Von der Einsamkeit der Seegurke

Die wundersame Tierwelt des Poesiekopfes Heinrich Detering

Von Joachim SengRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Seng

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„etwas geschieht“, so beginnt das erste Gedicht in Heinrich Deterings neuem Lyrikband „Wundertiere“. „Ausbruch“ sind die Verse überschrieben – man ist versucht, das Gedicht biographisch zu lesen und in der Gestalt des täppischen Waschbären, der sich „im nächtlichen Vorstadtweg“ seinen Weg durch den Plastikmüll der Hauseingänge bahnt, den schalkhaft lächelnden Dichter selbst zu entdecken, der die vertraute Umgebung des gelehrten Literaturwissenschaftlers wieder einmal – es ist sein siebter Gedichtband – verlassen hat, um abseits von Universität und Poetikseminar – im Alltag also und hier im „Bau der Recyclingsäcke“ – das Besondere und Wunderbare zu entdecken.

Aber Vorsicht, bei diesem Dichter ist großes Understatement nicht ausgeschlossen, denn Deterings Gedichte sind klug und eingängig zugleich, ihr Ton changiert zwischen lakonisch und nachdenklich, humorvoll und reflektiert. Zwischen Google und Johann Wolfgang von Goethes Gartenhaus spürt er dem Leben und der Poesie der Dinge nach, auch in Anrufbeantwortern und Nahverkehrszügen „von Wetzlar nach Gießen“. Nein, täppisch ist dieser Waschbär nicht, sondern ein poetisches Wundertier, das jederzeit stil- und formsicher zu erzählen weiß. „Diese Gedichte sind Kapseln in der Ökonomie und Sparsamkeit ihrer Effekte“, schrieb Hans Magnus Enzensberger, lobte die versteckten Resonanzen und „Echoräume“ und stellte fest: „Heinrich Detering ist ein Poesiekopf, ein Radiokopf, der sehr viel Empfangsmöglichkeiten hat.“

Aber dieses lyrische Wundertier mit Poesiekopf empfängt nicht nur viel, es sendet auch aus, in Versen von großer Intensität, wie etwa in jenen über die „Seegurke“:

kann man einsamer sein als die Seegurke

auf dem fahl schlammgrauen Boden der Tiefsee
so bleich im Licht der Roboterkamera

in dieser Kälte der Todesstille in
Finsternis von Ewigkeit zu Ewigkeit

Und dann für zwanzig Sekunden nackt und bloß
Unsern nichtsahnenden Augen ausgesetzt

Die Verse berühren, und man fragt sich, ob die Einsamkeit der Seegurke jemals zuvor so einfühlsam in einem deutschen Gedicht beschrieben wurde. Detering ist ein genauer Beobachter der „dunklen Wunder“, die sich im Verborgenen abspielen, jedoch ein poetisches Auge brauchen, um die Stille der Schöpfung sichtbar und hörbar werden zu lassen. Dabei ist er ein Soundvirtuose, ein Meister der Versformen, der in manchen Gedichten ernste, in anderen märchenhafte Töne anschlägt – etwa in „geradewegs“ oder in „Tomte“, den Versen über den guten schwedischen Hausgeist, der den Tieren Mut zuspricht und die Kinder beschützt. Auch von „Schwarmgeistern“ ist die Rede, in humorvollen, wortspielerischen Versen, die an Christian Morgenstern erinnern: „das Tageslicht war Selbstbetrug/die Wahrheit ist ein Höllenspuk“.

Deterings Wundertierwelt ist irdisch und flüchtig zugleich. Die Wege führen rasch von der eigenen Kinderwelt („Selbstversuch“) zu den albtraumhaften Kriegserinnerungen des Großvaters („die kammer“). Poetische Momentaufnahmen wechseln mit Erinnerungsstücken historischer Ereignisse oder Berichten über „scheiternde Sieger“, wie Georg Wilhelm Richmann, der im 18. Jahrhundert beim Versuch den Blitzableiter zu erfinden, jung in Petersburg starb („Blitzlicht“).

Dass in den Gedichten überall Anspielungen auf literarische Texte lauern, muss den Leser nicht beunruhigen, zumal einige von ihnen in den Anmerkungen erläutert werden. Der Hinweis auf den Barockdichter Philipp von Zesen kommt ganz offen daher. Es ist kein Zufall, dass Detering in einem Gedicht den „glücklichen Moment“ preist, in dem dieser im Dreißigjährigen Krieg eben jenes lateinische Wort „momentum“ eindeutschte und „zum Augenblich Augenblick sagte“. Der Augenblick ist ein zentraler Begriff für Deterings poetisches Prinzip, und seine Lyrik ist dort am stärksten, wo er dem flüchtigen Moment durch Sprache poetisch Dauer verleiht.

Doch auch umgeben von Wundertieren ist die Aufgabe des Dichters nicht einfacher geworden. Selbst die alten Steine von „Delphi“ murmeln nur noch von sich selbst, mit immer leiser werdenden Monologen „für den Fall/dass noch jemand liest“. Das klingt ein wenig resigniert, aber nicht hoffnungslos. Denn auch wenn das Schlussgedicht von „Wasserzeichen“ spricht, die mit dem Finger in Pfützen geschrieben sind, so glaubt der Poesiekopf und Tierbändiger letztendlich doch an das Wunder der Dichtung. Am Ende heißt es: „und dass ich umkehren wollte/und nachlesen“. Sicher, man könnte die Verse als zaghaftes Bekenntnis zur Vergeblichkeit des dichterischen Tuns deuten. Aber plötzlich taucht das Wundertier Poesie in Gestalt eines Waschbären wieder auf und ich folge ihm, lege das Buch nicht aus der Hand, kehre um und beginne erneut zu lesen.

Titelbild

Heinrich Detering: Wundertiere. Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
94 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315983

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