In Lagos gehört jeder Tag dem Dieb

Teju Cole reist in seine alte Heimat und stellt fest, dass nichts besser und deshalb alles noch liebenswerter geworden ist

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die globale Migration ist – neben dem sog. Terrorismus – das zentrale Thema des noch jungen 21. Jahrhunderts. Menschen verlassen ihre Heimat, um an anderen Orten des Planeten zu leben, zu arbeiten, heimisch zu werden. Heimisch werden heißt aber auch, noch nicht heimisch zu sein, die eigentliche Heimat ist noch immer woanders. Dieses Spannungsfeld zwischen alter und neuer Heimat wird ausgelotet in der Migrationsliteratur, aber auch in einem Genre, was man als ‚Heimreiseliteratur‘ bezeichnen könnte: ein Schreiben über die Reise in die ehemalige Heimat. Immer schwanken solche Texte zwischen Vertrautem und Fremden, zwischen dem Gefühl des sich-zuhause-Fühlens und gleichzeitig fremd-Bleibens. Sie sind dabei deutlich unterschieden von solchen Texten über die ‚Heimat‘ ganz allgemein, die, so wurde in der Untersuchung der sogenannten ‚Gastarbeiterliteratur‘ schon früh festgestellt, gern zu einem mythischen Sehnsuchtsort verklärt wird.

Von alldem ist Teju Coles Roman „Jeder Tag gehört dem Dieb“ gänzlich weit entfernt. Der Protagonist reist darin nach Lagos, Nigeria, wo er als Junge geboren wurde und aufwuchs, bevor er, kaum volljährig, den Weg in eine vermeintlich bessere Welt, die USA, suchte, wo er inzwischen in New York als Psychiater lebt. Diese Geschichte ähnelt der ihres Autors, der zwar 1975 in den USA Sohn nigerianischer Eltern geboren wurde, aber ebenfalls in Lagos aufwuchs, bevor er zum Studium der Kunstgeschichte und Medizin in die USA zurückkehrte, wo er auch heute noch lebt. 2005 bereiste er Nigeria und hielt sich länger in Laos auf, woraus zuerst ein Blog, dann ein Buch, das 2007 in Nigeria erschien, entstanden. Nach dem Erfolg des Romans „Open City“ wurde 2014 auch die kleine Skizzen-Sammlung unter dem Titel „Every Day is for the Thief“ in den USA veröffentlicht und nun als „Jeder Tag gehört dem Dieb“ von der in den USA lebenden Übersetzerin Christine Richter-Nilsson ins Deutsche übertragen.

Man fragt sich als Leser des Öfteren, ob man tatsächlich einen (fiktionalen) Roman liest, wenn man Coles Erfahrungen in Lagos lesend nachspürt. Zu deutlich merkt man, dass es im wahrsten Sinne des Wortes eine ‚Heimreise‘ für den jungen Autor war, auch wenn ein knapper Passus im Waschzettel darauf hinweist, dass es sich um ein „fiktionales Werk“ handele und alle Personen frei erfunden seien. Kühn kann man dagegen behaupten, dass hier gar nichts erfunden ist. Es ist Cole und niemand sonst, der spricht (so wie es seine Fotografien sind, die das Buch illustrieren), wenn er schreibt: „Alles, was Lagos ausmacht – die Kreativität, die Tücke, die Doppelbödigkeit –, kommt an den Busbahnhöfen zusammen. An keinem Ort erkenne ich besser, was mir so gefehlt hat, wenn ich mich wieder nach zu Hause sehnte.“ Die Reise in die Heimat macht deutlich, was an der Heimat heimatlich ist und was der neuen Heimat fehlte. Und das sind, so wird im Text auch klar, nicht die Menschen, also die Figuren, die ja ‚erfunden‘ sind, sondern es sind das alltägliche Leben, die ‚Mentalität‘, wenn es so etwas gibt, die besonderen kulturellen Gegebenheiten. Die Menschen, so schreibt Cole zu Beginn der 13ten Skizze, sind hingegen „literarische Texturen“, eine „Summe von Geschichten“, „voller unverhoffter Erzählstränge“. Dieses literarische Potential hat Cole in „Open City“ versucht auszuschöpfen, aber in „Jeder Tag gehört dem Dieb“ interessiert ihn das nicht – oder zumindest gibt der Text keinen Hinweis darauf. Zwar beobachtet der Ich-Erzähler, notiert, gibt wieder, aber er erzählt keine Geschichten der Menschen. Er erzählt von Lagos und Begebenheiten, von Momenten, aber es geht ihm nicht um Begegnungen mit Menschen, sondern nur mit der Stadt und der halb fremden, halb vertrauten Kultur: „Das Wort ‚Zuhause‘ liegt mir im Mund wie unvertrautes Essen“, notiert er beim Rückflug.

Damit gleicht sein Text auch keinem Roman, sondern einem Bericht, der sich von sonstigen Reiseberichten jedoch dadurch unterscheidet, dass er nicht den Drang verspürt, das Fremde erklären, klassifizieren zu müssen. Das ist das besondere an der ‚Heimreiseliteratur‘ von Cole: wenn er absurde, unglaubliche, verstörende Dinge sieht, hat er nie das Gefühl, wie es in sonstiger Reiseliteratur oder in Reportagen oft der Fall ist, seinen Unglauben, seine Verwunderung zum Ausdruck bringen zu müssen über das Unvorstellbare. Er berichtet einfach und man merkt seinem Bericht an, dass ihm dieses Verhalten inzwischen fremd geworden ist, dass er es aber immer noch kennt. Man merkt das bei einem Bericht über den Absturz eines Flugzeugs, in dem eine Schulklasse sitzt, die von einer Klassenreise zurückkommt. Das Flugzeug stürzt vor den Augen der an der Landebahn wartenden Eltern beim Ladeanflug ab, geht in Flammen auf, und da die Feuerwehr kein Wasser hat, sehen Rettungskräfte und Eltern hilflos zu, wie das Flugzeug verbrennt. Kurze Zeit später organisieren Angehörige der Opfer einen Protestmarsch, der von der Polizei gewaltsam niedergeschlagen wird. Cole schreibt: „Diese Mütter, die bis zu drei Kinder verloren haben, werden von der Polizei mit Tränengas besprüht, und das ist das Ende der Geschichte. Es gibt keine weiteren Proteste und auch keine Entschädigung.“ Cole bezeichnet das als „Absurdität“. Aber er muss es nicht bewerten, macht kein ‚unmenschliches‘ System oder einen nicht funktionierenden Apparat dafür verantwortlich, weil er diese Probleme kennt. Salman Rushdie hat über den Text gesagt, er lasse auf unheimliche Art die Wut, die wohl die „verständlichste Reaktion auf die oft bedauernswerte Wirklichkeit“ Nigerias sei, verstummen und mach eine desillusionierenden Liebe Platz – und trifft damit tatsächlich den Punkt.

Es ist die besondere Haltung, die Tatsache, dass es sich nicht um Reise- sondern um Heimreiseliteratur handelt, die die Lektüre von „Jeder Tag gehört dem Dieb“ faszinierend macht, weil sie nicht moralisierend ist und man als Leser zu keiner moralischen Haltung gezwungen wird. Lagos ist, aber es ist nicht schön oder schrecklich, es ist nicht auf eine bestimmte Art, die ein Label bräuchte. Coles Text lebt davon, dass weitgehend unverbundene Skizzen nebeneinanderstehen, dass gerade kein ‚Roman‘ aus den Momentaufnahmen extrahiert werden sollte (was der Grund ist, warum „Open City“ nicht immer gelungen scheint). Als Sammlung von Schlaglichtern aus der alten Heimat funktioniert diese Art von Literatur und gibt so den denkbar authentischsten Eindruck eines unvertrauten Landes – und mehr kann Reiseliteratur kaum leisten.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Teju Cole: Jeder Tag gehört dem Dieb. Roman.
Aus dem Englischen von Christine Richter-Nilsson.
Hanser Berlin, Berlin 2015.
174 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446247727

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