Literatur den Terroristen, den Europäern der Koran

Wie Navid Kermani in „Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen“ Religion und Literatur kunstvoll verbindet und damit auch zum Perspektivenwechsel auf die Gewaltakte in Paris anregen kann

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Darüber, dass Johan Schloemann Navid Kermanis Friedenspreisrede in der Süddeutschen Zeitung einen „unerträglichen Übergriff“ genannt hat, kann man eigentlich nur müde lächeln. Anlass seiner Kritik war Kermanis Aufruf zu einem gemeinsamen Gebet am Ende der Rede. Insbesondere in der Paulskirche, einem aus historischen Gründen betont „säkularen Raum“, sollte es kein Gebet mehr geben, so Schloemann. Mag dies nur ein kläglicher Versuch sein, die nach Preisreden leichter als sonst manipulierbare Skandalisierungsmaschinerie wieder einmal in Gang zu bringen, ist an ihm doch eine Formulierung auffallend: Kermani laufe Gefahr, sich „genau jener Beschwörung einer politischen Theologie anzugleichen, die er dem radikalen Islam als Übergriff vorwirft.“ Diese Aussage ist gefährlich: Terrorismus und Religion werden hier auf ähnlich unzulässige Weise miteinander vermengt wie die aktuellen Ereignisse in Paris etwa vom Bayrischen Finanzminister Markus Söder für seine politischen Ziele in der Flüchtlingskrise instrumentalisiert werden: eine völlige Verkehrung von Ursache und Wirkung, Opfer und Täter.

In Bezug auf Navid Kermani, der sich in seinen Schriften stets gegen kulturelle Missverständnisse einsetzt und um differenzierteres Verstehen gesellschaftlicher Konflikte ringt, sind Vorwürfe dieser Art besonders ungerecht. Er selbst bemerkt zwar in der Vorrede zu „Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen“, dass ihm in seinen „Texten und mehr noch in den öffentlichen Reden bisweilen ein Pathos unterläuft“, der ihm nicht gleich bewusst sei, der aber dennoch sein Schreiben augenscheinlich bestimme und fragt sich daraufhin, woher dieser „ungewöhnlich hohe, meinetwegen predigerhafte, für manche Ohren vielleicht aufdringlich existentielle Ton“ eigentlich komme.

Es zeigt sich aber bereits hier Kermanis Hang zur kritischen Hinterfragung seiner selbst, durch den alleine er sich schon von Radikalisierung jeglicher Art freisprechen lässt und den er zudem als wichtigsten künstlerischen und intellektuellen Wert seines Schaffens hervorhebt: „Literatur – Kunst und Intellektualität insgesamt – ist im Kern ein selbstkritischer Akt.“ Aus dieser Überzeugung heraus lehnt er kollektive Selbstgerechtigkeit aller Art ab, islamischen Extremismus ebenso wie deutschen Nationalismus und die Verletzung von Menschenrechten durch europäische Flüchtlingspolitik: alles Beispiele für „die Immunität der kollektiven Wahrheit gegen die individuelle Erfahrung und Einsicht.“ Besonders die in der Rede „Nach Europa. Zweig und die Grenzen“ formulierten Gedanken über Zusammenhänge zwischen Terrorismus und Flüchtlingskrise ist eine große Leserzahl zu wünschen.

Auf der Suche nach der Ursache für seinen zu einer pathetischen Rhetorik neigenden Schreibstil versucht der Autor sein Denken in einer bestimmten Tradition zu verorten und kommt zu dem Schluss, dass sein Interesse für deutsche Schriftsteller auf der einen und die Religiosität seiner Familie auf der anderen Seite – also „Koran und Kafka“, wenn auch biographisch seiner Meinung nach in umgekehrter Reihenfolge – die „zwei Pole“ bilden, „zwischen denen sich mein Schreiben bewegt, Offenbarung und Literatur.“ Aus der Verbindung zwischen diesen beiden, durch die Erhellung des einen durch das jeweils andere, und aus der Fähigkeit, ihre Parallelen auch für aktuelle gesellschaftliche Fragen produktiv zu machen, resultiert die gedankliche und stilistische Kraft von Kermanis Texten. Als habilitierter Orientalist mit iranischer Herkunft ist er Experte für die religiöse und literarische Tradition des Orients, zudem Theaterwissenschaftler und Kenner internationaler Literatur. Weil es ihm gelingt, seine überall erkennbare wissenschaftliche Expertise für die Erkenntnis sozialer Zusammenhänge zu nutzen, beweist Kermani außerdem eindrücklich die Wichtigkeit und Notwendigkeit geisteswissenschaftlicher Bildung.

Mit großer Eleganz knüpft Kermani in den beiden ersten Texten des Bandes, die als Kurzversionen der früher erschienenen Monographien „Gott ist schön“ und „Der Schrecken Gottes“ bezeichnet werden, verschiedene Verbindungen zwischen Religion und Literatur. So habe der Koran von Anfang an nicht in erster Linie durch die Ideen überzeugt, die in ihm vermittelt werden, sondern durch die „schiere ästhetische Wirkung seiner melodischen Rezitation“. Vielfach werde im Lauf der Geschichte des Islam von Intellektuellen und Dichtern berichtet, deren Zweifel sich just in dem Moment zerstreut hätten, in dem sie der Schönheit des Koran-Vortrags lauschten. „Ich glaube an den Koran, weil seine Sprache zu vollkommen ist, als daß sie von einem Menschen erdichtet worden sein könnte“, könnte der Ausspruch vieler Muslime lauten, so Kermani – ein „ästhetischer Gottes- oder Wahrheitsbeweis“, wie er außer im Islam wohl in keiner Religion denkbar sei.

Die Nähe von Dichtung und Koran werde ganz offensichtlich auch daran deutlich, dass sich beide bis heute des Standard-Arabischen bedienen, das noch aus vorislamischen Zeiten stammt, dessen „Gefüge von atemberaubender Komplexität, Regelhaftigkeit und semantischer Dichte“ sich seither nur minimal verändert hat. Die heute gesprochene Sprache hat mit dem Arabisch des Koran und der Literatur, das wie eine zweite Sprache erlernt werden muss, nur wenige Gemeinsamkeiten. Diese Erkenntnis macht zudem den Erfolg radikaler Islamisten verständlich. Denn die Schönheit und Bannkraft der Koran-Sprache birgt auch die Gefahr der Instrumentalisierung: „Die Faszination, die vom Fundamentalismus ausgeht, ist durchaus auch sprachlich bedingt.“ 

Dabei könnte gerade die poetische Seite des Koran die Mechanismen totalitärer Bewegungen genau genommen sogar entkräften. Historisch hat sich die orientalische Literaturwissenschaft am Koran selbst entwickelt, weil dessen Schönheit sich auf seine poetische Seite – und damit auf seine Vieldeutigkeit –  zurückführen lässt: Der Koran „läßt sich poetologisch geradezu durch seine Ambiguität definieren, ja er hört auf, poetisch zu sein, wenn er eindeutig wird.“ Kermani findet im Koran also nicht nur den ästhetischen Gottesbeweis, sondern auch einen schlagenden Beweis für dessen Unvereinbarkeit mit politischer Ideologie, der sich von seiner Beziehung zur Literatur ableiten lässt.

Genauso bestechend klar und überzeugend zeigt Kermani durch Analyse eines Epos des persischen Dichters Faridoddin Attar, dem „Buch der Leiden“, wie sich nicht nur der Gegensatz zwischen Literatur und Religion auflösen lässt, sondern wie sie einander fortwährend bereichern. Wie Dantes „Göttliche Komödie“ ist das Buch die Beschreibung einer Seele durch den Kosmos; der Autor nutzt den Aufsatz nebenbei, um die Ignoranz westlicher Literaturwissenschaftler zu kritisieren, mit der die arabischen Wurzeln europäischer Form- und Motivtraditionen negiert werden. Die Auflehnung gegen Gott, die bei Attar auf geradezu rebellische, dämonische, gewaltsame Weise geschieht, ist mit den drei großen Weltreligionen nicht nur vereinbar, so Kermani, sondern ist ihnen „als ein intimes, vielleicht das intimste Moment des Glaubens“ sogar inhärent. Wiederholt vergleicht Kermani das Verhältnis Gottes zu den Menschen und andersherum als eines, das mit der Liebe zwischen Mann und Frau vergleichbar ist:

„Das Gebet Levi Jizchaks, ‚Ich will nicht wissen, warum ich leide‘, wandelte Rabbi Judah L. Magnes ab, der Mentor Hannah Arendts: ‚Ich will nur, daß Du weißt, daß ich leide.‘ Wegen seiner wahnsinnigen Liebe zu Leyla ist Madschnun dem Elend anheimgefallen und der Verachtung. Einmal sagt sein Vater:
- Du Ahnungsloser! Du hast dich verächtlich gemacht. Nicht einmal ein Brot würde dir jemand noch verkaufen.
- Diese Qualer erleide ich nur wegen der Geliebten. Weiß sie, daß ich um ihretwillen leide?
- Sie weiß es.
- Das ist mir genug, um bis zum Jüngsten Tag zu atmen.“    

Wie die Liebe zwischen Menschen eine beschützende, zärtliche und vertrauenswürdige Seite habe, so könne sie zugleich auch wütende, eifersüchtige, grausame Formen annehmen. Kermani nutzt diese Parallele zwischen der Liebe von Mann und Frau und der Liebe zu Gott an späterer Stelle auch für eine – selten lässt sich dieses Wort für literaturwissenschaftliche Analysen verwenden – wunderschöne Interpretation von Kleists „Amphytrion“. Dass Leid, Wut, Zweifel und Distanz mit der Liebe zu Gott, wie sie in religiösen Texten und Geschichten berichtet wird, nicht unvereinbar ist, zeigt er an vielen Beispielen. So werde erzählt, dass man in den Baracken von Auschwitz Gott selbst den Prozess gemacht habe:

„Im Morgengrauen wurde das Urteil verkündet: Wegen der ungeheuerlichen Unterlassungen, die Er sich an seinen Kindern hat zuschulden kommen lassen, wird der Heilige, gelobt sei Er, mit sofortiger Wirkung aus der Gemeinde ausgestoßen! – Es war, als hielte der Kosmos den Atem an. ‚Kommt‘, seufzte endlich der Rabbi, ‚und jetzt gehen wir beten.‘“

Kermanis Betrachtung der Liebe dient letztlich nicht einem gefühlsduselig-kitschigen Glaubensbekenntnis, sondern unterstreicht mit Nachdruck die Forderung, Meinungsvielfalt auch in religiösen Gesellschaften zuzulassen: „Die Größe einer Kultur erweist sich, wo sie den Affekt gegen ihre größten Autoritäten zuläßt, sogar den Affekt gegen Gott.“

In der Begründung für die Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hieß es, der Autor stelle sich der „Erfahrungswelten von Menschen unterschiedlichster nationaler und religiöser Herkunft“. Die Wahl der Autoren, mit denen er sich beschäftigt, ist dafür eine Bestätigung. In dem kenntnisreichen Essay „Der Auftrag der Literatur“ über die Auseinandersetzung des iranischen Schriftstellers Sadeq Hedayat (geb. 1903 in Teheran, gest. 1951 in Paris) mit Franz Kafka heißt es: „Indem er über Kafka schrieb, schrieb Hedayat über sich selbst.“ Genauso bei Kermani: Weil er selbst als Kulturvermittler fungiert, interessiert er sich für die großen Schriftsteller der Weltliteratur; für jene Autoren, die sich schon früher einem Dialog zwischen den Nationen und dem Kampf für Toleranz gewidmet haben. Er schreibt über Lessing, der mit seinem „Nathan der Weise“ die Religionen einander annähern wollte, dessen weniger bekannter Einakter „Philotas“ viel über Terrorismus aussagt; auch Goethe, der mit seinen „Talismanen“ den Islam „so prägnant, poetisch elegant und zugleich vieldeutig“ erfasse wie kein anderes ihm bekanntes Gedicht.

Manche mögen Kermanis Essays und Reden pathetisch finden, vielleicht sogar zuweilen kitschig; radikal jedoch sind sie keinesfalls und nirgends. Jeder Text ist durch eine je ganz besondere Verbindung von „Koran und Kafka“, also Literatur und Religion, Literaturwissenschaft und Theologie, westlichem und östlichem Denken, immer schon pluralistisch in sich.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 24.11.2015 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Navid Kermani: Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
365 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406666629

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