Literarische Verwandlungen

Peter Hvilshøj Andersen-Vinilandicus und Barbara Lafond-Kettlitz fragen nach der kulturhistorischen Bedeutung der Rezeptionsliteratur für die Frühe Neuzeit (1400‒1750)

Von Nina HahneRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Hahne

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer die Verwandlung von Texten und Stoffen über lange Zeiträume hinweg in kulturgeschichtlicher Perspektive beobachtet, kann zu ganz neuen Erkenntnissen über die Geschichte der Literatur gelangen. Dies zeigt der vorliegende Band, der die Ergebnisse einer Tagung versammelt, die im März 2014 von den Herausgebern Peter Hvilshøj Andersen-Vinilandicus und Barbara Lafond-Kettlitz in Weißenburg ausgerichtet wurde. Es handelt sich um den nunmehr dritten Band einer Reihe zur kulturhistorischen Bedeutung der Rezeptionsliteratur für die Frühe Neuzeit (Bd. 1: 2012, Bd. 2: 2014). Diese Reihe ist das Publikationsorgan einer offenen Arbeitsgemeinschaft, die 2011 von Hans-Gert Roloff und Alfred Noe als deutsch-österreichische Kooperation ins Leben gerufen wurde.

Im ersten Band präsentierten die Initiatoren ihr Forschungskonzept, an dem sich auch die aktuelle Publikation ausrichtet. Als Rezeptionsliteratur sollen demzufolge alle diejenigen Texte im Untersuchungszeitraum zwischen 1400 und 1750 angesehen werden, die auf literarischen Vorlagen „der antiken Literatur (griech., röm.), der Literatur Italiens und Frankreichs, teilweise auch Englands, vor allem aber der neulateinischen Literatur Europas und der europäischen Kirchenliteratur“ basieren. Die Rezeption kann beispielsweise als (wörtliche oder bearbeitete) Übersetzung, als gattungsübergreifende Adaption von Stoffen und Motiven oder als Rekontextualisierung und Umdeutung kanonischer Werke in Erscheinung treten.

Die Arbeitsgemeinschaft interessiert sich für eine große Bandbreite an kulturhistorischen Fragestellungen, welche die zentrale Bedeutung der Rezeptionsliteratur für die Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit herausstellen sollen: Im Zentrum stehen dabei vor allem die materiellen und soziologischen Bedingungen der Produktion und Rezeption der untersuchten Texte, also die Vertriebsnetze der Produzenten, die konkreten Rahmenbedingungen der Lektüre oder die intermediale Aufbereitung der Literatur. Daneben steht die Frage nach der Verbreitung von Wissen und Informationen durch Rezeptionsliteratur und die daran anschließende Untersuchung, wie Rezeptionsliteratur auf den Erwartungshorizont ihrer Leserinnen und Leser einwirken kann.

Durch die Betonung originaler Schaffensanteile in der Rezeptionsliteratur wird diese sowohl kulturhistorisch als auch ästhetisch aufgewertet; zugleich macht diese Aufwertung natürlich auch spiegelverkehrt auf die rezeptiven Anteile in der sogenannten ‚Originalliteratur‘ aufmerksam. Die Frage nach der Notwendigkeit oder Möglichkeit einer Grenzziehung zwischen beiden Erscheinungsformen von Literatur wird von den Herausgebern allerdings nicht ausführlich behandelt. Dies ist nicht problematisch, solange mit Texten gearbeitet wird, die im Wesentlichen auf einen Prätext zurückgehen, zum Beispiel eine Übersetzung oder die Adaption eines einzelnen mythologischen oder historischen Stoffes. Geht es jedoch um Texte, bei denen die Rezeption lediglich in einzelnen Anspielungen auf Stoffe oder Motive besteht, löst sich der Begriff der ‚Rezeptionsliteratur’ in Opposition zur ‚Originalliteratur’ auf. Eine intensivere theoretische Thematisierung dieser Definitionsproblematik wäre notwendig.

So formulieren die Herausgeber zu Beginn auch selbst die Frage: „Wie weit sind für die Geschichte der Bildung, der Kultur und der Literatur Originalliteratur und Rezeptionsliteratur gleichzusetzen? Gibt es einen Kontrast originale Kreativität versus Rezeption oder ein allgemeines moralisches Funktionssystem der Literatur der mittleren Zeit?“

Bevor diese Frage anhand historischer Detailanalysen beantwortet werden kann, müsste zunächst ein Schritt zurückgegangen und dargelegt werden, ob und wie ein solcher „Kontrast originale Kreativität versus Rezeption“ überhaupt begrifflich zu fassen ist. Hans-Gert Roloff hat in seiner Erläuterung des Forschungsprogramms der Arbeitsgemeinschaft im ersten Band ‚Rezeptionsliteratur’ explizit als Gegenstandsbereich bestimmt. Er fasst unter den Begriff in erster Linie Übersetzungen und Adaptionen, die sich wesentlich und eindeutig auf einen Prätext stützen. Es handele sich bei diesem Verfahren um ein „Specificum der Mittleren deutschen Literatur“. Demnach wäre der Begriff auf andere literarische Epochen gar nicht fraglos zu übertragen. In manchen Beiträgen des Bandes lässt sich diese präzise historisch-kritische Definition jedoch nicht mehr eindeutig fassen. Hier wird der Begriff teilweise in einem sehr viel weiteren Sinne verwendet und bezieht zum Beispiel Rezeptionszeugnisse mit ein, die sich allein über Anspielungen auf einen Prätext beziehen. Soll sich der Begriff (und Gegenstandsbereich) ‚Rezeptionsliteratur’ jedoch vor allem aus seiner Opposition zur ‚Originalliteratur’ legitimieren, wird es schwierig, wenn schon kurze Anspielungen genügen, um einen Text zur Rezeptionsliteratur zu machen. Denn Originalliteratur zeichnet sich ja neben dem Erfindungsreichtum ihrer Urheber gerade durch die Originalität ihrer Verwendung und Kombination von Anspielungen – also durch die Qualität ihres Rezeptionscharakters – aus. In welchem Verhältnis steht also der Gegenstandsbereich ‚Rezeptionsliteratur’ zur Rezeptionsgeschichte einerseits und zur Intertextualitätsforschung (bzw. Transtextualitätsforschung nach Genette) andererseits?

Die Beiträge des Bandes geben selbst Anhaltspunkte, um der Beantwortung dieser Frage näher zu kommen. Aus den drei thematischen Gruppen „Wiederbeleben des Mittelalters“, „Rekontextualisierung“ und „Theater“, an denen sich die insgesamt 15 Einzelstudien orientieren, soll hier jeweils ein Beispiel vorgestellt werden.

In der ersten Gruppe befasst sich André Schnyder mit der „Rezeption der Rezeption: Zu den Rezeptionszeugnissen des Melusine-Romans aus dem 15. bis 18. Jahrhundert“. Den Ausgangspunkt und Basistext liefert dazu Thüring von Ringoltingens Melusine von 1456. Aus seiner Erstedition der neuentdeckten (und nicht eindeutig datierbaren) Adaption Historische Wunder=Beschreibung von der so genannten Schönen Melusina aus dem frühen 18. Jahrhundert untersucht Schnyder ein durch den Herausgeber angefügtes Corpus von 93 Leserzeugnissen des genannten Zeitraums. Er zeigt, dass im Zentrum der Rezeption vor allem die Frage nach dem literarischen (d.h. in erster Linie moralischen) Wert des gesamten Werkes und – damit eng verbunden – der dämonische Charakter der Frauengestalt Melusine stehen. Aus den Zeugnissen zieht Schnyder lesersoziologische Schlüsse; er arbeitet heraus, dass sich die (romanlesende) Oberschicht als kritische und welterfahrene Leserschaft inszeniert, während den unteren Schichten eine naivere Lektüre des Melusine-Stoffes zugesprochen wird. Durchgängig werde die unkritische Rezeption eines derartigen Stoffes, vor allem durch Frauen, problematisiert. Der ästhetische Reiz der Geschichte könne daher erst ab dem 18. Jahrhundert zur Geltung kommen, da hier der Stoff nur mehr als reine Fiktion angesehen werde. Rezeptionsliteratur ist bei Schnyder die produktive Autoren-Rezeption als bearbeiteter Neudruck des Melusine-Stoffes. Er unterscheidet klar zwischen Rezeptionsliteratur und Rezeptionszeugnissen, die oftmals nur über die Erwähnung des Namens ‚Melusine’ erkennen lassen, dass hier eine Rezeption der Rezeptionsliteratur stattgefunden hat.

In der zweiten Gruppe untersucht Winfried Woesler „Die deutsche Fabel bei Steinhöwel und in der Folgezeit“. Er nimmt die volkssprachliche Fabel vom 15. Jahrhundert bis zu Lessing in den Blick, ausgehend von Heinrich Steinhöwels deutschsprachiger Übersetzung der mittelalterlichen Fabelstoffe von 1482. Obgleich die Fabel im 16. und dann vor allem im 17. Jahrhundert sehr populär gewesen sei, hätten die maßgeblichen Poetiken sie nicht als literarische Gattung anerkannt und sie stattdessen der Rhetorik zugeschlagen. Für den deutschsprachigen Raum lasse sich die Besonderheit erkennen, dass Fabeln an einem bestimmten Handlungsort verankert würden. Diese Verankerung in Raum und Zeit befördere auch ihre Politisierung im Kontext der Konfessionsstreitigkeiten. Sozialkritische Elemente verlören hingegen bis zum 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Auch schwankhafte Bestandteile antiker Fabeln seien seit der Reformation als unmoralisch angesehen und umgedichtet oder entfernt worden. Auch die Frage, ob und auf welche Weise die antike Götterwelt in einen christlichen Kontext übertragen werden könne, habe die Fabelnachdichter – wie zum Beispiel Luther, Burkhard Waldis oder Hans Sachs – vor Probleme gestellt und teils skurrile Einfälle hervorgebracht, wenn beispielsweise Verhaltensweisen Jupiters auf den christlichen Gott übertragen worden seien. Woesler betont bei seinem Verständnis von Rezeptionsliteratur den adaptiven Charakter der untersuchten Fabelsammlungen, die wesentlich stärker auf Umdeutung traditioneller Stoffe als auf Neudichtung angelegt seien.

In der dritten Gruppe findet sich unter anderem der Beitrag von Danielle Buschinger: „Die Rezeption des Mittelalters bei Hans Sachs. Ein Beispiel: Der Tristanstoff“. Buschinger geht darin sowohl Anspielungen auf den Tristanstoff bei Hans Sachs als auch seinen eigenständigen Adaptionen wie der Tragödie Von der strengen lieb herr Tristrant mit der schönen königin Isalden von 1553 nach. Zunächst trifft sie die wichtige Feststellung, dass Hans Sachs seinerseits für die Bearbeitung des Stoffes bereits auf spätmittelalterliche oder frühneuzeitliche Adaptionen zurückgreife, während er sich mit der Literatur des Hochmittelalters nicht beschäftigt habe. Besonders arbeite er sich bei der Behandlung des Stoffes an der ehebrecherischen Liebe Tristans und Isoldes ab. Werde Tristan in frühen Texten noch als listiger Held dargestellt, präsentiere Sachs die Liebesbeziehung in unterschiedlichen Varianten zunehmend als verurteilenswert. In der genannten Tragödie komme es dann zu einem erstaunlichen Bruch: Während der Tod der Liebenden innerdramatisch als Überhöhung außerehelicher Liebe erscheine, bewerte Sachs ihn in einem Epilog als abschreckendes Beispiel und appelliere an die Leserschaft, sich ihre Liebe für die Ehe aufzusparen. Buschinger führt Sachs’ Vorgehen hier ebenfalls auf den Einfluss der Reformation und die Hinwendung des Autors zu Luther zurück. Sachs habe vor der Gefahr einer solchen Liebe eben gerade dadurch warnen wollen, dass er sie als so mächtig und bewundernswürdig darstelle. Vom kurzen Texthinweis bis hin zur eigenständigen Tragödiendichtung verwendet Buschinger also einen sehr weiten Begriff von Rezeptionsliteratur. Innerhalb des Untersuchungsverlaufs erhalten bestimmte Texte dadurch den Status der Rezeptionsliteratur, dass sie durch einen Titel oder eine Figurennennung auf den Tristan-Stoff verweisen. Es wäre sinnvoller, in solchen Fällen ‚Rezeptionsliteratur’ als heuristischen Begriff zu verwenden und nicht zur Definition eines Gegenstandsbereichs.

Abschließend lässt sich sagen, dass der Band 15 detaillierte und innovative Einzelstudien präsentiert, deren Ergebnisse sowohl für die Kulturgeschichtsschreibung als auch für die Transtextualitätsforschung der Frühen Neuzeit einen wichtigen Referenzpunkt darstellen. Für die Struktur eines solchen Bandes mit einem extrem weit gefassten Gegenstandsbereich wäre für gegebenenfalls folgende Bände ein gemeinsamer Themenschwerpunkt allerdings wünschenswert.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Hvilshøj Andersen-Vinilandicus / Barbara Lafond-Kettlitz (Hg.): Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400-1750) III. Beiträge zur dritten Arbeitstagung in Wissembourg / Weißenburg (März 2014).
Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A – Band 120.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
460 Seiten, 101,70 EUR.
ISBN-13: 9783034316347

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