Seethaler oder Vea Kaiser, um nur ein paar Beispiele zu nennen, bestätigen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends – so steht es auf dem Buchrücken des Sammelbands – lässt sich wahrhaftig eine neue vague alpine beobachten.
Allerdings werden die Alpen nicht nur in von Hallerscher Manier zu einem Ort der Kompensation stilisiert, vielmehr zeigen sie sich aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Dass es sich bei Alpen und Alpinismus nicht nur um ein dauerhaftes, sondern um ein ebenso reichhaltiges und facettenreiches Thema handelt, wird anhand der 25 Beiträge des Sammelbands deutlich: Von Hallers Alpen werden unter dem Aspekt der Klimatheorie (Heiko Ullrich) betrachtet oder zum Ausgangspunkt für einen Gegenentwurf (Christoph Deupmann). Als klassische Topoi erweisen sich die Selbstkonstitution am Berg (Maria Behre, Leonie Silber), Alpensymbolik (Michael Haase), das Erhabene (Elisabeth Häge) sowie der Entwurf als locus amoenus (Wolfgang Hackl) und als locus horribilis (Margit Oberhammer, Jessica Ortner, Barbara Siller). In den letzten Jahren scheint sich mit dem Alpenkrimi ein neues Genre etabliert zu haben (Ursula Klingenböck, Anna Katharina Knaup). Nicht zuletzt erweisen sich Geschlechterfragen am Berg anhand von Text und Film als besonders spannungsreich (Wibke Backhaus, Lena Eckert und Silke Martin).
Häufig wird das Gebirge zum Terrain heroischer Männlichkeit stilisiert. Wie Wibke Backhaus in ihrem Beitrag Die Gefahren der Alpen und die Faszination des Männerbunds. Geschlecht und Gemeinschaft in Tourenberichten des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf überzeugende Weise darlegt, machen Gefahren des Hochgebirges bestimmte (Männer)-Freundschaften erlebbar und fördern autonome Handlungsfähigkeit. Der Verzicht auf einen Bergführer gegen Ende des 19. Jahrhunderts ermöglichte autonome Zweier-Touren, die einen Neuentwurf alpinistischer Männlichkeit mit sich brachten. Der Führerlose avancierte zum Prototyp heroischer Männlichkeit. Damit sind auch wiederkehrende Symbole der Freundschaft am Berg wie Händedruck am Gipfel oder das Seil als Freundschaftsband verbunden. Tourenberichte wurden zum Legitimationsmedium dieser „Führerlosen“, so die Anleitung zum Bergsteigen von Emil Zsigmondy Die Gefahren der Alpen (1885) und die von Karl Schulz herausgegebene Aufsatzsammlung Im Hochgebirge (1889). Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die alpinistischen Repräsentationen sich als zunehmend anschlussfähig für völkische Gemeinschaftsvorstellungen erwiesen.
Dass Männlichkeit allerdings nicht als absolute Größe, sondern als „ein relatives Verhältnis von alter und neuer oder besserer und schlechterer Verkörperung von Maskulinität“ (S. 308) verstanden werden soll, betonen Lena Eckert und Silke Martin in ihrem Beitrag Das Verschwinden des Mannes in der Landschaft – Filmästhetische und gendertheoretische Spekulationen über die Bergsteigerlegende Reinhold Messner in Nanga Parbat (D 2010, Joseph Vilsmaier). Reinhold Messner gilt als Vorreiter einer neuen Bergsteigergeneration, der die Militarisierung des Bergsteigens und die damit verbundene Kampfrhetorik, die während des Ersten Weltkriegs mit den Bergen in Verbindung gebracht wurde und bis nach dem Zweiten Weltkrieg anhielt, überwand (vgl. dazu auch den Beitrag von Wolfgang Straub Über allen Glocknern. Zur Kulturgeschichte und Poetik der Gipfelräume, S. 117-118).
Auch in Arthur Schnitzlers Das weite Land (1911) zeigt sich der Berg für die männlichen Protagonisten als Ort der Selbsterhebung, aber auch als Fluchtpunkt. Michael Haase widmet sich dem symbolischen Gehalt der Alpen und erklärt das Erklimmen des Gipfels als „Sieg über die Gravitationskraft sozialer Bindungen, als Triumph über den drohenden Prozess des Alterns und als Beweis männlicher Potenz.“ (S. 184) Schnitzlers drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg entstandene Tragikomödie nimmt den Untergang einer Gesellschaft vorweg, „deren Streben nach ‚oben‘ zwangläufig zum ebenso abrupten wie tiefen Fall nach unten geführt hat.“ (S. 190)
Zur Projektionskulisse für Ideologien wird die Alpenlandschaft im deutschen Bergfilm der 1920er Jahre. Dieser wurde zwar als Dokumentar- bzw. Kulturfilm lanciert, blieb aber aufgrund von Pathos und inszenierter Berg- und Todesmystik für immer im Dunstkreis der NS-Ideologie (vgl. den Beitrag von Lena Christolova, S. 152). Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt sich in der deutschsprachigen Literatur die Tendenz, mit traditionellen und ideologischen Alpenentwürfen zu brechen. Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek antworten beispielsweise mit düsteren Alpenbildern auf alpine Idylle und Kitsch. Allerdings gibt es Autoren, die Strukturen und Ideen eines negativen Alpenbilds bereits vorwegnehmen. Ödön von Horváth, so hält Martin Vejvar fest, demaskiert die Alpen als bereits „literarisierte, medialisierte Phänomene“, als einen diskursiv besetzten Ort. Von Horváth „produziert weniger Texte über die Alpen, sondern Texte über die Rede über Alpen“ (S. 218). Ebenso werden die Alpen bei Joseph Roth zu „Manifestation und Herkunftsort des Bösen“ und zum „Brutort des Nationalismus“ (S. 192). Johann Georg Lughofer betont, dass für den Alpinismus-Gegner Roth die Berge allgemein als Stellvertreter des Unheilvollen fungieren (S. 199). In seinem Napoleon-Roman Die Hundert Tage (1936) bedient er sich einer negativen alpinen Metaphorik: Angelina Pietris Liebhaber wird zu einem „Berg“, der sie zu zermalmen scheint, oder er gleicht einer Lawine, die über ihr hineinbricht (S. 199-200).
Dass es sich beim literarischen Alpinismus häufig um ein intertextuelles Verfahren handelt, macht Margit Oberhammer in ihrem Beitrag zu den „Alpenstücken“ von Elfriede Jelinek und Klaus Händl deutlich. In ihrem Stück In den Alpen greift Jelinek auf den Text des promovierten Bergsteigerpoeten Leo Maduschkas Junger Mensch im Gebirg und Paul Celans Gespräch im Gebirg zurück, indem sie zitiert, verfremdet, fragmentiert und collagiert. Mit den Alpen ist ein Exklusionsverfahren verbunden: Für Juden wurden sie zu einem Ort des Ausschlusses. In Jelineks Theatertexten sind die Berge „Orte des Enthüllens und Verschweigens von traumatischen Ereignissen und Orte der Katastrophen“ (S. 232), denn Ausgangspunkt ist neben der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus eine alpine Katastrophe, nämlich der Brand in einem Tunnel der Gletscherbahn Kaprun, bei dem im Jahr 2000 155 Menschen starben. Indem Berge sich in „Leichenberge“ verwandeln, werden alpine Mythen fragwürdig und schließlich zerstört.
Im Südtiroler Literaturraum macht sich eine „Sehnsucht nach berglosen Landschaften“ (S. 285) bemerkbar. Barbara Siller untersucht den Berg als Dystopia anhand von zwei Prosatexten und Lyrik Südtiroler Autoren. In Josef Oberhollenzeners Großmuttermorgenland. Eine Erzählung aus den Bergen erscheint dem Erzähler die Bergwelt zu klein, er möchte aufbrechen und erfahren, was sich hinter den Bergen verbirgt. Der Berg wird für ihn zum „Projektionsort alles Verdrängten, die Überwindung des Berges bedeutet somit die Überwindung dieses Verdrängten.“ (S. 275) Bei einem Gang durch das Gebirge mit seiner Frau evoziert der Berg das, was im Protagonisten immer schon vorhanden und bisher lediglich verborgen war. Auch in Maria E. Brunners Roman Berge Meere Menschen wird das Leben am Berg zum Symbol für ein ungelebtes und ungewolltes Leben, das überwunden werden will. Die Berge werden personifiziert, ihnen wird Kühnhaftigkeit und Unverschämtheit vorgeworfen und sie etablieren sich zu einem Topos der Begrenzung, des Ausschlusses und des Verdeckens. Die Flucht der Protagonistin ans Meer, das zum Gegenmotiv des Berges wird, erweist sich allerdings als sinnlos, da sie vom Berg eingeholt wird, nämlich in Form einer inneren Landschaftserscheinung.
Bedeutet dies also das Ende der von Hallerschen Alpenidylle? Ursula Klingenböck hat bei ihrer Untersuchung zum Alpenkrimi eine kluge Beobachtung formuliert, die sich auch als Antwort auf diese Frage liest: „Zwar sind die Alpen eben nicht Schauplatz eines harmonischen Lebens im Einklang mit der Natur – und das ist nicht nur und nicht in erster Linie genrebedingt, doch wird ein kulturell konstruierter (Ideal)Entwurf der Alpen (wenn auch nur als Projektionsfläche) stets mitgeschrieben bzw. -gelesen.“ (S. 332) Von Hallers Alpen sind also nicht tot, doch scheint das Alpenbild im 20. und 21. Jahrhundert an Komplexität zu gewinnen.
Die Alpen zeigen sich in der Literatur des 20. und 21. Jahrhundert facettenreich und nicht zuletzt ambivalent. Neu ist das allerdings nicht, vielmehr folgen sie einer (literarischen) Tradition: Eine Dualität des Berges findet sich bereits in der Bibel, Augustinus hat in seiner Psalmenauslegung auf montes boni und montes mali hingewiesen, und zu einer weiteren Konfiguration des Spannungsfeldes zwischen Anziehung und Abstoßung des Bergs kommt es mit John Ruskins Begriffspaar „mountain gloom“ und „mountain glory“.
Dass die deutschsprachige Literatur dem Ruf des Berges folgt, aber ebenso Berge zum Rufen bringt, das demonstriert der vorliegende Band auf sehr überzeugende Weise. Dass dieser Ruf allerdings nicht nur im deutschsprachigen Raum zu hören und zu lesen ist, sondern auch in europäischer und außereuropäischer Literatur anklingt und natürlich auch aus anderen Gebirgen hallt, ist offensichtlich. Insofern kann man nur hoffen, dass dem vorliegenden Band ein zweiter Teil folgt, der sich dem ebenso unerschöpflichen Erschreiben der Berge in der Weltliteratur zuwendet.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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