Ich liebe Weimar

Warum die Stadt der Klassiker sich den Nazis in die Arme warf

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gab ab den 60ern die sogenannte "Väterliteratur", in der zumeist von politisch sensiblisierten Söhnen Anklage erhoben wurde gegen die Verstrickung ihrer Erzeuger in das nationalsozialistische Herrschaftssystem. Man mag sich an Bernward Vesper "Die Reise" erinnern oder passender noch an Christoph Meckels "Suchbild". Vor allem von des letzteren unerhört selbstgerechten, mitleidheischenden und unfairen Abkanzelung des toten Vaters unterscheidet sich Volker Mauersbergers Buch über "Hitler und Weimar". Vielleicht ist es aber auch erst heute möglich, in dieser intellektuellen und gleichzeitig persönlichen Weise die Auseinandersetzung zu führen, ohne sich zu einer Abrechnung hinreißen zu lassen. Es ist nicht nur der größere zeitliche Abstand, der hilfreich sein mag. Die gerade im letzten Jahr wegen ihrer Intensität kritisierte, jahrzehntelange öffentliche Diskussion nationalsozialistischer Politik, Gesellschaft und Verbrechen hat das Sprechen über die Zeit erleichtert. Es haben sich nicht nur die positiven Kenntnisse über den NS-Totalitarismus erweitert, den Völkermord und seine Ursachen, wodurch die Dämonisierungstendenzen der 40er bis frühen 60er Jahre abgelöst werden konnten, sondern durch die Dispute, Symposien, Fernseh-Features und Artikel-Serien hat sich im Laufe der Jahre ein Wortschatz angesammelt, durch den die Phänomene besprechbar geworden sind. Die damit einhergehende Gefahr der Phrase, unreflektierter oder automatisierter Sprache, wie sie kaum jemand konsequent vermeiden kann, der über diese Zeit schreibt oder spricht, fällt gegenüber dem Gewinn an Verbalisierungsmöglichkeit nicht so stark ins Gewicht.

Auf dem Ettersberg wurde Volker Mauersberger 1939 geboren. Seine Geburt beurkundet das Standesamt Weimar II, Buchenwald. Sein Vater gehörte als SS-Mann den Wachmannschaften des Konzentrationslagers an. Als Mauersberger 1988 Jorge Semprum kennenlernte, der als Häftling Buchenwald überlebt hatte, entstand die Idee zu diesem Buch. Es geht um die Fragen: Wie konnte ein junger Mann, der Vater Mauersbergers, der mit einundzwanzig Jahren in die SS eintrat, von einer Ideologie so hingerissen sein, daß er den Dienst im Konzentrationslager versah? Wodurch wurde der Nationalsozialismus für viele Bürger in Weimar nicht nur akzeptabel, sondern im höchsten Grade wünschenswert? In welchem gesellschaftlichen und geistigen Umfeld konnte die Stadt Goethes und Schillers und die der Weimarer Verfassung zu einer der Hochburgen der nationalsozialistischen Bewegung werden?

Damit geht der Autor weit über bloße "Väterliteratur" hinaus. Anstatt mit dem toten Vater abzurechnen, versucht Mauersberger, die bürgerliche Gesellschaft Weimars zu verstehen.

Die Überlegung, warum die Werte der humanistischen Klassik nicht gleichsam imprägnierten gegen die alles andere als bürgerlichen Verhaltensformen und Parteiziele der Nationalsozialisten, wird häufig angestellt. Kurz nach dem Krieg erschienen schon der programmatische Aufsatz von Andersch: "Schützt Humanismus denn vor gar nichts?" und natürlich Thomas Manns "Doktor Faustus" (1947). Das Neue an Mauersbergers Gedanken liegt darin, daß er seine Untersuchung grundiert mit persönlichen Bezügen und sich vornehmlich auf Weimar konzentriert.

Hier tagt 1919 die verfassungsgebende Versammlung (unter strengem Schutz von 4000 Polizisten und Soldaten) im Nationaltheater. An derselben Stelle hält Ex-General Ludendorff 1924 als verurteilter Putschist antirepublikanische, regierungsfeindliche Reden und verliest ein Grußtelegramm des noch einsitzenden Hochverräters Hitler. Weitere zwei Jahre später kann der schon, obwohl das Nationaltheater für politische Versammlungen gesperrt ist, hier, wo die Verfassung verabschiedet worden war, seinen ersten NSDAP-Parteitag in Freiheit abhalten und die SA gründen. An der Stelle Eberts sitzt nun Hitler. Wieder einige Jahre später kann sich der "Führer" in Weimar wie zu Hause fühlen und in den Stoßseufzer ausbrechen: "Ich liebe Weimar".

Mauersberger versucht zu erklären, welche Geisteshaltung in der Stadt, aber auch im Land Thüringen die Nationalsozialisten derart begünstigte, daß sie hier weit überdurchschnittliche Wahlergebnisse erzielen, hier die erste Regierungsbeteiligung und die erste eigene Regierung erkämpfen konnten. Die bürgerlichen Führungseliten, konstatiert er, hätten schon in der Kaiserzeit die Moderne abgelehnt, Harry Graf Kessler und Walter Gropius vertrieben. Nach Kriegsende und Revolution 1919 hätten sich in der thüringischen Provinz, mehr noch als anderswo, die Honoratioren gegen das Neue möglichst abgeschottet, sogar auf eine Wiederkehr der fürstlichen Herrschaft hingearbeitet oder zumindest darauf gehofft. Den Glanz des kaiserlichen, vor allem des fürstlichen Hofes, von dem viele gelebt hatten, der für viele beherrschender Gesprächsstoff gewesen war, konnte die bescheidene Amtsführung Eberts nicht ersetzen. Die Friedensbedingungen von Versailles, die die neue Regierung unterschreiben mußte, diskreditierte die vom Bürgertum als Parvenus verachtete neue Staatsführung und das ganze System vollends. So verschwand allzubald in Weimar der Stolz, Ort der Nationalversammlung gewesen zu sein. Antidemokratische verbanden sich hier sehr bald mit antisemitischen Tendenzen und dazu mit einer heftigen Abneigung gegen die Moderne in jeder Form. Das Bauhaus konnte sich nur wenige Jahre halten, weil das Bürgertum, das sich unter anderem in seiner Kunstkompetenz durch die ganz anderen Kunstformen gefährdet sah, die neue Pressefreiheit ausnutzte, durch starken Druck auf Stadt und Land der verhaßten "bolschewistischen Kunst" ledig zu werden. Bürger waren es denn auch, die Hitler und seinen Gefolgsleuten Zugang in ihre Kreise verschafften, weil man in der als noch etwas ungestüm und deshalb ungehobelt beurteilten Bewegung Positionen wiederfinden konnte, die man selbst vertrat: Nationalismus, Stolz auf deutsche Wehrkraft, Mißtrauen bis Haß gegen das Fremde, zumal die Juden. Deshalb koalierte man im Falle eines Falles lieber mit den staatsfeindlichen Braunen als mit der SPD, welche kommunistischer Politik geziehen wurde.

Als Juniorpartner ließen sich die Nationalsozialisten allerdings in Thüringen nicht behandeln - sie diktierten von ihrer ersten Regierungsbeteiligung an Bedingungen in unverfrorener Weise und hatten damit, teils zu ihrem eigenen Erstaunen, Erfolg bei den Bürgerlichen. Zweimal hatte Deutschland Gelegenheit, in Thüringen die Folgen nationalsozialistischer Regierungspolitik zu beobachten. 1930 und 1932 gab es schon Berufsverbote für Juden und Sozialdemokraten, Gesinnungsschnüffelei bei Lehrern, "Bildersturm" auf die Moderne, Film- und Literaturzensur gegen pazifistische oder linke Werke, öffentliche Schmähung der Demokratie und des Parlamentarismus im Landtag, Nebenexekutiven, Ämterschiebereien, Politisierung der Polizei, willkürliche Verhaftungen, Weigerung, Gesetze auszuführen etc.

Anerkennung in den bürgerlichen Kreisen verschafften den Nationalsozialisten vor allem Bürger: Adolf Bartels, der "Judenriecher" deutscher Literatur schon im Kaiserreich, trat zwar nicht der NSDAP bei, empfahl Hitler aber wärmstens weiter. Houston Stewart Chamberlain und Winnifred Wagner priesen Hitler als Deutschlands Retter. Elisabeth Förster-Nietzsche, die sich schon in Mussolini verguckt hatte ("die Stütze meines Alters"), verfiel auch Hitlers Charme, obwohl ihr die Sache mit den Juden, weil sie doch viele jüdische Freunde hatte, schon etwas mißhagte. Wie die bürgerlichen Parteien aber wollte auch sie den Antisemitismus als ein Durchgangsstadium sehen, das schnell vergehen werde.

Mauerbersgers Konzentration auf Weimar, auf die Bürger, entgeht zuweilen nicht den Klischees, und führt zu manchen (sprachlichen und historischen) Ungenauigkeiten, gewinnt aber andererseits genau darin sein besonderes Interesse. Zwar muß erstaunen, daß er, der seinen Vater besser verstehen, der den Stab nicht brechen will über ihn, immer wieder vom Weimarer Bürgertum verlangt, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die für die Zeitgenossen mitnichten in der Klarheit vor Augen standen, wie für uns heutige; doch Hoffnungen, Ängste und soziale Komplexe der so provinziellen und doch so überaus bedeutsamen Kleinstadt schärfen den Blick für die spezifisch bürgerliche Anfälligkeit für den Nationalsozialismus. Hitler verstand die Stadt wie die Region zu gewinnen, die von der Moderne wegen der geringen Industrialisierung und den wenigen größeren Städten kaum tangiert wurde, indem er ihre Ängste ernst nahm und wie ein Alleskönner Abhilfe versprach. Daß es einfache Lösungen waren, verstärkte seine Attraktivität nur noch. Seine Doppelstrategie aus Anpassung an bürgerliche Formen und Aufkündigung der republikanischen ging im fürstensehnsuchtsvollen Weimar vollständig auf.

Eine letztgültige Erklärung für das Phänomen des in Hitler verliebten Weimar will Mauersberger nicht geben. Ausgangspunkt und Endpunkt seines Buches sind biographische Bezüge zu der Stadt und zu dem dort wie nirgends sonst erlebbaren unauflöslichen Widerspruch zwischen deutscher Klassik und deutschen Konzentrationslagern. Bis in den Stil hinein gelingt es ihm, die so oft gestellten Fragen bedrängend und neu zu stellen. Und er wagt Antworten, die provozieren zu eigenem, weiteren Nachdenken.

Titelbild

Volker Mauersberger: Hitler in Weimar. Der Fall einer deutschen Kulturstadt.
Rowohlt Verlag, Berlin 1999.
340 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3871343404

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch