Nach dem Schleudertrauma

In einem Sammelband fragen Claudia Liebrand und Rainer J. Kaus nach dem Status quo der Interpretation

Von Stephanie BremerichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephanie Bremerich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kopfschmerzen, Benommenheit, Orientierungslosigkeit, Sprachstörungen und Gangunsicherheit gehören zu den häufigsten Symptomen eines Schleudertraumas. In medizinischen Fachkreisen auch als „Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule“ bezeichnet, entstehen Schleudertraumata meist bei heftigen Kollisionen (typischerweise Auffahrunfällen), die eine Überstreckung des Kopfes zur Folge haben. Lange Zeit wurden Betroffenen deshalb mit einer Halskrause zur Stabilisierung versorgt. Mit etwas Ruhe klingen die Beschwerden in den meisten Fällen schnell wieder ab. Nur selten führen sie zu Langzeitschäden.

Schleudertraumatisiert ist in gewisser Weise auch die Literaturwissenschaft: Vom interpretive turn über den performative turn bis zum narrative turn und reflexive turn; vom iconic turn und spatial turn über den mnemonic turn und postcolonial turn bis hin zum translational turn, material turn und philological turn ist in den Theoriedebatten der 1990er- und 2000er-Jahre mit einer Hochgeschwindigkeit gedreht und gewendet worden, dass einem schwindlig werden konnte. Ein Ende scheint dabei keineswegs in Sicht zu sein, wie in jüngerer Zeit die Diagnose eines ‚emotional turns‘ oder die Forderung nach einem ‚social turn‘ gezeigt haben.

Grund genug, einen Gang hinunterzuschalten und einen Moment innezuhalten, um die theoretische und methodologische Tragweite der einzelnen turns kritisch in den Blick zu nehmen. Genau das ist das erklärte Ziel von Claudia Liebrand und Rainer J. Kaus: „Interpretieren nach den ‚turns‘. Literaturtheoretische Revisionen“ lautet der Titel des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes. Das „Feuerwerk an Trends“ und die „Hatz“ der kleineren und größeren Wenden wollen sie im Hinblick auf die Interpretation, mithin das „Kerngeschäft der Literaturwissenschaft“, überprüfen. Ein bündiger Katalog an Leitfragen findet sich auf dem Klappentext: „Was heißt es für die Literaturwissenschaftler_innen, nach den ‚turns‘ der letzten Jahrzehnte Texte zu interpretieren und zu verstehen? Welche neuen Paradigmen haben sich nicht bereits verschlissen, sondern optimieren aus heutiger Sicht Verstehensprozesse? Und: Gibt es alte Paradigmen, deren Renaissance notwendig erscheint?“

Das klingt vielversprechend. In der Tat erscheint es sinnvoll, in Anbetracht der gegenwärtigen theoretischen Ausdifferenzierungen und des zunehmend wichtiger gewordenen Methodenpluralismus die Frage nach dem „State of the Art der Interpretation“ zu stellen. Dass auf knapp 240 Seiten und in zehn Beiträgen zuzüglich einer Einleitung nicht alle Drehungen und Wendungen Platz finden können, ist klar. Insofern ist der Titel ein wenig irreführend. Tatsächlich findet der Sammelband seinen Brennpunkt im so genannten cultural turn, unter dem freilich, mit Doris Bachmann-Medick gesprochen, die meisten der oben aufgelisteten theoretischen Vorstöße subsumiert werden können.

Dazu passt auch die Ausrichtung der ersten drei Beiträge. Mit Rückgriff auf die Diskursanalyse und den New Historicism rückt Franziska Schößler in ihrem Aufsatz „Konstellationen – Kulturwissenschaftliches Lesen“ die „Vernetzungsregeln“ in den Fokus, mit denen sich literarische Texte und Diskurse „zusammenlesen“ lassen, so dass eine Interpretation „jenseits von Autor und Werk“ möglich werde. Gerhard Neumanns schlicht „Kulturwissenschaften“ betitelter Beitrag stellt die Forderung nach einer „neu zu modellierenden Kulturwissenschaft“, die „für eine gleichfalls veränderte Hermeneutik literarischer Texte“ nutzbar zu machen sei, während sich Anja Gerigk in „Kultur am Text“ für den Begriff der ‚Denkfigur‘ einsetzt, um das Wechselverhältnis von Kultur und literarischem Text begrifflich fassbar und für eine theoriegeleitete Interpretation operabel zu machen.

Dass Neumann, Schößler und Gerigk unisono für eine kulturwissenschaftliche orientierte Literaturwissenschaft votieren, ist angesichts ihres jeweiligen Forschungsprofils wenig überraschend. Die heterogenen Folgebeiträge lassen sich mal mehr, mal weniger deutlich dieser Stoßrichtung zurechnen. Sie reichen von konkreten methodologischen Überlegungen – etwa Rainer J. Kaus’ Plädoyer für eine an Peter Szondi orientierte „literarische Hermeneutik“ oder Stefan Börnchens Ausführungen zur Differenzierung von Objekt- und Metasprache – über exemplarische Lektüren im Spannungsfeld von linguistic und translational turn – Esther Kilchmanns Überlegungen zu literarischer Mehrsprachigkeit – beziehungsweise im Spannungsfeld von material und philological turn –Thomas Wortmanns Relektüre der Handschriften von Annette von Droste-Hülshoff – bis hin zur Revision theoretischer Kontroversen (etwa Achim Geisenhanslükes Votum für den psychoanalytischen Zugriffs Jacques Lacans, den er mit Slavoj Žižek gegen Jacques Derrida verteidigt, sowie Claudia Liebrands Ausführungen zur Wende wissenschaftlicher Standards am Beispiel von Friedrich Kittlers Habilitationsverfahren).

Wie es sich bei Sammelbänden selten vermeiden lässt, variieren die Beiträge auch in puncto Zugänglichkeit und Anschlussfähigkeit. Einen kühnen, allerdings assoziativen und mitunter eklektisch anmutenden Versuch, zum „gleichsam archaischen Kern von Interpretation“ vorzustoßen und so einen den turns übergeordneten Blickwinkel einzunehmen, unternimmt Irmtraud Hnilica: Mit Rückgriff auf Roland Barthes, Niklas Luhmann, Eve Kosofsky Sedgwick, Hans Ulrich Gumbrecht und Marcel Mauss soll „Interpretation als Liebe“ theoriefähig gemacht werden, wobei der literarische Text als „Liebesgabe“ und die Interpretation als „Gegengabe“ konzipiert werden. Ob eine solche Intimisierung des Gegenstandes hilfreich bei der konkreten Interpretationspraxis ist, sei einmal dahingestellt. Das Fazit, zu dem Hnilica kommt, ist zumindest ebenso einleuchtend wie apodiktisch: „So ist und bleibt Literaturwissenschaft auch in Zukunft, was sie der alten Bezeichnung Philologie nach immer schon war: Liebe zum Text.“

Als instruktiv und fruchtbar können die Beiträge von Esther Kilchmann und Thomas Wortmann hervorgehoben werden, die praxis- und textnah Möglichkeiten für ein „Interpretieren nach den ‚turns‘“ aufzeigen. Esther Kilchmann widmet sich dem Phänomen literarischer Mehrsprachigkeit in der Gegenwartsliteratur, die sie als „explizite literarische Umsetzungen und Fortschreibungen von Literatur- und Kulturtheorie“ und somit als eigenständigen poetischen Beitrag zur Theoriedebatte in den Fokus rückt. Indem LyrikerInnen wie Yoko Tawada und Urs Allemann in ihren Gedichten ebenso eine babylonische Sprachenvielfalt inszenierten wie mittels komplexer Schriftbilder die Aufmerksamkeit auf das Sprachmaterial lenkten, lösten sie im Medium des literarischen Textes ein, was in der kulturwissenschaftlichen Übersetzungsforschung noch als Desiderat gilt, nämlich „die Brüchigkeiten und Differenzen in der Übersetzungsdynamik stärker als bisher zu beleuchten“.

Den Fokus auf das ‚Material‘, genauer: die Handschrift und die „Bildlichkeit der handschriftlichen Aufzeichnungen“, legt auch Thomas Wortmann. Am Beispiel von Annette von Droste-Hülshoffs vielfach überarbeitetem Manuskript zum „Geistlichen Jahr“ legt Wortmann überzeugend den Mehrwert einer kulturwissenschaftlich informierten Textkritik dar, die sich an der critique génétique orientiert. Statt als geschlossenes Werk rückt Wortmann Droste-Hülshoffs „Geistliches Jahr“ als „offen gehaltenes Schreibprojekt“ in den Fokus und stellt damit die kanonische Lesart als „konservativ-restauratives Projekt der Ordnungsstiftung“ infrage.

Insgesamt wird bei der Lektüre des Sammelbandes rasch klar, dass es nicht nur um genuin interpretationstheoretische Fragestellungen, sondern auch um ein Selbstverständigungsproblem geht, das seit Langem im Fachbereich schwelt und von Ansgar Nünning und Roy Sommer einmal auf die Formel ‚Literaturwissenschaft und/oder/als Kulturwissenschaft‘ gebracht worden ist. „Interpretieren nach den ‚turns‘“ lässt sich dabei durchaus als Plädoyer für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft verstehen, wie nicht zuletzt durch die prominente Stellung der programmatischen Texte von Neumann, Schößler und Gerigk deutlich wird.

Gewiss ist einer solchen Parteinahme aus guten Gründen (Revidierung des Kanons, Kontextorientierung, Interdisziplinarität und Interkulturalität) zuzustimmen, wie vor allem Franziska Schößler überzeugend darlegt. Bei aller Emphase wäre es dennoch wünschenswert gewesen, auch den cultural turn selbst kritisch in den Blick zu nehmen und auf Probleme hinzuweisen, die er bei der Interpretation aufwirft. Zu nennen ist hier vor allem die bis heute weitgehend ungeklärte Frage, wie (und ob) eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft mit sozialgeschichtlichen Ansätzen in Verbindung gebracht werden kann und in welches Verhältnis ‚Kultur‘, ‚Text‘ und ‚Gesellschaft‘ zueinander zu bringen sind.

Dass der Gegenstandsbereich einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft zudem weit ist und sich methodologisch kaum auf eine einheitliche Linie oder ein übergreifendes theoretisches Programm verpflichten lässt, wird im Sammelband immer wieder deutlich. Das macht einerseits seinen Reiz aus, führt aber andererseits auch zu neuen Kollisionen. Auffällig sind die Friktionen, die zwischen hermeneutischen Zugängen auf der einen und poststrukturalistischer Theoriebildung auf der anderen Seite bestehen bleiben; zu nennen ist außerdem die ganz unterschiedliche Bedeutung, die den literaturwissenschaftlichen Grundkategorien ‚Autor‘, ‚Leser‘ und ‚Text‘ in den verschiedenen Beiträgen beigemessen wird.

Ein bisschen Schwindel kommt also auch bei der Lektüre von „Interpretieren nach den ‚turns‘“ auf. Allerdings muss das nichts Schlechtes sein: Der Sammelband von Liebrand und Kaus überzeugt weniger durch einen roten Faden als vielmehr durch einzelne Schlaglichter, die erhellend sind und zum Weiterdenken anregen. Ein leichter theoretischer Taumel, so ließe sich abschließend festhalten, kann durchaus stimulierend sein und zum Dreh- und Angelpunkt für weitere Diskussionen werden.

Die Halskrause wird übrigens mittlerweile nicht mehr als Therapiemaßnahme bei Schleudertraumata eingesetzt; nicht nur, weil sie mit einer störenden Einschränkung des Sichtfeldes einhergeht, sondern auch, weil sich die Fixierung des Halses letztlich als kontraproduktiv für die Muskulatur erwiesen hat. Neuesten Erkenntnissen nach sollte der Kopf immer beweglich bleiben.

Titelbild

Claudia Liebrand / Rainer J. Kaus (Hg.): Interpretieren nach den „Turns“. Literaturtheoretische Revisionen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2014.
243 Seiten, 33,80 EUR.
ISBN-13: 9783837625141

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch