Erzählungen höherer Ordnung

Roman Ehrlich beweist in seinem Erzählband „Urwaldgäste“, dass er sein Handwerk gelernt hat

Von Romy TraeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Romy Traeber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Roman Ehrlichs Erzählband Urwaldgäste tut, was gute Literatur zu ebensolcher macht – er beschreibt das ästhetische Programm des Textes selbst:

Sie erinnert sich, in einem Seminar einmal gesagt zu haben, dass sie am Anfang, wenn sie zu malen beginne, oft noch gar nicht so genau wisse, was am Ende herauskommen werde, und dass es nicht zuletzt das Format sei, ganz am Anfang weiß und erwartungsvoll vor ihr aufgestellt, das dann den Inhalt für sich einfordere.

Dieser Satz findet sich in der zweiten Erzählung „Die melancholische Macht“, welche die Geschichte einer namenlosen Malerin schildert, die von Streiflichtern aus dem Berufsalltag eines ebenso namenlosen Schauspielers durchzogen ist.

Gleich der Auftakt „Dinge, die sich im Rahmen meiner temporären Anstellung bei der Grinello Clean Solutions ereigneten“ erfordert höchste (Lese-)Konzentration, denn präsentiert werden neben einem hochkomplexen Titel eine ebenso vertrackte Narration, die in Sätzen wie „Ich hörte Schritte auf dem Flur vor der Bürotür, während mir die Person erzählte, der Mann habe ihr durchs Autofenster berichtet, dass der junge Mensch seinen Kopf gehoben und gesagt habe: Ich bin froh, dass Sie mir das erzählt haben“ kulminieren und damit das Luhmannʼsche Prinzip der Beobachtung höherer Ordnung erzählerisch verarbeitet.

Jede der zehn Geschichten ist eine in sich geschlossene Welt, doch existieren diese Welten nicht unabhängig voneinander. Sie sind verbunden durch Motive, die immer wieder auftauchen und die von einer übergeordneten Auseinandersetzung zwischen den Konzepten von Kunst und Künstlichkeit zusammengehalten werden. Immer wieder geht es um den Gegensatz von intuitiver Kreation, wie sie die Malerin verkörpert, und der inszenierten Kunst, wie sie in derselben Geschichte am Beispiel eines Schauspielers durchexerziert wird. Gespickt ist das Ganze mit großartigen Gegenwartsbeobachtungen: Geschildert wird beispielsweise ein Student, bei dem die Malerin das Gefühl bekommt, „als suche er absichtlich umständlich auf seinem Computer nach dem Abspielprogramm, damit sich die anderen noch möglichst lange das auf die Leinwand projizierte Hintergrundbild seiner Benutzeroberfläche ansehen können“.

Und dann ist da auch noch die kuriose background story dieser Malerin: Deren Lehrer-Vater erleidet in der Schule einen Herzinfarkt, den er überlebt. Dieses Ereignis schafft es schließlich als Beitrag in die Fernsehserie „110: Notretter im Einsatz“, wo Familie und Kollegen sich selbst spielen, nur der Vater wird durch einen Schauspieler ersetzt. Zwei Jahre später springt dann der kleine Bruder der Malerin in einem Familienurlaub kopfüber eine Treppe herab, weil er glaubt, er könne in einer akrobatischen Höchstleistung das an der Decke verlaufende Wasserrohr greifen und auf diese Weise unproblematisch unten ankommen. Einen Arm-, Schlüsselbein- und Rippenbruch später erklärt die Schwester den wütenden Eltern, „der kleine Bruder habe beim Lesen eines Comicbuches herausgefunden, dass es sich beim Superhelden Batman lediglich um einen maskierten, jedoch absolut sterblichen und einfach nur sehr mutigen Menschen handle“ und er folglich „zu der Überzeugung gelangt[e], jeder Sterbliche könnte durch das richtige Training zu einem vergleichbar leichtfüßigen Superhelden werden.“ Auch dies sind natürlich Abhandlungen über Inszenierung und Realität und vor allem über die Grenzen dieser Konzepte, die bisweilen fließend sind.

Ähnlich verhält es sich mit der umfangsreichsten Geschichte „Die Intelligenz der Pflanzen“, die deutlich sichtbar das Zentrum des Bandes bildet und damit eine gewisse Symmetrie in das Inhaltsverzeichnis bringt. Ganz anders dann aber der Inhalt: Arne Heim, ein Biologe mit Ambitionen in Richtung Kulturarbeit, verdient seinen Lebensunterhalt bei einem Unternehmen, das Kunstpflanzen herstellt. Sein „Aufgabengebiet im Unternehmen erstreckt sich über die frühen Fertigungsprozesse, die Überwachung, Entwicklung und Gestaltung der Abgussvorlagen, Stanzen und Pressen, die Farbwertberechnung, Abmischen, das Erstellen von gerasterten Digitalvorlagen, die Absegnung der Produkte für die serielle Fertigung, bis zum Kontakt mit den Großhändlern und Endabnehmern“. Aus Neugier, wie lange es wohl dauert, bis seine Kollegen es herausgefunden haben, hält er sich einen Pfeilwurz auf seinem Schreibtisch, „das Echte im Hoheitsgebiet der Nachbildungen“. Auch hier ist sie also wieder, die Auseinandersetzung zwischen Inszeniertem und Realem. Und so verwundert der Fortgang der Geschichte kaum, in der Arne Heym eine dubiosen Firma damit beauftragt, ein real life-Abenteuer als Gegensatz zu seinem mäßig spannenden Leben zu inszenieren – ein Entschluss, den er bald bereut, als er nach einer fragwürdigen Blinddarmoperation und einem toten Familienmitglied in einen Kunstfälscherskandal stolpert.

Dass selbst in komödiantisch anmutenden, anektdotenartigen Geschichten noch kritisches Potenzial steckt, beweist „Die Seekuh Tiffany“. Selbige spuckt eines Tages ein Kinderkassettenradio mitsamt Kassette aus, die eine 90-minütige Aufnahme leisen Scharrens enthält. Daraus will ein Journalist des lokalen Radiosenders eine ganz große Story machen, versteigt sich in seiner Begeisterung aber so sehr, dass er die Bedeutung des Ereignisses zur Passionsgeschichte hochstilisiert. Am Ende wird es keinen Radiobeitrag geben, weil dem Radiojournalisten die Aussage des befragten Zoologen, der gehofft hatte, ihm möge die Nachricht den „Weg hin zu der Liebe, die ich ja seit einiger Zeit vergeblich suche“, weisen, dann doch zu beschämend war.

So funktionieren also Medien, möchte man denken. So funktioniert die Welt, antwortet der Text. Alle Charaktere haben Schwierigkeiten, sich in ihrem Umfeld zurechtzufinden, sind daher einsam und selbst in der Gruppe weitestgehend allein. Die Erzählungen buchstabieren diese Einsamkeitsmotivik aus, bis hin zum Mann, der sich seine Pornos in der Videothek ausleiht, weil er menschlichen Kontakt sucht. All das sind Gegenwartsbefunde, die deutlich spiegeln, in welcher Art von Gesellschaft wir leben: Eine, die ebenso zersplittert, hochkomplex und unverständlich ist, wie die abgebildeten und beschriebenen Fraktale in der Geschichte „Die Seekuh Tiffany“. Die Menschen darin werden zu ziel- und ratlosen Objekten, die durch den Urwald des Lebens stolpern, und wie die Charaktere des Erzählbands lässt uns das zwangsläufig verwirrt zurück. Der Urwald, der wie nichts anderes ein Chaos der Natur abbildet, wird zur Metapher unserer Gegenwart und macht den Leser – wie das Figurenensemble – zu Urwaldgästen.

Titelbild

Roman Ehrlich: Urwaldgäste. Erzählungen.
DuMont Buchverlag, Köln 2014.
272 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783832197537

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch