Was es heißt, Iraner zu sein

In seinem historischen Roman „Der Kalligraph von Isfahan“ erkundet Amir Hassan Cheheltan vorsichtig die Multikulturalität seines Heimatlandes

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Deutschland wirft man die Begriffe gern durcheinander: „Iraner“ und „Perser“. Sie werden unhinterfragt als Synonyme verwendet. Das entspricht allerdings nicht der Realität. Zwar sind alle Perser Iraner, aber nicht alle Iraner Perser. Denn da gibt es noch die Aserbaidschaner, Kurden, Belutschen, Araber, Turkmenen – nicht zu vergessen die Zoroastrier, Christen und Juden im Land.

Mit der Frage, was es heißt, Iraner zu sein, beschäftigt sich der 1956 in Teheran geborene Amir Hassan Cheheltan in seinem Roman Der Kalligraph von Isfahan – wenn auch zögerlich. Der Schriftsteller ist hierzulande kein Unbekannter. Und vielleicht liegt es am Interesse der hiesigen Leser, dass er entschieden hat, die Welterstveröffentlichung seines Romans auf Deutsch zu genehmigen. Seltsam dann nur, dass sein Verlag mit diesem Pfund nicht wuchert. Erst im Nachwort des Übersetzers Kurt Scharf erfährt man, dass Der Kalligraph von Isfahan im Iran überhaupt noch nicht erschienen ist.

Aber zum Inhalt: Ein namenloser Ich-Erzähler, der aus einer Familie von Kalligraphen stammt, verliert seinen Vater. Seine Mutter überreicht ihm daraufhin ein Holzkästchen des Vaters, in dem der Ich-Erzähler einen Stammbaum der Familie entdeckt, der acht Generationen zurückreicht. Er findet darauf die Notiz, dass eine gewisse Marie Petit Mutter seines Vorfahren Allahyâr gewesen sei. Ihre Geschichte könnte von Daniel Defoe stammen: „Marie Petit war zu Beginn des 18. Jahrhunderts zusammen mit einer französischen Delegation von König Ludwig XIV. von Frankreich an den iranischen Hof entsandt worden. Sie pflegte sich, ohne dass ihr eine bestimmte Funktion in dieser Delegation zugekommen wäre, als Vertreterin der französischen Prinzessinnen vorzustellen.“

Angeregt von diesem ungewöhnlichen Fund, will der Ich-Erzähler mehr erfahren. In Delhi entdeckt er ein Büchlein, das sein Vorfahre Allahyâr geschrieben hat, und entscheidet, dessen Eigenhändigen Bericht des Enkels des großen Kalligraphen aus der Zeit der Belagerung von Isfahan mit leichten Änderungen und Kommentierungen für seinen Sohn zu publizieren: „Gerade heute sollte die junge Generation erfahren, wie ihre Vorväter gelebt haben und wie die Zeiten damals gewesen sind.“ Cheheltan macht seinen Ich-Erzähler so zum fiktiven Herausgeber des Eigenhändigen Berichts des Enkels. Dann übernimmt Allahyâr die Erzählung – mit Einschüben des fiktiven Herausgebers – und führt den Leser ins Isfahan des Jahres 1722: Sein Großvater ist ein bedeutender Kalligraph und Sufi, der den Mystiker und Dichter Rumi verehrt und seine Arbeit ausschließlich dessen Epos Massnawi widmet.

Der Großvater ist eine der zentralen Figuren – er ist der weise, einfach lebende Sufi, dessen Wirken den Zorn der schiitischen Orthodoxie auf sich zieht. Denn er ist eine Gefahr für ihre Autorität und ihr „Monopol“, den Glauben auszulegen. Ein zweites Thema des Eigenhändigen Berichts ist die krasse Wesensveränderung der stolzen Isfahaner infolge der Belagerung durch die von ihnen als „barfüßig“ bezeichneten Afghanen. Allahyâr beschreibt ausführlich, wie die Menschen hungern und ihre Moral abstreifen. Sie essen Blätter, rauben und töten Menschen und schänden sogar Leichen.

Um den Niedergang nicht mitansehen zu müssen, entscheidet der Großvater zu sterben. Seine Frau folgt ihm, nicht aber sein Enkel. Um zu überleben, beginnt Allahyâr, die Arbeiten des Großvaters zu kopieren und dreht sie gewieften Honoratioren, dem Meister der Kaufmannsgilde und dem Obermollah, an. Ihnen fehlt es an nichts, während die Stadt leidet. Wenn man Vergleiche zur Lage im modernen Iran ziehen will, ist das eine wohl nicht unbeabsichtigte Reaktion. Der Kalligraph von Isfahan kann so auch als Porträt der iranischen Gesellschaft in der heutigen Zeit gelesen werden.

Gleichzeitig ist Cheheltans Text aber auch ein Adoleszenzroman. Allahyâr erzählt rückblickend vom Erwachsenwerden in einer Ausnahmesituation, die zur Normalität wird und die Menschen gleichgültig und passiv werden lässt. Der Enkel schildert seine Entdeckungen in Liebe und Sexualität und die Verlockungen durch Frauen und Männer. Sein älterer Freund Ssohrâb erregt ihn durch Geschichten über Prostituierte. Die ältere Freundin seiner Kindheit, die Christin Manusch, ist in ihn verliebt, ohne dass Allahyâr das lange Zeit bemerkt. Er begehrt eine jüngere Frau namens Jasmin, die aber einen hohen Preis hat: Allahyâr soll zuerst ihren Verlobten rächen, der auf Befehl des Obermollah getötet worden ist.

Woran kann man festhalten, wenn das Eigene real oder scheinbar bedroht wird? Für Cheheltan ist es die persische Sprache, ihre Literatur und das im Iran geschaffene Nastaliq, eine Stilart der Kunst, schön zu schreiben. Der Kalligraph von Isfahan ist eine Hommage an die persische Literatur – von Rumi über Tausend und eine Nacht bis etwa zum Roman Frauen ohne Männer von Shahrnush Parsipur. Er enthält Auszüge aus Rumis Massnawi, Fabeln, Parabeln und Zoten, die diskutieren, wie man handeln sollte, um in Unfreiheit zu überleben, oder die offen Kritik an den Mächtigen üben.

Doch kommen wir zum wichtigsten Thema des Romans: „Wir sind Iraner und wissen nicht, was es heißt, Iraner zu sein. Das ist für uns ein Rätsel. Auch die historische Kontinuität dieses Landes ist ein Geheimnis.“ Wahre Worte, die der Ich-Erzähler im Vorwort ausspricht. Es gibt Iraner, die über die Geschichte ihres Landes nur wenig oder fehlerhaft informiert sind. Das liegt daran, dass den Iranern seit der Pahlewi-Zeit gelehrt wurde, dass die Perser arischen Ursprungs seien und eine höherwertige Kultur besäßen als Aserbaidschaner, Mongolen und Araber. 1934/35 wurde auf Befehl von Reza Pahlawi das Land auch offiziell in Iran, „Land der Arier“, umbenannt. Die Pahlewis beabsichtigten, einen zentralistischen, rein persisch geprägten Nationalstaat zu schaffen. Geschichtsschreibung diente ihnen dazu, die Bevölkerung zu indoktrinieren – etwa indem sie die vorherige Dynastie, die aserbaidschanischen Kadscharen, verunglimpften und sich selbst als Modernisierer glorifizierten.

Dass der Ich-Erzähler aus dem Vorwort des Romans in diesem Geist sozialisiert worden ist, wird offensichtlich, wenn er von seiner Heimat spricht, die „mehrere Jahrhunderte lang Tummelplatz von Eindringlingen“ gewesen sei, und damit Araber, Mongolen und Turkvölker meint. Sein Resümee jedoch zeigt einen Wandel in seinem Denken, denn er sagt: „Genau deshalb verstehe ich auch nicht, was Iraner zu sein, wenn man es als Ariertum versteht, in meinem Fall zu bedeuten hatte.“ Es scheint, als akzeptierte er, dass Iran ein multiethnisches Land war und ist. Mongolen und Aserbaidschaner etwa haben das Land fast tausend Jahre regiert und Persisch als Amtssprache erhalten. Als der Ich-Erzähler seiner Frau von Marie Petit und ihrer Liaison erzählt, lacht diese: „,Ich bin sicherʻ, sagte sie, ,dass du nicht so viel französisches Blut hast wie arabisches, türkisches und mongolisches.ʻ“

Rückblick in die Geschichte, modernes Gesellschaftsporträt, Adoleszenzroman, Hommage an die persische Literatur und die Andeutung, dass der Iran ein Vielvölkerstaat ist – Der Kalligraph von Isfahan vermag den Leser durch die Vielschichtigkeit seiner Handlungs- und Themenstränge zu beeindrucken, die Amir Hassan Cheheltan kunstvoll verwebt. Auch wenn der Eindruck entsteht, dass der Roman zu unvermittelt abbricht, einige Längen aufweist, Fragen offen lässt und Figuren wie den Kaufmann und Obermollah eher typenhaft zeichnet, ist seine Lektüre in mehrfacher Hinsicht ein enormer Gewinn für am Iran interessierte deutschsprachige Leser. Die Lektüre ist aber allein schon deswegen lohnenswert, weil der Autor, wenn auch zögerlich, das auch heutzutage vorhandene Selbstverständnis eines Teils der Perser, Arier zu sein, zur Diskussion stellt. Sollte sein Roman im Iran erscheinen, könnte Cheheltan damit auch in seinem Heimatland eine Debatte über die Frage anstoßen, was es heißt, Iraner zu sein. Eine konstruktive Auseinandersetzung darüber wäre geboten.

Titelbild

Amir Hassan Cheheltan: Der Kalligraph von Isfahan. Roman.
Übersetzt aus dem Persischen und mit einem Nachwort versehen von Kurt Scharf.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
347 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406683459

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