Ein Mann wird Opfer des Rassenwahns

Arthur Millers einziger Roman „Fokus“ ist auch nach siebzig Jahren noch eine aktuelle Mahnung

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Fokus“, erstmals 1945 erschienen, ist der einzige Roman des amerikanischen Dramatikers Arthur Miller (1915–2005). Er stellt nicht nur eine Anklage gegen den Antisemitismus in den USA dar, sondern gegen Rassendiskriminierung und Völkerverhetzung generell.

Der Held des Romans ist Lawrence Newman, der mit seiner Familie draußen am Rande der Stadt wohnt. Wie seine Nachbarn ist er vom Stadtkern weggezogen, um vor „gewissen Elementen wegzukommen“. Doch jetzt machen sich diese auch hier breit, etwa der jüdische Süßwarenhändler Finkelstein. Newman, zwar Personalchef einer angesehenen Firma, im Grunde genommen aber ein kleiner Angestellter, beobachtet Tag für Tag diese Entwicklung gleichgültig. Selbst von seinem unmittelbaren Vorgesetzten wird er angehalten, keine „unliebsamen“ Personen einzustellen, die den ganzen Büroalltag durcheinanderbringen würden.

Newman hat aber noch ein anderes Problem: Seit einiger Zeit lässt seine Sehkraft nach, was selbst dem Vorgesetzten auffällt. Der beordert ihn zum Augenarzt, damit er sich endlich eine Brille besorgt. Als Newman mit der vom Arzt verordneten Brille nach Hause kommt, ist es zuerst seine Mutter, die sich entsetzt zeigt: „Mein Gott, du siehst beinahe aus wie ein Jude.“ Auch Newmans Umwelt nimmt argwöhnisch diesen Eindruck wahr. Bereits am nächsten Tag sagt ihm das eine Frau bei einem Bewerbungsgespräch mitten ins Gesicht. Von seinen judenfeindlichen Vorgesetzten Gargan und Lorsch wird er umgehend aufgefordert, sein Büro mit einem anderen Kollegen zu tauschen, da er „auf Leute, die zum ersten Mal“ in die Firma kommen, keinen guten Eindruck mache. Newman wird degradiert zum Sekretär ohne jede Autorität, ohne Vollmachten.

Praktisch über Nacht wird Newman, der bisher immer „neutral“ sein wollte, zum Objekt antisemitischer Massenhysterie. Sein Alltag wird von nun an von Anfeindungen bestimmt. Er sieht sich mit den fanatischen Judenhassern Fred und Carlson oder mit der angeblich „Christlichen Front“ konfrontiert. In der Nacht kippen Fremde Müll auf seinen Vorgartenrasen und brechen Äste von den Bäumen. Überall heißt es: „Er ist ein Jude, das sieht man doch!“ Obwohl Newman stets beteuert, dass das nicht stimme, glaubt man ihm nicht und. Er ist weiterhin seelischen und körperlichen Grausamkeiten ausgesetzt.

Was kann Newman tun? Ist er nicht ein vertrauenswürdiger, wohlerzogener Mensch? Die Angst nimmt ihn immer mehr gefangen. Mitunter plagt ihn sein Schuldbewusstsein, weil er den ‚jüdischen Makel‘ an in sich selbst entdeckt. Am Ende schärft die Brille, anfangs Symbol seines Ausgegrenztseins, seinen Blick, und er hat den festen Willen, sich für eine Welt einzusetzen, in der es nicht mehr entscheidend ist, welcher Rasse man angehört. Als aufgeputschte Rassenfanatiker den jüdischen Geschäftsmann Finkelstein tätlich angreifen, kommt ihm Newman zu Hilfe. Beide werden niedergeschlagen und selbst Newmans Ehefrau ruft nicht einmal die Polizei. Als Gebrandmarkter der Gesellschaft bekennt er sich mit Kafka’scher Ergebenheit, aber mit Ehrgefühl zum Judentum, obwohl er ihm ja nicht angehört.

Am Beispiel von Lawrence Newman zeigt Arthur Miller eindrucksvoll und beklemmend, wie ein unbescholtener Normalbürger rassistischer Diffamierung ausgesetzt ist, und das zu einer Zeit – gegen Ende des Krieges –, als Antisemitismus in Amerika ein totgeschwiegenes und noch nicht literarisch bearbeitetes Thema war. Vielleicht hat Miller darin auch persönliche Erfahrungen verarbeitet, denn er stammte aus einer Familie, die aus Österreich in die USA eingewandert war.

Obwohl „Fokus“ Millers einziger Roman geblieben ist, nimmt er in seinem Schaffen eine besondere Stellung ein, dokumentiert er doch eine thematische Akzentverschiebung vom vorher marxistischen Klassenstandpunkt zu einer mitbürgerlichen Verantwortung. In deutscher Sprache erschien der Roman erstmals 1955 (danach häufig auch unter dem Titel „Brennpunkt“), bereits vor 60 Jahren in der Übersetzung von Doris Brehm. Zum 100. Geburtstag von Arthur Miller ist der Roman nun als Taschenbuchausgabe im S. Fischer Verlag erschienen und bildet nach Jahrzehnten wieder eine längst notwendige Ergänzung seines dramatischen Werkes.

Titelbild

Arthur Miller: Fokus. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Doris Brehm.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2015.
224 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783596905935

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