Durch’s wilde Afghanistan

Steffen Kopetzkys neuer Roman „Risiko“ belichtet die Schattenseiten der Weltgeschichte

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der deutschsprachige historische Roman wurde fast immer verpönt und gleichzeitig vom Lesepublikum verschlungen. Literarische Unterhaltung scheint für manche Kritiker geradezu eine intellektuelle Todsünde zu sein. Wenn man sich schon mit historischen Romanen beschäftigt, sollten die Autoren doch wenigstens tot sein. Dann lässt sich in gebotenem Abstand über die kulturgeschichtliche Bedeutung eines Walter Scott, Levin Schücking oder Felix Dahn räsonieren. Aber auch hier ist Vorsicht geboten. Letzterem haftet ja schon – wie den heute völlig vergessenen Verfassern der sogenannten Professoren-Romane des späten 19. Jahrhunderts – kaiserliche Glorie an. Kurzum: Der deutsche historische Roman hatte schon immer keinen leichten Stand bei der Kritik. So fühlt man sich bei manchen Besprechungen von Steffen Kopetzkys inhaltlich und sprachlich fulminantem Roman „Risiko“ selbst in eine Vergangenheit versetzt, deren fehlende Reflexion im Roman so mancher Rezensent bemängelt. Die haarspalterischen Argumente und ebenso selbstgefälligen wie abfälligen Verdikte haben sich hier offenbar auch seit 100 Jahren nicht gewandelt. Da ist von einer Deluxe-Version Karl Mays, von einem nicht über die Zeit des Ersten Weltkrieges hinausgehenden Nachdenken über das erzählte Menschenbild und von vielem mehr die Rede. Man fragt sich, wie die Kritik ausgefallen wäre, hätte Kopetzky sich erdreistet, auch noch historisch falsche Fakten einzubauen.

Man kann gewiss in den früheren Werken des Autors etliche Ansatzpunkte für Kritik suchen und auch finden: Angefangen beim abschweifenden postmodernen Erzählstil bis hin zum übertriebenen Spiel mit überkommenen literarischer Traditionen und Gattungen. Kopetzkys neuer Roman ist indessen ein Meisterwerk, das man nicht mehr aus der Hand legen kann. Das liegt zum einen an der ungemein prägnanten, stilistisch großartigen Sprache, mit der geschichtliche Ereignisse und Entwicklungen hier evoziert werden. Bilderreichtum und gedankliche Brillanz lassen die geschilderte Handlung, die Landschaften, Kulturen und Figuren plastisch vor das Auge des Lesers treten und wirken nicht konstruiert, nicht belehrend, sondern lebendig und nachvollziehbar. Auch narratologisch ist der Erzähler alles andere als ein Wiedergänger des 19. Jahrhunderts. Er ist weder langweilig noch langweilend, sondern besticht und überzeugt gerade durch Überraschungsmomente im Erzählen und der Vergegenwärtigung historischer Ereignisse aus der zweiten Reihe der Geschichtsschreibung, die aber immer wieder zum Spannungsaufbau beitragen und das Erzählte lebendig werden lassen. Durch den häufigen Einsatz interner Fokalisierung erfährt der Leser zudem vieles aus dem Seelenleben der Protagonisten. Freilich kann man die kulturgeschichtlichen Details über herausragende Weinjahrgänge oder denkwürdige Fußballspiele als überflüssigen Ballast abtun. Man verkennt dabei aber fährlässig und willentlich die Gesamtanlage und Struktur des Romans. Tatsächlich ist der Erzähler – bei allen Wissensvorteilen, die er innerfiktional gegenüber den Figuren hat – ganz deutlich als synchroner Erzähler konzipiert, der ohne Kenntnis des weiteren Geschichtsverlaufs erzählte historische Figuren wie Karl Dönitz oder Winston Churchill als Leutnant Dönitz und Erster Lord der englischen Admiralität Churchill bezeichnet. Daraus sollte man dem Autor aber keinen Vorwurf machen – im Gegenteil: Gerade durch diesen Erzähler, der nicht auch noch im Rückblick auf die Geschichte Wertungen formuliert, sondern sich auf die zeitgeschichtlichen Kontexte und Verhältnisse einlässt, bezieht der Roman seine enorme Sogkraft. Kopetzkys „Risiko“ gehört neben dem bereits im letzten Jahr erschienenen ‚Weltkriegsroman‘ „Das Sandkorn“ (2014) von Christoph Poschenrieder – zu dem es im Hinblick auf das exotische, abgelegene Thema und die Figurenkonstellation innerhalb einer Expedition vielfältige Parallelen gibt – zu den herausragenden fiktionalen Texten, die im Zusammenhang mit dem Gedenkjahr zum Ersten Weltkrieg erschienen sind.

Die Hauptfigur, der Funker Sebastian Stichnote, nimmt an der geheimen, von Oskar Niedermayer geplanten und in Zusammenarbeit mit dem bedeutenden Orientalisten, Archäologen und Diplomaten Max von Oppenheim durchgeführten Persien- und Afghanistan-Expedition teil. Kopetzky hält sich dabei penibel an die Quellen und die Chronologie der Ereignisse seit Juni 1914, ohne das Potenzial der Geschichte für die fiktionalen Handlungsstränge aufzugeben. Neben Stichnote finden sich zahlreiche, mindestens ebenso interessante wie unvergessliche Nebenfiguren wie etwa der Redakteur für die „Neue Zürcher Zeitung“, Zickler, der im Roman an unterschiedlichen Schauplätzen verschiedene Rollen einnimmt und als Berichterstatter die Kriegsgeschehnisse immer wieder vor Augen führt. Oder der zunächst als britischer Agent zur Expeditions-Truppe stoßende vermeintliche Prinz Gilbert-Khan, der sich später tatsächlich zum Islam bekehrt und schließlich die deutschen Ziele unterstützt. Diese bestehen darin, durch die Mobilisierung osmanischer Kräfte und durch die Unterstützung eines Heiligen Krieges die Osmanen zum Kampf gegen die Russen, Franzosen und vor allem Engländer zu bewegen. Geopolitisch von entscheidender Bedeutung hierfür ist die Destabilisierung von Britisch-Indien. Daneben erfährt der Leser ohne oberlehrerhaften Ton von der Konfliktlage in Mitteleuropa und der strategischen Bedeutung einzelner Orte sowohl in der der Ägäis als auch an der Adria. Das alles wird aber nicht um seiner selbst willen erzählt, sondern bildet den Hintergrund und Handlungsraum für die Haupt- und Nebenfiguren. Landschaften werden in ihrer historischen als auch atmosphärischen Dimension vermessen und politische Weltgeschichte konkretisiert, wenn etwa über das Erscheinen von Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“ gesprochen wird oder die französische Reaktion auf die deutsche Mobilmachung anhand eines zum Militär berufenen Mannes nachvollzogen und dargestellt wird, dessen Name erst später durch seinen Sohn Albert Camus in die Geschichte eingegangen ist. 

Die geheime Expedition, deren Beschreibung in hohem Maße auch Raum für literarische Motive und Traditionen der Abenteuer-Literatur bietet, ist für den Verlauf des Ersten Weltkrieges folgenlos geblieben. Im weiteren Kontext der Expedition agierende Männer wie etwa Karl Dönitz, Winston Churchill oder Halford Mackinder werden allerdings wenige Jahre später erneut eine zentrale Rolle im Zweiten Weltkrieg spielen. Gerade durch die sorgfältig recherchierten historischen Details und Zusammenhänge erhält der Roman auch einen doppelten Boden, indem dadurch ein Nebenschauplatz des Weltkrieges ernst genommen wird und als exemplarisch für das Kriegsgeschehen gedeutet werden kann: Die missglückte Expedition symbolisiert in ihrer zwar generalstabsmäßig geplanten Wirkungsabsicht und Strategie die Sinnlosigkeit des Krieges und der Machtspiele in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Titelbild

Steffen Kopetzky: Risiko. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015.
730 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783608939910

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