Das Ringen um Gemeinschaft

Mit „Stimmen für Europa – Ein Buch in sieben Sprachen“ haben die Autoren ein Buch für Europa geschaffen

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das richtige Buch zur richtigen Zeit, so der erste Gedanke beim Betrachten des Buchtitels „Stimmen für Europa – Ein Buch in sieben Sprachen“. Es ist an der Zeit für eine Diagnose der europäischen Lage und einen analytischen Blick auf die Probleme, Herausforderungen und Chancen Europas zu werfen. An unzähligen Stellen brennt es, niemand kann davor die Augen mehr verschließen. Europas Probleme existieren nicht irgendwo da draußen, sie werden nicht fernab in Brüssel oder Straßburg gelöst, sondern hier unter uns, inmitten von uns Europäerinnen und Europäern.

Wie gehen wir mit dem Fremden um? Welchen Platz geben wir ihm? Wie wird unsere Gesellschaft verändert werden durch die Aufnahme von Flüchtlingen? Wie kann Integration gelingen? Wie stehen wir zu Europa? Ist es angemessen, einen Begriff wie Wertegemeinschaft zu gebrauchen, der ein gemeinsames Dach von Werten imaginiert? „In Vielfalt geeint“ – welche konkrete, den Alltag durchdringende Bedeutung hat das Europamotto, ein Leitspruch, der als eines der Symbole der Europäischen Union zur Schaffung einer europäischen Identität beitragen soll:

„Das Motto bringt zum Ausdruck, dass sich die Europäer in der EU zusammengeschlossen haben, um sich gemeinsam für Frieden und Wohlstand einzusetzen, und dass gleichzeitig die vielen verschiedenen europäischen Kulturen, Traditionen und Sprachen den gesamten Kontinent bereichern“.

Wie ernst ist ein solches Motto zu nehmen, wenn innerhalb Europas wieder Zäune gezogen und Mauern gebaut werden, Europas Grenzen zu Todeszonen werden? „Europa versagt – Europa triumphiert“, schreibt Robert Misik in einem Kommentar in „Zeit online“ am 4. September 2015: „Es versagt das Europa der Eliten mit ihren unpraktikablen und unsolidarischen Regeln und ihrer Unfähigkeit, menschlich zu reagieren. […] Aber zum Glück gibt es den Aufstand der freiwilligen Helfer.“

Europa, heißt es im Vorwort von „Stimmen für Europa“, steht an einem historischen Wendepunkt: Die Krise ist vielschichtig geworden. In der Debatte, so die Autoren, werde überdeutlich, dass der alleinige Fokus auf die monetären und ökonomischen Einigungsprozesse kein tragfähiges Fundament für ein soziales Europa und ein menschliches Miteinander in Sicherheit und Frieden bilde.

Das Buch versammelt Beiträge des bedeutenden Sozialwissenschaftlers Oskar Negt, des Soziologen und Philosophen Adam Ostolski, des Arbeits-und Sozialrechtlers Tom Kehrbaum sowie der Erziehungswissenschaftlerin Christine Zeuner. Es ist in sieben Sprachen verfasst, damit es – so der Wunsch der Autoren – von Menschen mit verschiedenen sprachlichen und kulturellen Hintergründen gelesen und verstanden werden kann, „um gemeinsam Wege zu einem ebenso vielfältigen wie sozialen Europa zu finden“.

Das Europa, von dem die Autoren reden, besteht aus gemeinsam handelnden Menschen und entwickelt sich transnational, das heißt zum großen Teil ohne den festen institutionellen Rahmen politischer Entscheidungen und juristischer Absicherungen „ganz allein dadurch, dass Menschen miteinander in Kontakt treten und im Rahmen sozialer Prozesse Gemeinsinn entstehen lassen“, beispielsweise durch persönliche Kontakte und Freundschaften, Studienaufenthalte oder die Arbeit an gemeinsamen Projekten und Produkten. Mit diesem von zahlreichen Europäerinnen und Europäern seit vielen Jahren gelebten gemeinschaftlichen Alltag wurde das Fundament für die Realisierung einer transnationalen Demokratie errichtet. Im „Quali2Move“ führten Europäerinnen und Europäer aus der Arbeitswelt, aus Unternehmen und Gewerkschaften, aus Wissenschaft und Bildung in den Jahren 2012 und 2013 einen intensiven Austausch und diskutierten wichtige europäische Fragen vor ihrem jeweiligen persönlichen und kulturellen Hintergrund. Auch von diesem Projekt berichtet „Stimmen für Europa“.

Oskar Negt, im Jahr 2011 für sein politisches Engagement mit dem August-Bebel-Preis ausgezeichnet, hat die Theorie und Praxis der gewerkschaftlichen Bildung in Deutschland entscheidend geprägt. In seinem Aufsatz „Europa in der Krise?“ beschreibt er, wie die Periode des Neoliberalismus dazu geführt habe, dass die Menschen immer stärker in diesen Individualisierungsschüben auch mit zerstört hätten, was das Gemeinwesen ausmache: Die Vorstellung von dem Gemeinwesen und der Sorgfalt gegenüber dem Gemeinwesen sei auch in den Subjekten beschädigt – vielleicht nicht zerstört, aber beschädigt. Die Frage, was eigentlich die eigene Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen sei, rücke nun immer stärker in den Vordergrund auch von Bildungsarbeit. Deutlich ist in Negts Ausführungen der Impuls der Kritischen Theorie spürbar: Dass auch im verstümmelten, beschädigten Menschen noch etwas Ansprechbares bleibt – und dass hier Bildung anzusetzen hat. Die Bindungen, die zerstört seien, so Negt, zerstörten nicht die Bindungsbedürfnisse. Demokratie sei die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden müsse – alle autoritären und totalitären Systeme seien darauf bedacht, diese Lernprozesse möglichst nicht auszuweiten, mit der Bildungsoffensive zu brechen und die Menschen keine politische Urteilskraft entwickeln zu lassen.

Negt sieht in der Krisensituation auch eine Situation der Selbstaufklärung von Verhältnissen: Krisenzeiten können Erkenntniszeiten sein, wenn die Menschen nicht angstbesetzt (re-)agieren. Wenn „der Angstrohstoff wächst, ist das eine Bedrohung für demokratische Verhältnisse“. Negt ist der Ansicht, dass wir momentan einen Bedarf nach einem neuen Lernzyklus der Gesellschaft hätten: der europäischen Gesellschaft. In seinen Ausführungen wirft er auch einen Blick auf eine fatale Spaltung innerhalb Europas, in dem bestimmte Länder nicht mehr benötigt und abgekoppelt würden. Er votiert dafür, dass die Türkei „irgendwie in den europäischen Zusammenhang“ komme – aber wenn Griechenland ausgegliedert werde, sei das mehr als ein symbolischer Akt: „Wir haben alle Begriffe der Logik, der Tragödien, der Ästhetik aus dem griechischen, italienischen und romanischen Zusammenhang. Wenn die romanischen Länder abgekoppelt werden, ist das ein Angriff auf die Seele Europas“. Wenn man Europa haben wolle, müsse man die produktiven Potenzen der jeweiligen Länder ausbauen, wie nach 1945, also die europäischen Potentiale im Sinne einer solidarischen Ökonomie nutzen. Die gegenwärtige Konzentration auf die Stützung maroder Banken zerstöre die Idee Europas mehr, als dass hier etwas gerettet werde: „Gerettet werden könnte etwas nur, wenn ein Bürgschaftsschutzschirm für Kultur und Lernen für Europa, meinetwegen von 500 Milliarden, formuliert würde. Das wäre nachhaltig“.

Was wir heute haben, konstatiert Negt, sei nicht zuletzt die Schrumpfung der Idee des Menschen zu einem unternehmerisch tätigen Wesen. Bildung im eigentlichen Sinne könne nicht darin bestehen, Funktionswissen zu erwerben – für den demokratischen Zusammenhang, für das demokratische Lernen werde es immer wichtiger, politische Urteilskraft ins Zentrum der Bildung zu rücken: Bildung in dem Sinne, wie er das in der „Frankfurter Schule“ gelernt habe, bestehe in einer Vorratshaltung: Man brauche das, was man lernt, aktuell vielleicht nicht, aber man erwerbe Sichtweisen, Kategorien, Begriffe. Die politische Urteilskraft habe eine entscheidende Norm für jede Politik, die an der Emanzipation des Menschen festhalte – nämlich Würde: Die Herstellung von Würde und die Bedingungen für ein würdiges Leben seien eine bestimmende Norm gewerkschaftlicher Bildungsarbeit. „Und ich sehe, dass die Chancen in Europa sehr groß sind, in dieser Umbruchsituation diese Prozesse in Gang zu setzen“, so Negts (zu) optimistisches Fazit.

Adam Ostolski beschreibt in seinem Beitrag „Die Krise der europäischen Integration und soziale Kämpfe“ die Notwendigkeit der Entstehung einer sozialen Bürgerschaft auf europäischem Niveau, von ihm als „authentische bzw. faktische Föderation“ bezeichnet. Ausgangspunkt solle nicht die Übertragung der Macht auf die europäische Ebene sein, sondern die Definition einer sozialen Bürgerschaft auf europäischer Ebene. Ostolski ist es wichtig, die Europäische Union, die nationalen Staaten, nicht als fertige Existenzen zu betrachten und nicht als Quelle irgendwelcher Normen und Werte, sondern „als gewisse Niveaus sozialer Kämpfe um für uns wichtige Dinge“. Stärker als Negt fokussiert er damit den Konflikt, das Trennende. Die Gewerkschaften sieht er als eine der wichtigsten Institutionen, die soziale Kämpfe ausführen. Die einzige Art und Weise, eine Bedeutung des Begriffs „Gewerkschaftsbildung“ auf europäischer Ebene zu erarbeiten, sei, einen sozialen Kampf, einen Klassenkampf auf europäischer Ebene zu führen: „Aus diesem Kampf bildet sich erst eine gewisse neue Tradition der politischen Bildung heraus“. Die Gewerkschaften hätten eine große Möglichkeit und Verpflichtung, den utopischen Gedanken von der Politik sowie gewisse Werte wiederaufzubauen, „die reale Werte sind, Werte, die im Leben jedes Menschen wichtig sind“. Wenn wir aus der Krise herauskommen und Europa retten wollen, schließt Ostolski, dann sei es notwendig, die utopische Dimension in die Politik zurückzubringen. Diese Utopie sei nicht von unserem Leben abgetrennt, sie sei ein Bezugspunkt, der in der Lage sei, das alltägliche Leben vieler Gesellschaften zu verändern: „Es ist notwendig, die utopische Dimension der Politik zurückzubringen, um das ‚Prinzip Hoffnung‘ wiederzuerlangen“.

Tom Kehrbaum skizziert in seinem Beitrag „Europa aus der Krise bilden!“ eine kleine Geschichte „europäischen Lernens“. Kriege und Krisen hätten häufig eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung gemeinsamer europäischer Lernprozesse gespielt. Demokratie sieht er in erster Linie als eine Lebensform, in der sich demokratisches Verhalten auch im Arbeits- und Lebensalltag der Menschen zeige. Umfassende Partizipation sei erforderlich.

Christine Zeuner beleuchtet im abschließenden Beitrag des Bandes Grundgedanken und Ausprägungen der Staatsbürgerschaft. Das Konzept der Staatsbürgerschaft, das auf die Zeit der Entstehung der Nationalstaaten in Europa zurückgeht, impliziere gleichermaßen den Begriff des Dazugehörens wie den der Ausgrenzung: „Ausgegrenzt werden diejenigen, die aufgrund ihrer Vorfahren oder ihres abweichenden politischen, sozialen, ethnischen, kulturellen und sprachlichen Hintergrunds nicht als zugehörig zu einer Nation gelten“. Die Diskussion über die Rolle eines Staatsbürgers beinhalte auch ein Nachdenken über den Staatsbürger als Mensch, und darüber, wem die Staatsbürgerschaft gewährt werde. Aus den jeweiligen Vorstellungen zur Staatsbürgerschaft ergäben sich außerdem Fragen im Hinblick auf die Identitätsentwicklung der Menschen: Wie entwickeln wir ein Gefühl von Identität? Was verstehen wir unter dem Begriff ‚Identität‘? Was bedroht unsere Identität?

Eine „Absichtserklärung für eine transnationale gewerkschaftliche Bildung in Europa“ ist den Einzelbeiträgen der Autoren angefügt. Darin wird Solidarität als Kernprinzip der Bildung formuliert und eine Demokratisierung Europas durch die Förderung von Teilhabe und Mitgestaltung postuliert. Gewerkschaftliche Bildungsarbeit folge einem kritischen Ansatz: Herrschaftsmechanismen würden kritisch hinterfragt, Respekt vor Andersdenkenden sei die Grundlage zwischenmenschlichen Umgangs. Begründungen des kritischen Bildungsansatzes speisten sich aus Ideen und Werten, die in den Begriffen Demokratie, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit und Fairness zum Ausdruck kommen. 

„Stimmen für Europa“ stellt, alles in allem, eine anregende und bereichernde Lektüre dar, die zugrundeliegende Idee ist überzeugend, das Buch ansprechend gestaltet. Die Autoren erheben ihre Stimmen, sprechen Beobachtungen und Warnungen aus, und zeigen aktuelle sowie historische Kontexte auf. Angesichts der prekären Lage Europas, der rapiden politischen Veränderungen und Entwicklungen erscheint das Buch jedoch an manchen Stellen in Gestus und Nomenklatur recht antiquiert. Wie funktionabel und tragfähig beispielsweise sind die zitierten Konzepte von Utopie und Bildung? Kann politische Bildung tatsächlich noch ihre Kraft und Legitimation aus Begriffen und ideellen Gehalten der Kritischen Theorie beziehen? Welchen aktuellen Status haben Termini wie „sozialer Kampf“ und „Gleichheit“? Wie kann sich die Herstellung von Würde als Norm konkret gestalten? Wo und in welcher Weise zeigt sich die als Richtschnur imaginierte Würde realiter? Wie ist es um einen Begriff wie Identität bestellt – im persönlichen wie im kollektiven Zusammenhang?

Europa, heißt es in einer Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung, scheint „für viele sehr weit weg“ zu sein. Können diese mit den in „Stimmen für Europa“ vorgestellten (Bildungs-)Konzepten wirklich erreicht werden? Das Vorwort zum Buch wurde im November 2013 verfasst – ein Hinweis darauf, dass zahlreiche aktuellste politische Prozesse keinen Eingang mehr ins Buch finden konnten. So bleiben am Ende der Lektüre viele Fragen offen – womit man sich in bester europäischer Tradition weiß, ist Europa doch, wie Adolf Muschg in einem Interview sagte, „der Kontinent, auf dem gefragt werden darf, gefragt werden muss, seit Sokrates. Es ist eine Kultur der Frage“.

Titelbild

Tom Kehrbaum / Oskar Negt / Adam Ostolski / Christine Zeuner: Stimmen für Europa. Ein Buch in sieben Sprachen.
Steidl Verlag, Göttingen 2015.
336 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783869307596

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