Christoph Meckels bildkünstlerisches und literarisches Werk

Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Die Bilder, die Bücher, die Bilderbücher“ zum 80. Geburtstag des Dichters und Graphikers

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Meine Damen und Herren: Die Bilder, die Bücher und die Bilderbücher von Christoph Meckel begleiten mich nun seit 56 Jahren. Damals, 1959, war gerade der Gedichtband Nebelhörner erschienen, über den ich eine meiner ersten Rezensionen schrieb. Zu meinem Erstaunen erhielt ich daraufhin einen Brief des Autors, und schnell entwickelte sich eine Korrespondenz, die über die Jahre und Jahrzehnte alle Ortswechsel und andere Wechselfälle überlebt hat. Bald kamen zu den Gedichten die Bilder hinzu, vor allem der poetische Moël, und von meinem ersten Gehalt als wissenschaftlicher Mitarbeiter in München erwarb ich in der Münchner Neuen Galerie von Richard Hiepe das erste Blatt meiner Meckel-Sammlung: Moëls Zusammenbruch. Die Gedichte und die Graphiken – eins war für mich sofort klar: Hier begegnete ich einem einzigartigen, großen, bedeutenden Künstler, einer Ausnahmeerscheinung in jeder Hinsicht. Meine Faszination hielt an. Mit jedem neuen Buch und mit jedem neuen Bild überraschte und begeisterte mich Christoph Meckel aufs Neue. Ich bin inzwischen ein wenig vertraut mit seinen Werken, aber sie sind mir zugleich auf hinreißende Art rätselhaft geblieben. So ist es wohl mit dem, was man liebt.

Erwarten Sie nun bitte keine weiteren Liebeserklärungen von mir, keine Bekenntnisse und keine Beteuerungen. Ich möchte Sie, meine Damen und Herren, auch mithilfe von Selbstäußerungen Meckels, zu nichts anderem verleiten als zum Hinsehen auf das künstlerische Werk von Christoph Meckel, das Paul Ege, der unermüdliche Sammler, Freund, Mäzen und Initiator des Kunstraums Alexander Bürkle hier präsentiert, zusammen mit Helga Ege, die eine ebenso begeisterte Meckel-Verehrerin ist wie ihr Mann. Ich spreche ausdrücklich von Meckels „künstlerischem Werk“; denn es gibt Bilder hier zu sehen und Bücher, Bilderbücher und Manuskriptbilder, Hervorbringungen eines Dichters und eines Bildenden Künstlers. Meckel ist, als Schriftsteller und als Zeichner, im genauen Wortsinn immer ein „bildender Künstler“, er ist jemand, der Kunstfiguren bildet, mit Gedichten ebenso wie mit Radierungen, mit Romanen und Geschichten ebenso wie mit Buntstiftzeichnungen und Holzschnitten. Künstler, die das alles können, bezeichnet man gern als „Doppelbegabungen“ – ein von Meckel ungeliebter und in der Tat fragwürdiger Begriff, weil er uneingeschränkt selbständige Tätigkeiten in den verschiedenen Künsten auf den Status einer bloßen Begabung reduziert, gleichgültig, ob man auf diese Weise dem Dichter damit eine Begabung auch für die Bildende Kunst oder dem Bildenden Künstler eine Begabung auch für die Literatur bescheinigt. Das mag, wenn man an Autoren der Gegenwart denkt, etwa an Peter Rühmkorf , an Sarah Kirsch oder an Günter Kunert, seine Richtigkeit haben; sie alle haben ihre Meriten, sie haben auch als Zeichner oder Collagisten ihre eigene Handschrift, an der man seine überraschte Freude haben kann: „Sieh an, das kann er (oder sie) auch!“ Bei Christoph Meckel verhält sich das ganz anders. Sein bildkünstlerisches und sein literarisches Werk stehen völlig gleichberechtigt und eigenständig nebeneinander, und zwar von Anfang an und dann kontinuierlich bis in die jüngste Zeit. Er habe zwei Berufe und zwei Biographien, hat Meckel oft gesagt, und daraus sind zwei in der Summe bewunderungswürdige Lebenswerke entstanden, die beide längst ihre Lebens- und Überlebensqualität bewiesen haben. „Mein literarischer Freund und Gegenspieler“ – so hat er sein Alter Ego gelegentlich genannt. „Ich bin Zeichner und Grafiker und Schriftsteller. Diese beiden Berufe sind völlig verschieden, vor allem in ihrer Handwerklichkeit. Der Zeichner und Grafiker hat das große Glück, wirklich ein Handwerk zu haben. Ich bin Meister, und das ist keine Übertreibung, das muß man sein. […] Ich bin Meister in der Radierung“. Das klingt sehr selbstbewusst. Völlig zu Recht. Denn es gibt nur ganz wenige Meister in der Geschichte der Radierung, mit denen Christoph Meckel im Hinblick auf den Umfang und die Qualität seiner graphischen Arbeiten zu vergleichen ist. Er nennt und kennt sie alle genau: Goya und Masareel, Carpaccio, Callot, Hogarth, Daumier, Beckmann und Dix. In diese illustre Reihe gehört Meckel, und in der Gegenwart steht er einzigartig da. Die Arbeit des Radierens und die dabei erforderlichen Werkzeuge und Materialien hat Meckel mehrfach, zum Beispiel im Vorwort zu seinem Zyklus Limbo, den Sie hier vollständig sehen können, detailliert beschrieben.

Die Ausstellung zeigt Exponate aus beiden Berufstätigkeiten Meckels: Wer sie anschaut, wird bald bemerken: Hier ist in jedem Werk, im kleinsten Federstrich, ein Künstler ganz und gar anwesend. Er hat nicht nur, wie viele seiner Kollegen, seinen eigenen Stil oder seine Manier. Was immer er aufgreift, wird zur ihm ganz und gar eigenen persönlichen Kunst. Jeder Buchumschlag, den er mit eigenen Grafiken geschmückt hat, jedes Plakat und jede Einladung zu einer Lesung, die er gestaltet, jede handschriftliche Niederschrift eines Gedichts, ja sogar jeder Briefumschlag, den er mit einer Adresse versieht, wird unter seinen Händen unvermittelt zu einem Kunststück. Es ist seine produktive Künstlernatur, die sich da jederzeit äußert.

Dennoch kommt Meckel unbegreiflicherweise in der professionellen Kunstwissenschaft kaum vor. „In der Bildenden Kunst war für mich kein Stehplatz frei“, schreibt er, „mein Bild existierte nicht in diesem Haus. Der Kunsthandel gähnte, der Kritiker war nicht da. Ich begriff mein Nichtvorhandensein als Chance – der Weiße Rabe bewegt sich vogelfrei. Ich ahnte, dass hier ein Glück zu gestalten war, denn ich kannte die Öffentlichkeit aus der Literatur“. Ein tiefes Misstrauen gegenüber dem kommerziellen Kunst- und Literaturbetrieb, gegen Gruppeninteressen und Beziehungskartelle drückt sich da aus. In seinem Gedicht Zur Geschichte der Kunst stellt Meckel einer nur noch marktorientierten Kunst eine verheerende Prognose. Und trotzdem hat die Klage nicht das letzte Wort. Am Ende bekennt sich Meckel trotzig zu dem eigenen, unabhängigen Kunstwerk, dessen Schärfe zugleich seine Seele ist. Ich lese Ihnen das Gedicht Zur Geschichte der Kunst vor, dem als Motto eine Inschrift des Malers Lucas Moser auf dem Magdalenenaltar in der Magdalenenkirche in Tiefenbronn aus dem Jahre 1431 vorangestellt ist. Die Inschrift lautet „schri, kunst, schri und klag dich ser. / dein begert itzt niemen mer“, das heißt: „Schreie, Kunst, schreie und beklage dich sehr. Nach dir verlangt heutzutage niemand mehr!“ Hier das Gedicht:

Zur Geschichte der Kunst

Die Kunstgeschichte der Zukunft wird
ein Geschäftsbericht sein.
Klassiker vieler Zeiten, gesicherte Werte
Goya, Daumier, George Grosz
Hommes singuliers (Baudelaire)
werden gehandelt zu steigendem Preis.
Kleine Meister bleiben im Depot,
Daten und Titel im Katalog.

Das Grundverzeichnis ist außer Kraft,
doch geht kein Werk & Stil ad acta
solang es zu Geld gemacht werden kann.
In übergreifenden Verfahren
außer Konkurrenz von Vision und Wahrheit
wird ein neuer Name von Rekorden erhellt,
durch Umsatz unschlagbar.

Drucke und Fotos sind Kiloware im Vorraum,
Portobello, Boulevard.
Die Zinkplatte hat noch Metallwert, Handgeld
für Antiquare, Privatköpfe, Klempner.
Bronze wird eingeschmolzen zu fallendem Preis,
der behauene Stein verschwindet im Tiefbau.

Das in Zukunft Geschaffne verfällt
im Vakuum – ein geisterhafter Raum
voll von Bildern ohne Handelswert
ohne Aussicht auf Präsenz, Kritik, Kontroverse,
Namen ohne Anschein, Glorie, Schall
beglaubigt durch sich selbst, private Tresore
gefüllt mit Bildern, die keiner sah,
Stiftung nicht erwünscht, vielleicht verwendbar
als Geschenk oder Tauschwert – unbekannt
wie die Säule im Meer seit 900 Jahren.

Kein Grund zur Klage.  In diesem Raum
entsteht, ohne Sponsor
das unerhörte Motiv
aus Folie, Dreck, Papier – kann sein
ein zerfetztes Gesicht
mit dem Titel Seele des Messers.

Dem pervertierten Kunstbetrieb, den er hier beschreibt, stellte Meckel den nicht weniger lädierten Literaturbetrieb gegenüber in seinem Buch Die Balladen des Thomas Balkan: „Unter dem Namen Thomas Balkan schickte ich die hier gesammelten Balladen an rund zwanzig deutsche Verlage und literarische Zeitschriften, sie wurden abgelehnt. Ich versuchte es etwa zwei Jahre lang, kein einziges Gedicht wurde angenommen (…) Ich habe mich nun entschlossen, die Gedichte unter meinem Namen (…) zu veröffentlichen, und zwar in einem Verlag, der erst vor kurzem zu publizieren begonnen hat; ein junger Verleger; Einmann-Betrieb. (…) Ich publiziere die Gedichte, (…) weil ich aufmerksam machen möchte auf eine Schwierigkeit, der, wie ich sicher weiß, fast alle jungen, namenlosen oder nicht etablierten, am literarischen Gesellschaftsspiel nicht teilnehmenden Lyriker und Schriftsteller unterworfen sind: eben ihre Namenlosigkeit; oder ihre Weigerung, Maßstäbe anzuerkennen, auf die man sich geeinigt hat. Ich veröffentliche diese Gedichte, weil mich die ungeheure Hybris empört, mit der Herausgeber, Redakteure, Verleger usf. die literarische Landschaft — oft zur Mode hin – bestimmen, mit der stereotyp wiederholten Begründung, die literarischen Institutionen, Redaktionen usf. würden nach ‚Talenten’ suchen und sofort zugreifen, wo sich eine Spur davon, ein Versprechen, fände. Thomas Balkan beweist das Gegenteil. (…) Ich weiß, daß diese Zeit eine schlechte Zeit für Lyrik ist und daß der Namenlose einpacken kann, wenn er keine Beziehungen hat“.

Seither liebt Meckel die Kleinverleger, die Handpressendrucker, die wagemutigen Entdecker, die Bücher und Drucke abseits des Literaturbetriebs in kleinen und kleinsten Auflagen herstellen und vertreiben. Es ist die Sympathie mit den Außenseitern und ihrer Begeisterung für die Texte und Bilder, die ihn immer wieder zur Zusammenarbeit mit diesen Unentwegten verlockt hat. Kein Autor in Deutschland hat seine Bücher bei so vielen kleinen Verlagen publiziert wie Christoph Meckel. Wenigstens einige Namen dieser Sympathisanten sollen hier genannt werden. V.O. Stomps gehört natürlich und in erster Linie dazu mit der Eremitenpresse und Wilhelm Unverhau, Katharina Wagenbach mit der Friedenauer Presse, die Freiburger Syrinx-Presse, der Literarische Verlag von Helmut Braun in Leverkusen, die Berliner Verlage Anabis und Oberbaum, Ulrich Keichers Verlag in Warmbronn, die Stuttgarter Edition Tertium, die Hertenstein-Presse in Pforzheim, die Neue Cranach-Presse von Ingo Cesaro in Kronach und Thomas Reches Verlag in Passau, auch der Waldgut Verlag in Frauenfeld und der Libelle Verlag in Konstanz. Viele Bücher dieser und anderer Verleger Meckels können Sie in dieser Ausstellung sehen: Ein vielfältiges buntes Bild, ein ideales Eldorado für Sammler und Bibliophile. Es sind die allergrößten Raritäten darunter, riesige Formate und winzige geklammerte Heftchen, kleine und kleinste Auflagen, nummerierte und signierte Vorzugsausgaben mit beigelegten Originalradierungen – alles heute kaum mehr erreichbar. Unter diesen Umständen ist es ein großes Glück für den Künstler Meckel ebenso wie für seine Leser und Freunde seiner Kunst, dass in letzter Zeit sowohl seine gesamte Druckgrafik als auch seine gesammelten Gedichte erschienen und damit wieder greifbar sind. Das zweibändige Werkverzeichnis der Druckgrafik aus dem Freiburger modo-Verlag bringt Abbildungen aller etwa 2000 Blätter; es ist zu Recht als „verlegerische Meisterleistung“ gewürdigt worden. Dieses Prädikat verdient auch die gerade erschienene, fast 1000 Seiten umfassende Sammlung der Gedichte Meckels, geschmackvoll gestaltet und in einem handlichen Band mustergültig herausgegeben von Wolfgang Matz im Hanser-Verlag. Bei Hanser hat Meckel seit den frühen achtziger Jahren dank der Treue und Geduld des Freundes Michael Krüger eine verlegerische Heimat für sein literarisches Werk gefunden.

Als er seine frühen Gedichte schrieb, 1957/58, hat Meckel auch den Moël radiert. Moël ist die erste seiner zahlreichen Kunstfiguren, mit denen er fortan seine Welt bestückte. Wer diesem Moël einmal begegnet ist, wird ihn nicht mehr vergessen: Zusammen mit seinem Fisch im Arm geht er durch die Welt; nie sieht man sein Gesicht, das ein breitrandiger Hut verdeckt, aber man sieht, was er empfindet, erleidet und erfährt, an den Tränen und der Freude des Fisches. Einmal, als die beiden an einer Richtstätte vorbeikommen, hält Moël seinem Fisch die Augen zu; er soll die Leichen nicht sehen, die sich da anhäufen und er soll nicht sehen, was da am Galgen hängt: Es ist die Natur in Gestalt eines Baumes und die Kultur, dargestellt als Säule eines antiken Tempels. Am Ende dieser Bildergeschichte ist der Fisch verschwunden. Moël, der von seinem Fisch nur noch träumen kann, muss ein neues Leben beginnen. Der parabelhafte Sinn dieser Geschichte ist unverkennbar: Moël darf nicht sterben. Es muss einen Neuanfang geben, auch nach dem Untergang. Das gilt auch für viele der poetischen Texte Meckels, beispielsweise für die Geschichte der beiden Jungen Mick und Sauly (Bockshorn), die auf der Suche nach ihrem Schutzengel durch die moderne Welt vagabundieren.

Auf Moël folgten viele weitere Radierzyklen, die Meckel von Anfang an zu dem Lebens-Werk einer Weltkomödie zusammengeschlossen hat. Seit 1957 und bis zum Jahr 2004 hat er daran gearbeitet. „WELTKOMÖDIE ist ein gigantischer Begriff“, gefunden von einem Zwanzigjährigen, bezweifelt und bestätigt mit den Jahren, beibehalten und beglaubigt schließlich.

Meckel hat dieses Projekt 2004 beendet, aber nicht abgeschlossen. Zu der Weltkomödie gehören die in Büchern publizierten Zyklen Moël, Der Turm, Das Meer, Anabasis, Der Strom, Passage, Limbo. Noch nicht in Buchform publiziert sind die Radier-Zyklen Die Argonauten, O Babylon, Arc de Triomphe, Die Gaukler kommen, Who is who and what is what sowie die Bilder für Clarisse. Zum Gesamtprojekt der Weltkomödie zählt Meckel darüber hinaus kleinere, meist etwa 10 Blätter umfassende Serien, die zum Teil auch publiziert worden sind wie Die Savannen, Ikarus und Jemel, sowie viele Triptychen, Diptychen, Zeichnungen und Holzschnitte. Das bildnerische Werk Christoph Meckels umfasst außerdem zahlreiche Illustrationen, meist ebenfalls Radierungen, beispielsweise zu Brechts Hauspostille, zu Voltaires Candide, zu Christa Reinigs Ballade vom blutigen Bomme, zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, zu den Rechten der Kinder, zu Poetischen Grabschriften; dazu Zeichnungen mit Bleistift, Buntstift, Farbkreide und Tinte, Bilderbücher, farbige Serien, Glückwünschungen, Widmungen, Bilderbriefe, Manuskriptbilder, Lebenszeichen und vieles mehr.

Über die Themen seiner Weltkomödie hat Christoph Meckel gesagt: „Nach den ersten beiden Zyklen stand fest, daß das Unternehmen Jahrzehnte beanspruchen würde. – Die Zyklen zeigen mit wechselnden Schauplätzen und Figuren, in jeweils anderen Handlungen und Epochen, die immer gleiche epische Bewegung: Züge von Horden, Mannschaften, Konquistadoren; Fluchtwege, Kämpfe und Eroberungen; Vorgeschichte, Geschichte und Gegenwart; Vergangenheit, Zukunft, Legende und Utopie; Macht, Ohnmacht, Verbrechen, Revolte, Gelächter und Traum. Bestimmte Motive erscheinen in allen Zyklen (Figuren, Szenen, Geräte und Lebewesen), andere erscheinen und verschwinden wieder. Es ist die Erzählung vom Menschen in Raum und Zeit. Das ist der Hinweis, den der Zeichner geben kann, ohne in seine Bilder einzugreifen.“ Und an anderer Stelle umreißt Meckel seine Themen so: „Ich zeichne den Himmel des zwanzigsten Jahrhunderts. Er ist ein zerstörter Raum, ein technischer Limbo, Schauplatz von Macht und Zerstörung aller Art, Kloake des Erdballs. Abgas, Giftwolke, Schliere und Qualm. Rakete, Flugkörper, Bombe und Explosion. Aber die Weite und der große Wind, Weltlicht, worin meine Jugend für immer reich war. Raumjubel, Licht, Revolte des Lebensgefühls.“

Was nun die Figurenwelt in Meckels Werk angeht, so hat er 2005 bekannt: „Meine liebsten Figuren in Literatur und Kunst sind Komödianten und Gaukelburschen aller Art. Sie sind Kunstfiguren, sie haben etwas an sich, sagt der König im Märchen, und läßt sie laufen. Mir hätte genügt, eine Kunstfigur in der Welt zu sein, aber ich wurde geboren, das sieht mir ähnlich, ich kann daran nichts ändern. Zwanzig Jahre später entdeckte ich, daß es mir möglich war, solche Kunstfiguren zu schreiben und zu zeichnen, durch meine beiden Handwerke lebendig zu machen. Was immer mir mißlang und weiter mißlingt, die Kunstfiguren sind davon ausgenommen. Ihre Namen sind da, wenn die Arbeit begonnen wird, ich habe nicht eine benannt, und keine nachträglich aus der Taufe gehoben. Ihre Namen lauten: Bobosch – Trillnas – Halblang – Jul Miller – Stiefbein – Top & Flop – Balsam der Spieler – Clarisse und Moël.“

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Ergebnisse der beiden Berufstätigkeiten, die Meckel ausübt, sind, bei allen handwerklichen Unterschieden, durch eine gemeinsame Kunstpraxis und Poetik miteinander verbunden. Seine Weltkomödie konnte er nur zeichnen, weil er als Grafiker zugleich Poet ist: Lyriker und Erzähler; und weil er als Poet zugleich Bildender Künstler ist: Er sagt selbst: „Es kam von Anfang an darauf an, einen epischen Stil des Zeichnens und Radierens zu schaffen, zu variieren und zu erneuern, mit dem sich alles fassen läßt, die realen und die spirituellen Motive, jeder Gegenstand und jeder Stoff, eine Physiognomie, ein Tier, eine Landschaft und eine Maschine“.

Die Bilder, Bücher und die Bilderbücher Meckels bedenkend, entdecke ich sechs Merkmale, die beide Künste Meckels charakterisieren:

1. Meckel versteht sich hier wie dort als erzählender Erfinder. Er gibt nichts wieder, sondern stellt etwas her und stellt es vor. Er entwirft Landschaften, Topographien und Situationen, die er mit seinen Phantasie-Figuren bevölkert und denen er sie aussetzt; dabei ergeben sich in beiden Künsten vergleichbare Vorgänge, Prozesse, Geschichten, die erzählt werden und deren Ende jeweils auf Endlosigkeit und Unabschließbarkeit verweist.

2. Meckel denkt und gestaltet als bildender Künstler und als Poet in zyklischen Strukturen. Für die 13 großen grafischen Zyklen gilt das ohnehin. Aber es gilt auch in seinem poetischen Werk. Das Buch Jubal beispielsweise ist ein lyrischer Zyklus. Das Buch Shiralee ebenfalls. Und beide zusammen ergeben wieder einen Zyklus. Die drei Gedichtbände Säure (1979), Souterrain (1984) und Anzahlung auf ein Glas Wasser (1987) bilden eine zyklische Trilogie mit dem Namen Die Komödien der Hölle.

3. Meckel sieht die Welt, den Himmel und die Hölle als Komödie! Die Weltkomödie des Zeichners und die „Komödien der Hölle“ des Lyrikers gestalten die weltliche Diesseitigkeit und deren höllische Kehrseite als Komödie. „Komödie“ heißt dabei alles andere als dass es lustig ist und „gut ausgeht“. Komödie ist vielmehr, wie bei Dante, ein anderes Wort für das Ganze, die Totalität des Daseins. Die Komödie in diesem Sinne verlangt eine antimetaphysische Handschrift in Wort und Bild. Sie ist ganz irdisch in ihrer Trostlosigkeit ebenso wie in ihrer Heiterkeit.

4. Meckel ist fixiert aufs Einzelne und doch aufs Ganze aus. Er geht mit seinen zyklischen Werkkonzeptionen aufs Große und Ganze, und doch besteht jede Radierung und jedes Gedicht auf unaustauschbarer Eigentümlichkeit und Autonomie. Diese Gleichzeitigkeit von Detailbesessenheit und Ganzheitsorientierung ist seinen literarischen Arbeiten in Prosa und Lyrik ebenso zu entnehmen wie seinen Zeichnungen. Als ihm vergleichbarer Zeichner wäre mit seinen Bilderserien vielleicht Jacques Callot zu nennen, von dessen Tod durch das Einatmen der Dämpfe des Ätzwassers beim Radieren Meckel im Bericht zur Entstehung einer Weltkomödie spricht. Callot erlitt den Tod durch Säure. „Zwei Atemzüge im falschen Moment“. Auch von daher versteht sich der Titel von Meckels Gedichtband Säure. So hängen kleine Zufälligkeiten mit absichtsvollen künstlerischen Konzeptionen zusammen, so dass man über Meckels lyrische und grafische Erfindungen sagen kann, was einst E.T.A. Hoffmann voll Bewunderung über Jacques Callots Bilderserien gesagt hat: „daß das Einzelne als Einzelnes für sich bestehend, doch dem Ganzen sich anreiht“.

5. Meckel ist als bildender Künstler und als Schriftsteller ein genialer Porträtist: Er schreibt nicht „über“ die Figuren, die er porträtiert; er zeichnet sie. Den Untertitel seines ersten „Suchbild“-Buches (Über meinen Vater) hat er nachträglich dementiert, indem er das „Über“ weggestrichen haben wollte: Suchbild: Mein Vater sollte es heißen. Meckel rekonstruiert die Porträtierten nicht, sondern er macht sie erbarmungslos und voller Mitgefühl, lieblos und liebevoll zu puren Kunstfiguren, deren Urbilder so präzise erkennbar wie frei erfunden wirken, ob es sich um Baratynski oder Bobrowski, um Eberhard oder Annemarie Meckel, um einen unbekannten Franzosen, um Hans Baldung Grien, Peter Huchel oder um Marie Luise Kaschnitz handelt.

6. Meckel praktiziert in seinen literarischen und grafischen Werken geradezu demonstrativ die Freiheit und Uneinschränkbarkeit der Freiheit des Künstlers. Er lässt sich nicht in Dienst nehmen, er verweigert sich allen Ideologien und jeder marktgerechten Verwertung. Damit hängt das Postulat der Radikalität der Kunst zusammen, das Christoph Meckel im Verlaufe seiner künstlerischen Entwicklung immer unbedingter praktiziert hat. Kompromisse, Halbheiten, Zugeständnisse in künstlerischer und ethischer Hinsicht gibt es bei ihm nicht. Der Charme seiner frühen Werke im literarischen und grafischen Werk ist nur noch als Erinnerung präsent. Rücksichtslosigkeit, ja Rigorismus bestimmen zunehmend sein Werk. Er bequemt sich uns, seinen Lesern und Betrachtern, nicht an; aber wir haben die Möglichkeit, uns von ihm in Frage stellen zu lassen. So bereichert er uns.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag entspricht dem Vortrag, den Wulf Segebrecht am 26. Juli 2015 in Freiburg zur Eröffnung der Ausstellung „Die Bilder, die Bücher, die Bilderbücher – zum 80. Geburtstag von Christoph Meckel“ im Kunstraum Alexander Bürkle gehalten hat. Die Ausstellung ist bis zum 4. Oktober zu besichtigen. Die in dem Beitrag erwähnte Sammlung der Gedichte, die der Hanser Verlag zum 80. Geburtstag Christoph Meckels am 12. Juni 2015 unter dem Titel „Tarnkappe“ veröffentlichte, und das ebenfalls erwähnte Werkverzeichnis mit dem Titel „Die Weltkomödie“ sind unten angezeigt. 

 

Titelbild

Christoph Meckel: Die Weltkomödie. 2 Bände.
Modo Verlag, Freiburg 2012.
702 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-13: 9783868330748

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Christoph Meckel: Tarnkappe. Gesammelte Gedichte.
Herausgegeben von Wolfgang Matz.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
960 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783446247642

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