Destination Unknown

„Snowpiercer“ (2013) – Die Menschheit hat ihr Ende besiegelt und ist zur finalen Reise aufgebrochen. Ins Nichts

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

World Tour: Ein Zug rast um den Globus. Er ist Zuflucht und Gefängnis, Oase und Ödnis, Luxusdomizil und Slum. Er ist wie die Welt einmal war. In seinen zahllosen Waggons trägt er die letzten Überlebenden einer globalen Klimakatastrophe, welche den Planeten Erde vor 18 Jahren in eine tödliche Eiswüste verwandelt hat. Draußen herrscht der ewige Winter, drinnen eine zum Allmächtigen erhobene, von den meisten nie gesehene Gestalt: Wilford, Gebieter über die Maschine. Ihm bzw. seiner wie ein Dogma heruntergebeteten Ideologie von dem unwiderruflich festgelegten Platz, den jeder einzunehmen hat, müssen sich sämtliche Mitreisenden unterwerfen. Der privilegierten Minderheit in den vorderen Abteilen, für die jeglicher Komfort aufgeboten wird, kann das nur recht sein. Doch da gibt es noch den hinteren Zugbereich, in dem eine Mehrheit aus Armen, Ausgebeuteten und Abgewiesenen unter elenden Bedingungen vor sich hin vegetiert. Deren Resignation wandelt sich in Mut, als sie den Aufstand planen. Sie wollen sich bis zur Zugspitze durchschlagen und dort Kontrolle über die Maschine erlangen.

Nicht nur im Englischen sind destination und destiny linguistisch verwandt. Auch im Deutschen gibt es den hübschen Begriff Bestimmungsort, der Reiseziel wie Endpunkt bedeuten kann. Das Unterwegssein ist also keineswegs nur als Anstreben eines bestimmten Ortes zu verstehen, sondern immer auch als Suche nach dem eigenen Schicksal. Zwischen diesen beiden Polen, dem geographischen wie dem ideellen, bewegt sich „Snowpiercer“, indem er seinen Actionplot mit einer intelligenten Reflexion über Wesen und Ziel der Menschheit verknüpft. Das macht aus einem eisigen Sci-Fi-Abenteuer eine fiebrige Polit-Parabel, die mit fatalistischer Radikalität schockiert und durch atmosphärische Intensität fasziniert.

Society Train

Mit Werken wie „Memories of Murder“ (2003), „The Host“ (2006) oder „Mother“ (2009) hat der südkoreanische Regisseur und Drehbuchautor Bong Joon-ho sein besonderes Talent unter Beweis gestellt. Aus klassischen Genremustern zieht er Unterhaltungswert, aus präzisen Charakterstudien die narrative Kraft, aus inszenatorischer Finesse eine starke Atmosphäre. Auch bei „Snowpiercer“, einem Film wie ein Wassertropfen, in dem sich die Welt spiegelt. Die düstere Enge in den hinteren Waggons formt von Beginn an die visuelle wie erzählerische Tonlage, denn schließlich ist jedem Fahrgast eine Flucht aus der ebenso sinn- wie haltlos vorwärtsjagenden Eisenbahn verwehrt. Doch nur die buchstäblich an das soziale Ende (des Zuges) gedrängten, radikal Ausgegrenzten haben ein Bewusstsein dafür. Wie in einem schmalen, fensterlosen U-Boot hausen sie neben- und übereinander, bekommen eklig-schwarze Eiweissbrocken als Mahlzeit zugeteilt und werden ansonsten von Soldaten mit grausamer Härte auf ihre untergeordnete Position verwiesen.

Der Stahl-Express ist die symbolische wie reale Ausformung unserer gegenwärtigen Welt in nuce. Zusammengepressst auf wenige Quadratkilometer offenbart sie ihre gesellschaftliche Hierarchie zu Gunsten weniger und zu Lasten vieler als Perversion, merkantil ausgeformt und moralisch abgründig. Das Science-Fiction-Element von „Snowpiercer“, lose auf der Graphic Novel „Le Transperceneige“ (1982) von Jacques Lob, Benjamin Legrand und Jean-Marc Rochette basierend, ist dabei vor allem Camouflage. Die Geschichte lässt sich nie auf futuristische Wissenschaftslogik ein, sondern ist als mal subtile, mal entfesselte Demonstration des Jetzt zu verstehen, verschoben hin zur Allegorie.

Der Zug transportiert einen Mikrokosmos, den Production Designer Ondrej Nekvasil kunstvoll in die beiden Extreme erste und dritte Welt ausgeformt hat. Letztere fällt durch Eintönigkeit auf, erstere durch Vielfalt – beide Räume fast schon organisch belebt von Hong Kyung-pyos innovativer Kamera und von malerischer Lichtsetzung. Es gibt Waggons für Technik (Wasserversorgung), Kultur (Bibliothek), Bildung (Schule) und Lifestyle (Schneiderwerkstatt), für Wellness (Sauna) und Entertainment (Bar, Club), für Landwirtschaft (Gewächshaus) und Natur (Aquarium). Dies alles wird künstlich auf Niveau gehalten, verwehrt sich aber notgedrungen jeder Entwicklung. Die avancierte Technik der Eisenbahn hat keine Zukunft. Wie ihre Insassen.

Men Machine

Die unwirtliche Gletscherlandschaft vor den Zugfenstern ist nicht nur imposante Kulisse, sondern ebenfalls Metapher und Mahnung. Dieses Klimadesaster hat eine Menschheit zu verantworten, deren kläglicher Rest sich jetzt in einer modernen Arche Noah zusammendrängt und eigentlich aneinander Halt suchen müsste. Stattdessen wird unter dem Deckmantel einer Pseudoreligion aus Despotie und Kastendenken die heutige Klassengesellschaft en miniature nachgestellt. Gescheitert an der allmächtigen äußeren Natur offenbart der Mensch nun seine wahre innere Natur. Die Privilegierten, erstarrt in hysterischer Gefühlskälte von vollendeter Arroganz und Verachtung, gerieren sich als Unterdrücker, allen voran Wilford (Ed Harris als pure, selbstherrliche Herablassung), der in einem sterilen Maschinenraum an der Spitze wie ein Halbgott residiert. Seine Stellvertreterin Mason, von Tilda Swinton genial an der Grenze zur Karikatur dargestellt, ist nur der absonderliche Vorposten solcher Unnahbarkeit.

Anders freilich als in unserer sozialen Realität gibt „Snowpiercer“ der Masse der Unterjochten ein Gesicht. Die äußere Bewegung der Maschine mag eine innere Spannung erzeugen, doch die eigentliche Dynamik geht von den Charakteren aus. Jede Rolle, selbst die kleinste, ist fein ausgearbeitet und mit respektablen Schauspielern besetzt. Ob Jamie Bell als hitziger Jung-Rebell, John Hurt als lebenskluger Greis, Octavia Spencer als mitfühlende Mutter oder Song Kang-ho als drogensüchtiger Mechaniker: Sie, die Versklavten, pochen als menschliches, aufrührerisches Herz in einem stählernen Ungetüm.

Sie allein bringen Leben, akzentuiert in einer bemerkenswerten Sequenz. Während sich die Meuterer unter Führung von Curtis (Chris Evans als etwas steifer, aber brauchbarer Held) Abteil für Abteil in Richtung Zugspitze vorkämpfen, kommt es wiederholt zu blutig-brutalen Gefechten mit Soldaten. Einmal wird bei einer Tunneldurchquerung bewusst die künstliche Beleuchtung ausgeschaltet, um den Nachtsichtgeräte tragenden Militärs einen Vorteil zu verschaffen. Die Rebellen drohen unterzugehen, bis im hinteren Waggon ein Feuer angezündet und in einem packenden Fackellauf nach vorne getragen wird. Nicht das Dunkel des Zugendes soll zur Lok gebracht werden, sondern das Licht der Freiheit. Aber Hoffnung war noch nie Garantie für ein besseres Dasein.

Nowhere Railroad

„Snowpiercer“ verdichtet die physische wie psychische Enge einer Extremsituation zum dystopischen Sci-Fi-Lehrstück, ebenso archaisch wie grotesk. Tatsächlich liegt eine der Stärken von Bong Joon-hos Regie darin, der hochspannenden, anspruchsvollen Story surreale Tupfer zu verleihen. Mit Hilfe von gezielt eingesetzter Zeitlupe oder dramaturgischen Ruhemomenten werden Tempiwechsel forciert; Toneffekte, etwa das Herunterfahren von Außengeräuschen zugunsten von Stöhn- und Schlaglauten während Kampfszenen, verfremden die Wahrnehmung; stille Beobachtungen wie eine vorbeischwebende Schneeflocke poetisieren den Moment. Speziell die überraschend spontane, von tödlichem Gemetzel auf Party umschaltende Neujahrsfeier unter eben noch wild mit Äxten herumschlagenden Männern wirkt höchst irritierend.

Diese Menschheit, die eine ähnliche Perpetuum-Mobile-Bestimmung wie der Zug zu haben scheint, hat kaum Aussichten. Und gar noch weniger, nachdem sich die empörenden Hintergründe der Gesellschaftsordnung an Bord enthüllt haben. Hier allerdings schießt das ansonsten wohldurchdachte Drehbuch von Bong Joon-ho sowie Kelly Masterson etwas über das allegorische Ziel hinaus und verheddert sich in übertriebener Gleichnishaftigkeit. Doch zum Schluss fängt es sich wieder. Ohne an ein Meisterwerk von Sci-Fi-Parabel wie „Silent Running“ (1972) heranzureichen, versucht sich „Snowpiercer“ zuletzt immerhin ein wenig an dessen traurig-schöner Endgültigkeit.

Wenn die letzte Zigarette nicht mehr geraucht wird, sondern nur verglüht; wenn das Wesen der Menschheit enthüllt ist, aber ihr Schicksal diffus bleibt; wenn der Schnee schmilzt, doch die Sonne noch nicht wärmt… bleibt nur der Blick in die Augen eines Eisbären: kühl, fern, ewig.

„Snowpiercer“ (Südkorea, U.S.A. 2013)
Regie: Bong Joon-ho
Darsteller: Chris Evans, John Hurt, Jamie Bell, Song Kang-ho, Tilda Swinton
Laufzeit: 121 Min.
Verleih: Ascot Elite Home Entertainment
Format: DVD / Blu-ray

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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