Helden in Texten und Bildern
Ein Horen-Band zum Nibelungenlied – zusammengestellt von Detlef Goller und Nora Gomringer
Von Sabine Gruber
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKann ein Erzählstoff des Mittelalters noch heute poetische Kraft entfalten? Gehen uns Sagen der Völkerwanderungszeit – transponiert in die Gesellschaft des hohen Mittelalters – auch heute noch etwas an? Wie lässt sich solch ein alter Stoff mit modernen künstlerischen Mitteln darstellen? Was von den Nibelungen steckt auch in uns oder wird für immer in den Menschen stecken? Diesen Fragen geht der von Detlef Goller und Nora Gomringer zusammengestellte Band 252 der Zeitschrift „Die Horen“ mit dem Titel „Nie gelungen Lied. Der Nibelunge Nôt“ nach. 41 literarische und essayistische Beiträge von 40 Autor/innen und elf bildkünstlerische Beiträge von fünf Künstler/innen haben sich für den Band auf eine produktive Suche nach der Präsenz der alten „mæren“ im kulturellen Gedächtnis der Gegenwart begeben.
Beim Aufschlagen des Bandes entfaltet sich ein neugierig machendes Kaleidoskop sehr unterschiedlicher Texte und Bilder, das in neun Kapiteln locker gegliedert ist, in Themen wie „Es gab keinen Sieger“, „Fackelzüge oder Every German knows the story“ oder „Dem Original wird kein Schaden zugefügt“. Eine Nibelungen-Wundertüte, in der vielleicht nicht jeder Beitrag allen Lesern und Leserinnen gefallen wird, in der aber doch jeder und jede etwas Anregendes, Überraschendes oder auch nachdenklich Machendes finden sollte. Ein Kapitel ist, wie in diesem Zusammenhang zu erwarten, dem Thema „Im Übrigen, wie Wagner will“ gewidmet. Die Beiträge der bildenden Künstler/innen sind im dritten Kapitel unter dem Titel „Helden im Bilde“ zusammengefasst und reichen von der Tätowierung im Nibelungen-Stil bis hin zu Kriemhild, Siegfried und Brunhild in kriegerischer Pose – Siegfried mit Maske und beachtlichen Muskelpaketen ausgestattet, Kriemhild und Brunhild dagegen mit Mixer und Kuchen bewaffnet, offenbar miteinander in einem Koch- oder Back-Duell um die Gunst des Helden begriffen, Die Herausgeberin Nora Gomringer hat zu diesem Kapitel, als Pendant einer Fotografie von Judith Kinitz, das Gedicht „Spot on: S.“ beigesteuert, das wie der gesamte Band danach fragt, was wohl passieren würde, wenn Siegfried „einem heute unterkäme, begegnete“.
Die Text-Beiträge umfassen Lyrik und Kurzprosa, aber auch kulturgeschichtliche Essays und zwei Interviews (Felicitas Hoppe im Gespräch mit Tilman Spreckelsen, Claudia Binger im Gespräch mit dem Regisseur Nikolaus Rufracht). Die literarischen Texte sind einzelnen Gestalten des Nibelungenlieds gewidmet: natürlich immer wieder Siegfried, aber auch Kriemhild, Brunhild und Hagen. Einige spielen mit Motiven oder Gestalten des Liedes, stellen sie in einen neuen – oft auch komischen – Kontext (beispielsweise das „Nibelungen-Pastiche in Bernhards Alter Meister Manier“ von Alban Maria Herbst). Andere arbeiten in komprimierten Nacherzählungen (wie „Siegfried“ von Michael Wildenhain: „Er fickte Kriemhild sie schrie und er brüllte | Sie teilten die Welt die den Morgen ausfüllte […] Und hurtig fand Siegfried im Wald seinen Tod | Die Erde um Siegfried war trocken und rot) den „Nukleus der Nibelungen“ heraus oder transponieren das Nibelungenlied in die in sich geschlossene Welt von Unternehmer-Familien des 20. Jahrhunderts („Übernahmen“ von Gonde Dittmer). Die essayistischen Beiträge befassen sich mit den literarischen und musikalischen Nibelungen-Adaptionen des 19. Jahrhunderts, mit neuen Adaptionen des 20. Jahrhunderts und mit Illustrationen des Nibelungenlieds, die im Verlauf der Jahrhunderte Unterschiede, aber auch erstaunliche Kontinuitäten aufweisen.
Insgesamt ein gelungener Band, der zum Vor- und Rückblättern, zum Schmökern und – nicht zuletzt – zur Neu-Lektüre des Nibelungenlieds anregt.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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