Lebensraum und Staatszerstörung

In „Black Earth“ spricht der Historiker Timothy Snyder dem Holocaust seine Einzigartigkeit ab

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon vor dem Erscheinen der deutschen  Ausgabe von Timothy Snyders historischer Studie „Black Earth“ war die Aufregung über dessen gewagte These, der Holocaust sei keinesfalls einzigartig gewesen, verbunden mit der Warnung vor einer möglichen Wiederholung in nicht allzu ferner Zukunft, sehr groß. Nun ist eine solche Vereinfachung der historischen Beweisführung Snyders zunächst einmal ähnlich plakativ und aufmerksamkeitserregend wie der Titel des Buchs, der, ähnlich wie Snyders Vorgängerwerk „Bloodlands“, mehr an einen Thriller denn an eine seriöse historische Untersuchung erinnert. Lässt man die tatsächlich etwas seltsam anmutende Titelwahl des amerikanischen Historikers außer Acht, so muss vorab doch konstatiert werden, dass seine These sowie seine Beweisführung einleuchtend, seine teils langatmige Annäherung an den komplexen Sachverhalt stets logisch und seine Schlussfolgerung im Sinne einer auf historischen Fakten basierenden Spekulation legitim ist. Und doch entzündete sich an genau dieser Spekulation, obwohl sie lediglich knapp zwanzig der rund 370 Seiten einnimmt, eine größere feuilletonistische Debatte um die Legitimation seiner Deduktion. 

Auf den ersten Blick ist „Black Earth“ eine weitere historische Rekonstruktion der Ereignisse, die zum Holocaust geführt haben und bietet somit zunächst keine allzu neuen Perspektiven. Die strenge Fokussierung auf die Vernichtung der Juden führt zu einer von Snyder durchaus so gewollten Vernachlässigung der Schilderungen der Kriegshandlungen selbst, auch wenn sich beide Ereignisse, und das ist eine seiner Kernaussagen, nach 1941 fortschreitend vermengt haben, bis sie nicht mehr voneinander zu trennen waren. Tatsächlich geht Snyder noch einen Schritt weiter, wenn er feststellt, dass der Holocaust letztlich das Ergebnis eines teils bewussten, teils zufälligen Vermengens von Ereignissen war. 

Snyders Kernbegriff ist der der Staatszerstörung. Erst in Gebieten, deren Bewohner dieses Schicksal, das er bereits in „Bloodlands“ eindringlich geschildert hat, erfahren haben, konnte es zur massenhaften Auslöschung jüdischer Bürger kommen: die Tschechoslowakei, Polen, später die baltischen Staaten. Schnell habe Hitler bemerkt, dass seine, so Snyder, weniger auf nationalem denn auf anarchisch-ökologischem Denken basierende Vorstellung einer arischen Herrenrasse, die „minderwertige Rassen“ wie die Slawen unterjochen und die nicht als menschlich angesehenen Juden deportieren, umsiedeln oder ausrotten muss, sich am besten anhand einer systematischen Zerstörung von Staaten bewerkstelligen lässt. Hitlers Ziel, einen wertvollen „Lebensraum“ für die arische Rasse zu schaffen, welcher dieser naturgegeben sei und von den Juden und Slawen okkupiert werde, ließe sich mit einer Zerstörung der staatlichen Ordnung, welche diese schützt, weil sie sie zu Staatsbürgern macht, auf dem schnellsten Wege erreichen. Gefördert wurde dies nicht zuletzt durch die aus dem Hitler-Stalin-Pakt resultierende doppelte Staatszerstörung vor allem Ostpolens; denn in diesen Territorien, die zunächst von der Roten Armee besetzt waren, konnten die deutschen Besatzer von 1941 an auf die Mitwirkung der Bevölkerung an der schonungslosen Verfolgung und massenhaften Ermordung von Juden zählen. Grund war ein aus der sowjetischen Herrschaft entsprungener, von der SS bewusst instrumentalisierter Generalverdacht nichtjüdischer Bürger, die sich anhand einer Kollaboration am Judenmord von dem Makel, eigentlich Kommunisten oder gar Sowjetspione zu sein, reinwaschen konnten. 

Snyder unterlegt seine Thesen vor allem mit Zahlen, die wiederum oft auf Vergleichen basieren. Wenn er also behauptet, dass nur in Gebieten, in denen der Staat zerstört wurde und die Menschen daraufhin jenen Schutz verloren haben, den eine Staatsbürgerschaft ihnen automatisch verspricht, so belegt er dies mit erschreckenden Zahlen. Am eindringlichsten wirkt hier der Vergleich zwischen Litauen und Dänemark. In beiden Ländern habe es in etwa die gleiche, geringe, Anzahl von Juden gegeben. In beide Länder ist das deutsche Heer eingerückt. In Litauen wurde das gesamte Staatskonstrukt zerstört, Verwaltungen aufgelöst, die herrschende Klasse hingerichtet oder vertrieben. In Dänemark beschränkte man sich, auch aus geopolitischen Überlegungen, auf eine Besatzung, das heißt, der dänische Staat konnte weiter existieren, seine Bürger waren weiterhin dänische Staatsbürger, die unter ihrem König und ihrer gewählten Regierung lebten. In Litauen, einem zwischen den Weltkriegen sogar verhältnismäßig judenfreundlichem Land, seien 99 % der Juden ermordet worden. In Dänemark, wo der alltägliche Antisemitismus vor dem Einmarsch weiter verbreitet war als in Litauen, überlebten 99% der Juden. Nun kann man dagegen halten, dass der geopolitische Aspekt (der bei Snyder immer etwas in den Hintergrund rückt) sicherlich stärker ins Gewicht fällt als hier dargestellt, trotzdem sind die Zahlen erschreckend. 

Wenn also, so eine weitere Kernthese des Buches, es vor allem Gebiete waren, wo der Staat zerstört oder gar doppelt zerstört worden ist, in denen der Judenmord stattgefunden hat, warum ist dann gerade Auschwitz als Symbol des Grauens und als Beweis für die Einzigartigkeit des Holocaust in die Geschichte eingegangen? Snyders Theorien werden deshalb  in der Holocaust-Forschung so kontrovers diskutiert, weil er letztlich dessen monströse Einzigartigkeit nicht nur zu widerlegen sucht, sondern auch behauptet, dass eine Wiederholung dann gar nicht so unwahrscheinlich ist, wenn die ökologischen Bedingungen diese forcieren könnten. Auschwitz und die Vernichtungslager seien letztlich nur eine Konsequenz Hitlers aus der Erkenntnis gewesen, dass der Krieg eigentlich nicht mehr zu gewinnen sei. Die Kämpfe, die gegen die Rote Armee auf sowjetischem Boden verloren wurden, wurden an anderen Fronten gegen die Juden Osteuropas ausgefochten. Eine irrationale Art zu handeln, die jedoch, so Snyder, jenem bereits erwähnten ‚anarchisch-ökologischen Denken‘ Hitlers geschuldet war. Für die Erschließung des den Ariern zustehenden Lebensraums müssen erst die „lebensunwerten Juden“ ausgelöscht werden; man habe diesen Raum den Slawen nehmen wollen, die als niedere Lebensform kein Anrecht auf ihn haben. Wenn nun die Slawen sich diesen Raum nicht so leicht nehmen lassen, so ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Juden beseitigt werden müssen. Und weil man immer mehr Kämpfe verlor, wurde mit den Vernichtungslagern eine effektivere Art, dies zu bewerkstelligen, eingeführt. Es waren schreckliche Orte, das betont auch Snyder immer wieder, aber ein Großteil des systematischen Mordens – und vor allem dessen düsterer Kern – habe in den ‚Bloodlands‘ stattgefunden, auf der schwarzen Erde Osteuropas. 

Nun trägt das Buch den Untertitel: „Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann“, und die größte Kontroverse entsprang wie gesagt diesem Postulat. Und doch nimmt sich Snyder nur jene rund 20 Seiten am Ende seines Buches, um diese Überlegungen auszuformulieren, und er tut dies zudem noch allzu formelhaft, wenn er einfach sämtliche Brandherde auf der Welt durchgeht und auf ein paar Seiten erwähnt, warum hieraus ein neuer Holocaust entstehen kann. Die Chinesen haben keine Rohstoffe, aber genug andere Ressourcen. Die Russen wiederum haben fast nur Rohstoffe, die sie exportieren können. Aus beidem könnte ein Mangel entstehen. Wasser wird auf der ganzen Welt knapp. Die Gefahr, dass ein Staat aufgrund eines Mangels Lebensraum erobern will und als Mittel zum Zweck eine bestimmte Bevölkerungsgruppe verantwortlich für den Mangel macht – seien es wieder Juden oder Moslems oder gar Homosexuelle – wie seinerzeit Hitler die Juden, die mit ihrem humanistischen Denken die naturgemäße Vorherrschaft der arischen Rasse per se negierten und somit auch deren Anrecht auf Lebensraum (etwa den fruchtbaren Boden der Ukraine), sei nach wie vor gegeben. Gerade Russland sei hier ein gefährlicher Faktor. Und warum sollte eine Verkettung unglücklicher Umstände dann nicht wieder zu einem grenzüberschreitenden Genozid an dieser Bevölkerungsgruppe führen? Snyder sieht die Gefahr als nicht allzu klein an.

Ob man nun diesen Überlegungen folgen möchte oder nicht, auch ob man die starke Fokussierung auf die Staatszerstörung als Ursprung des Holocaust teilt, das sind Fragen, die sich der Leser selbst stellen muss. Tatsächlich gelingt es Snyder zu großen Teilen, einen durchaus mitreißenden, aber niemals – wie der Titel vermuten lässt – reißerischen Bericht über den Zweiten Weltkrieg zu schreiben. „Black Earth“ ist zwar mit einigen Abstrichen immer noch ein akademisches Buch, doch es ist für den Mainstream-Markt geschrieben, leicht zu lesen, manchmal etwas zu emotional aufgeladen. Ärgerlich ist jedoch, dass es gegen Ende ausfranst, der rote Faden in den letzten Kapiteln verloren geht, wenn Snyder plötzlich beginnt, von den „wenigen Aufrechten“ und der Grauzone des Krieges zu sprechen, und dies ausschließlich anhand von kurz und knapp geschilderten und aneinandergereihten Einzelbeispielen tut, die sicherlich ihre Berechtigung haben, aber nicht in den globalen historischen Rahmen passen wollen. Und auch die bereits behandelten Schlussfolgerungen, warum sich der Holocaust denn nun wiederholen könne, wirken zumindest in ihrer vergleichsweise extremen Knappheit doch sehr spekulativ. Und das ist bei einem Buch, das zuvor detailgenau über viele entscheidende Jahre Weltgeschichte berichtet hat, doch reichlich unbefriedigend.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Timothy Snyder: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulla Höber, Karl Heinz Siber und Andreas Wirthensohn.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
488 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406684142

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