Von begeisterter und begeisternder Entdeckerlust

Ulrich Wyss – Aufsätze zur Geschichte der Germanistik

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit der Geschichte der Germanistik sind heute besser als je zuvor – aber diese Grundlagen mussten erst geschaffen und institutionalisiert werden“. Die einleitende Feststellung der Herausgeber des vorliegenden Bandes kann man im Blick auf die nachfolgenden Aufsätze von Ulrich Wyss (*1945) unterschiedlich perspektivieren; die angekündigte Geschichte der Germanistik jedenfalls wird mit Wyssʼ Aufarbeitung von Forschungsgeschichten und der aktuellen Zusammenstellung dieser Überlegungen aus drei Jahrzehnten zweifach eingelöst. Chronologisch sortiert werden „Grimmiana“, „Situationen“ und „Portraits“ zusammengeführt, insgesamt zwei Dutzend kürzere schriftliche Arbeiten. Bei diesem Spektrum ist man gerne bereit, den Herausgebern auch darin zuzustimmen, „dass von einem undisziplinierten, scheinbare Grenzen missachtenden und kombinatorischen Denken ein großes Potential ausgeht“. Ulrich Wyssʼ Denken, soweit aus seinen Schriften ersichtlich, steht für jeden dieser Punkte.

„Wer nur von Wissenschaftsgeschichte etwas versteht, versteht auch diese nicht: weil er die Wissenschaft nicht versteht.“ Diese jüngste Äußerung Wyssʼ zum Organon konkreten Forschens wird man auch im Umkehrschluss verstehen dürfen und müssen: Orientierung in Wissenschaft ohne ein Wissen um deren Geschichte ist auch nicht möglich. Dass die Beschäftigung mit dieser Geschichte, zumal in Germanistik und Skandinavistik, auf kein breites Interesse stößt, ist keine neue Beobachtung.[1] Dass die Professionalisierung der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung, wie Wyss betont, zu kurz greift, findet sich durch die Jahrzehnte bestätigt; bereits Mitte der 1980er Jahre bemerkte Jürgen Habermas im Rückblick auf seine Idee der Universität: „Unrealistisch war offenbar die Annahme, daß sich dem disziplinär organisierten Forschungsbetrieb eine Reflexionsform einpflanzen ließe, die nicht aus der Logik der Forschung selbst hervorgetrieben wird“ – anders gesagt: Als Fach neben Fächern kann Wissenschaftsgeschichte der jeder Disziplin gestellten Aufgabe einer Selbstreflexion nicht gerecht werden. Wenn Habermas Reflexionsschübe in Krisen motiviert sah, so muss man angesichts der allerorts spürbaren „Lust am Untergang“, wie Jürgen Mittelstraß zum Jahr der Geisteswissenschaften 2007 formulierte, die vorliegende Sammlung querdenkender Aufsätze als gewichtigen Beitrag (gerade noch) zu rechten Zeit ansehen. Den Veranstaltungskommentar von Wyssʼ letzter Vorlesung 2010, „Die Germanistik hat es nicht immer gegeben, und es wird sie wohl nicht für alle Zeiten geben“, wird man dann weniger pessimistisch als vielmehr provokativ verstehen dürfen.

Verständlich sind es viele Punkte, die man mehr oder weniger sinnvoll aus ihren Kontexten herausgreifen könnte, um diesen Gesamtbeitrag zu illustrieren. Dabei kann man Wyssʼ Gedankengängen folgen und ihnen in ihrer bisweilen schonungslosen Ausdeutung zustimmen oder man kann ihnen folgen und ihnen nicht zustimmen. Bloß ein wenig Zustimmung oder Ablehnung ist schwieriger, zu deutlich formuliert Wyss regelmäßig seine Überzeugungen, die weder vom üblichen „einerseits – andererseits“ noch von einer bedeutungsschwanger abstrakten Terminologie verwässert werden; Wyss zählt merklich noch zu jenen Germanisten, die dem Ideal einer begeistert-genialen Verknüpfung von ‚gewöhnlichen Worten‘ und ‚ungewöhnlichen Dingen‘ nahekommen.

Durch die Jahrzehnte dieser Beiträge findet sich insofern vieles, das man in Erinnerung rufen möchte. Aus gegebenem Anlass, zudem ein Kernthema des Bandes, etwa Jacob Grimms politische Einstellung, von Wyss prägnant kommentiert: „Hier spricht einer, der sich nicht in die Begrifflichkeit der politischen Fachleute fügen mag, sondern aus seiner Erfahrung als Geschichtsforscher und Philologe vernünftige Konsequenzen zu ziehen versucht“. Das mag man rückblickend unterschiedlich bewerten – faktisch hat hier ein deutscher Philologe politisch mitgedacht, fühlte sich gesellschaftlich zuständig. Jüngste Äußerungen in einer deutschen Philologiezeitschrift demonstrieren demgegenüber ja vor allem, wie man sich als Vertreter der deutschen Philologie gesellschaftspolitisch nicht verhalten sollte. Vielleicht ein Weckruf: „Grimms Philologie, unermüdlich und generös, arbeitete an der Utopie eines Lebens, in dem der Friede, auch der Friede mit der Natur, nicht erpreßt wäre“, wie Wyss bereits 1985 formulierte.

Überhaupt finden sich in Wyssʼ Schriften viele prägnante Feststellungen, die man, wie ich finde, immer wieder zitieren kann, zustimmend oder ablehnend. Sei es seine Forderung, sich als Wissenschaftshistoriker von Zeit zu Zeit als Mythologe zu versuchen, um dem heroic age der Disziplin auf die Spur zu kommen. Sei es der Appell, Kontinuitäten in der Germanistik neu zu  finden – „vielleicht sollten wir sie erfinden“. Damit sind wiederholt auch jüngere Entwicklungen germanistischer Forschung und Gelehrsamkeit berührt, bisweilen attackiert, etwa das schwammige Feld der Medieval Studies, ein „süßes Gift“, das „manche Kollegen in eine Art Rauschzustand“ versetzte; schließlich, so Wyss im Jahre 2003, seien sämtliche Versuche, Zentralinstitute für Mittelalterforschung zu gründen, gescheitert. Wie erfolgreich allerlei lose vereinigte Mittelalterzentren jüngster Zeit noch sein werden, bleibt abzuwarten; wer in ihnen aktiv ist, wird nicht umhinkommen, Wyss darin zuzustimmen, dass „das System der hergebrachten Fachdisziplinen stärker war [und ist] als alle Kombinierfreude und Innovationslust“. Innovationslust zeigen allerdings, um hier diese kleine Kritik zu üben, die Herausgeber des Bandes, die „Wysss“ im rückseitigen Klappentext ein zusätzliches ‚s‘ spendieren.

Besonders interessant scheinen mir schließlich die versammelten Portraits von Instituten und Persönlichkeiten. Man mag einwenden, dass eine so genannte Disziplingeschichtsschreibung sich kaum in der Fokussierung einzelner Personen erschöpfen kann. Dass diese Detailaufnahmen wichtige Bausteine einer oft angestrebten, seltener ernsthaft verfolgten (Re-)Konstruktion einer Geschichte germanistischer Forschung vor allem im 20. Jahrhundert sind, wird man andererseits nicht in Abrede stellen können. Rückblickend urteilt es sich leicht, aber Wyssʼ Charakterisierung der 1970er und 80er Jahre als eine Zeit des „Weiterwurstelns“ in der Altgermanistik lässt sich in Beobachtungen erhärten. Seine Portraits erstrecken sich freilich darüber hinaus. Sie reichen vom König ohne Land, wie Wyss in Anlehnung an Hans Naumann formuliert, Andreas Heusler, bis Alfred Ebenbauer, der in seinen zahlreichen Schriften, darin Heusler ähnlich, den Blick auch einmal über Sprachgrenzen hinaus wandern ließ, die reiche skandinavische Überlieferung mit dem mittelalterlichen Kontinent verband. „Mit guten Gründen“, wie ein einleitendes Zitat von Wyss bemerkt, ist die Herauslösung der Skandinavistik aus dem Verbund der deutschen Philologie dann vielleicht doch nicht überall erfolgt; der entsprechende kurze Beitrag aus dem Jahre 2011 ist leider nicht in den Band aufgenommen. Undiszipliniertes Denken und Entdeckerlust sollten aber vor Sprach- und Kulturgrenzen keinen Halt machen. Insofern sei der vorliegende Band in seiner Breite auch Vertretern der Altskandinavistik zur anregenden Lektüre empfohlen.

[1] Vgl. dazu meinen jüngsten Beitrag „‘Wuchernder Wildwuchs‘? Andreas Heusler und die Mittelalterphilologie“ in ZfdA 144 (2015), 421–431.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Ulrich Wyss: Geschichte der Germanistik. Gesammelte Aufsätze. Herausgegeben von Christian Buhr, Diana Müller, Michael Ott und Martin Schuhmann.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2015.
387 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783825364007

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