Der europäische Traum

Die Antike ist die Wiege Europas und idealer Untersuchungsgegenstand zu einer Rückbesinnung auf Kultur und Literatur – vor allem in der Krise

Von Jonas NesselhaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Nesselhauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist gerade einmal drei Jahre her, dass die in den frühen 1990er-Jahren offiziell gegründete „Europäische Union“, zurückgehend auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) der Römischen Verträge (1957), mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde – für ein sechs Jahrzehnte andauerndes, unermüdliches „advancement of peace and reconciliation, democracy and human rights in Europe“, so die Begründung des norwegischen Komitees. Heute steht der Völkerbund aus inzwischen 28 Mitgliedsstaaten vor einigen seiner größten Aufgaben und Herausforderungen: Die Zuwanderung aus Afrika und dem Mittleren Osten droht zu einem humanitären Problem zu werden und verschafft nationalistischen Parteien und demokratiefeindlichen Vereinen verstärkten Zulauf. Eine wirtschaftliche Ungleichheit, Finanzkrisen und die erschreckend hohe Jugendarbeitslosigkeit führen zu sozialen Spannungen und wiederum zu Migrationsströmen innerhalb der EU, die Staatsschuldenkrisen einzelner Länder belasten das Ansehen und die finanzielle Stabilität der Einheitswährung, und nicht zuletzt lassen Vertrauensverluste und der Vorwurf einer regulationswütigen Bürokratie in anderen Ländern die Skepsis gegenüber Brüssel wachsen und die Rufe nach einem Referendum um den Verbleib in der Union lauter werden.

Diese ungewisse Zukunft des Konstrukts ‚Europa‘ scheint die deutschen Geisteswissenschaften in den vergangenen Jahren mit Untersuchungen zur völker- und kulturvereinigenden Union als Raum gemeinsamer Werte und Traditionen verstärkt zu einem Blick in die Vergangenheit animiert zu haben. Dies zeigt sich etwa in der Reihe „Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst“ (Bonn University Press, seit 2009), unzähligen Einzelpublikationen, Diskussionsrunden und sogar vergleichenden Studiengängen („European Studies“). Daran schließt auch der 2014 erschienene und von Wolfram R. Keller und Claus Uhlig herausgegebene interdisziplinäre Sammelband „Europa zwischen Antike und Moderne“ an, der in 20 Aufsätzen, verteilt auf die vier Sektionen „Philosophie“, „Mythenrezeption und -revision“, „Motiv- und Themenvariation“ und „Philologie“, den geisteswissenschaftlichen Traditionen Europas nachspürt. Der zentrale Schwerpunkt liegt dabei auf der Bedeutung des „Wissens der Antike“ für die jeweiligen Themenfelder: Als „Erben Athens und Roms“ dient Europa die Antike als Vor- oder Gegenbild verschiedenster Wissensgebiete – von der Philosophie bis zur Architektur.

So knüpfen die beiden ersten Aufsätze der Sektion „Philosophie“ an Aristoteles und Platon und deren unterschiedliche Rezeption an: Arbogast Schmitt widmet sich der Deutung der aristotelischen und platonischen Philosophie in der Frühen Neuzeit und besonders im Werk von Johannes Duns Scotus, einem Gelehrten des 13. Jahrhunderts. Der (für die Tragödie(ntheorie) ja noch immer zentrale) Karthasis-Begriff aus Aristotelesʼ Poetik wird bis heute unterschiedlich gelesen; Michael Krewet bringt dies mit Unterschieden in der Affektauffassung von Poseidonios (1. Jahrhundert v. Chr.) über Lorenzo Giacomini (16. Jahrhundert) bis zu Immanuel Kant (18. Jahrhundert) in Verbindung. Als Scharnier zwischen Antike und Neuzeit fungiert der italienische Gelehrte Petrarca, der im Zentrum von Monika Reners Beitrag steht: Als Dichter berief er sich auf antike Autoren, deren teils vergessene Texte er gleichzeitig als Herausgeber wieder verfügbar machte. Die stete Rezeption der griechischen und römischen Antike zeigt sich auch in den beiden abschließenden Aufsätzen, die exemplarisch musikalische und kakophonische Elemente der Philosophie des spätantiken Gelehrten Boethius in Geoffrey Chaucers mittelenglischer Dichtung (Wolfram R. Keller) und Ansätze des neoplatonischen Denkens in Samuel Richardsons Briefroman Clarissa (Cornelia Wilde) untersuchen.

Antike Mythen wie auch deren Stoffe und Figuren spielen für die europäische Literatur bis in die Gegenwart hinein (und nicht zuletzt ja auch in der Postmoderne) eine zentrale Rolle, was Sonja Fielitz am Beispiel (vor allem dramatischer) Pygmalion-Bearbeitungen aufzeigen kann. Daran schließen sich Einzeluntersuchungen zu Texten von Julien Gracq (Astrid Lohöfer) und John Barth (Dirk Vanderbeke) an; durch die exemplarische Textarbeit werden hier die unterschiedliche Intensität (markiert, unmarkiert), Form (inhaltlich, strukturell) und Funktion (Anspielung, Zitat, Parodie) der Verweise deutlich. So zeigt sich: Diese nicht nachlassende Beschäftigung mit der europäischen Antike (Ovid oder der Orpheus-Stoff bei Gracq, das Grundmuster des Mythos bei Barth) wird daher auch zur Rückbesinnung auf die eigene literarische Tradition. Madeleine Kinsella wirft abschließend einen Blick auf das moderne irische Theater, deren einflussreichste Dramatiker (Brian Friel, Seamus Heaney, Frank McGuiness) sie als regelrechte ‚Über-Setzer‘ betiteln kann, die klassische (antike) Stoffe und Ästhetiken dem spezifisch irischen Kontext anpassen.

Die dritte Sektion widmet sich „Motiv- und Themenvariationen“ und spannt dabei einen Bogen von der Gelegenheitsdichtung bei Martin Opitz und Johann Wolfgang Goethe und deren antiken ‚Vorläufern‘ der occasio (Boris Dunsch), über das spannende Gedankenspiel eines (achronischen) literaturgeschichtlichen Verhältnisses von John Fowles und John Milton (Martin Kuester), bis hin zur Verarbeitung des irischen Mittelalters in Frank McCourts Autobiographie als Marker irischen Nationalismusʼ (Erich Poppe). Exemplarisch verdeutlichen diese Untersuchungen damit ein ‚Fortschreiben‘ traditioneller Stoffe und klassischer Formen auf, das über die bloße Rezeption hinausgeht. Etwa auch in der Lyrik von Ezra Pound: Volker Bischoff zeigt die kreativen ‚Folgen‘ einer intensiven (literarischen und touristischen) Beschäftigung mit der europäischen Antike auf, die sich im Œuvre des Schriftstellers finden lassen. Claus Uhlig wiederum spürt in komparatistischer Perspektive dem Schild des Achill nach, jenem berühmten und bildgewaltigen Symbol des Kriegers in Homers Ilias, dessen aktualisiertes literarisches Weiterleben von Tarquato Tasso und John Milton bis zu W.H. Auden reicht.

Der zwölfte Gesang der Odyssee und die dortige Episode von Odysseus und den Sirenen dient Isabel Zollna als Aufhänger für ihre semiotischen Überlegungen zu einer ‚Philosophie des Hörens‘, das im Homerʼschen Mythos schließlich als Mittel der Erkenntnis ja gerade unterbunden, von einer späteren romantischen Sprachauffassung (Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt) hingegen proklamiert wird. Felix M. Prokoph vergleicht zwei Viten: Suetons Augustus (ca. 120 n. Chr.) aus dessen Kaiserbiographien und Einhards Vita Karoli Magni (9. Jahrhundert), die offensichtlich von Sueton beeinflusste mittellateinische Vita über Karl den Großen. Der tiefgehende Vergleich der beiden Texte zeigt starke Analogien in Struktur und Aufbau wie auch der Erzählhaltung, die eine „produktionsimmanente Intertextualität“ nahe legt. Die weiteren philologischen Einzeluntersuchungen der Sektion umfassen Epigramme des Dichters Faustus Sabaeus (Gregor Maurach), eine Analyse der Homer-Rezeption in Lotte Weges Erzählband Kirke (Bernadette Banaszkiewicz), die Funktionsanalyse eines Aristoteles-Zitats als programmatischem Ausgangspunkt für Jacques Derridas Politiques de l’amitié (Wolfgang G. Müller) und schließlich einen Streifzug durch die deutsche Literaturgeschichte am Beispiel des Infinitivsuffix „-ieren“ bei deutschen Verben eurolateinischer Herkunft (Walter Wimmel).

Gerade diese letzte und relativ offen gehaltene Sektion zur „Philologie“ zeigt die zwangsläufige Willkürlichkeit in der Zusammenstellung der Beiträge auf, die dem klar auf Einzeluntersuchungen und nicht auf eine konzise Verbindung der Aufsätze ausgelegten Sammelband allerdings final keinesfalls vorzuwerfen ist. Vielmehr zeigt die geradezu überbordende Themenvielfalt zwei zentrale Grundkonstanten der vergangenen Jahrhunderte: Die griechische und römische Antike (und teilweise das (lateinische) Mittelalter) fungiert als gemeinschaftlicher Anknüpfungspunkt und dient der Besinnung auf europäische Werte und Traditionen. Zweitens sind und waren sich Schriftsteller dessen bewusst, zitieren und reflektieren die klassischen Themen und Formen und schreiben sie kreativ fort – vor Ort oder aus der Ferne (John Barth sticht, zugegeben, aus dem Band heraus).

Diese kulturelle Identität aber, die der sehr gut lektorierte Sammelband durch seine plurale Zusammenstellung ideal verdeutlichen kann, geht über die politischen Grenzen und die unterschiedlichen Sprachen hinaus: Es sind Mythen, Bräuche und Erzählungen, Stofftraditionen und Denkmodelle, die den Kulturraum schufen, und bis heute prägen. Denn dass Europa mehr als ein völkerstaatliches Konstrukt ist, wird in den Zeiten der Krise nur allzu häufig vergessen.

Titelbild

Claus Uhlig / Wolfram R. Keller (Hg.): Europa zwischen Antike und Moderne. Beiträge zur Philosophie, Literaturwissenschaft und Philologie.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2014.
527 Seiten, 72,00 EUR.
ISBN-13: 9783825363925

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