Seiten oder Bretter, die die Welt bedeuten?

Nora Gomringer veröffentlicht mit „ach du je“ Sprechtexte in der „edition spoken script“

Von Lisa EggertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Eggert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Deutschlandfunk-Sendung Freistil zum Thema Poetry-Slam vom 29.11.2015 zitiert den Dichter und Büchner-Preisträger Rainald Goetz, der ein vernichtendes Urteil über diese Form populärer Dichtkunst abgibt: „Bei den Poetry Slams, da kommt zur Idiotie des Prätentiösen die Illusion, dass ein Bier in der Hand genügen würde, um alle grundsätzlichen Fragen zwischen Schrift und Rede mit einem Schluck aus der Welt zu schaffen. Und obendrein sind 90 Prozent der da vorgelesenen Texte bodenlos bieder.“ Goetz, dessen Rasierklingen-Auftritt beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis 1983 ihm zwar keine Auszeichnung, aber ein gewisses Maß an Berühmtheit brachte, wendet sich mit dieser Kritik indirekt auch gegen die diesjährige Preisträgerin Nora Gomringer. Seit mehr als 10 Jahren slamt sie und gehört zu den großen Namen der Szene. Im Deutschlandfunk erwidert die 35-Jährige: „Ja, bieder – vielen jungen Menschen, die sich zum ersten Mal auf die Bühne stellen, fällt ja gar nicht auf, wie bieder und konservativ sie sind, aber ich finde das unglaublich menschlich.“ Ob die Zuschreibung „menschlich“ Goetz‘ Vorwurf nun entkräftet, mag dahin gestellt sein – immerhin geht es ihm offenkundig eher um die künstlerische Qualität dessen, was auf Poetry-Slam-Bühnen gezeigt wird, als um die Frage nach der Erfahrung bzw. Professionalität der jeweiligen Interpret*innen.

Die Frage nach der Kluft zwischen Schrift und Rede lässt Gomringer interessanterweise unbeachtet. Dabei ist es genau das, was der deutsch-schweizerischen Lyrikerin immer wieder vorgeworfen wird: Ihre Texte „funktionieren“ vor allem durch ihre Performance und eben nicht als Lesetexte. Dass für Gomringer selbst die „Niederschrift […] ein Behelf [ist], um das Lyrische schlechthin zur Erfüllung zu bringen“, ist dem Nachwort der Textsammlung ach du je zu entnehmen. Dieses Ensemble verschiedener Texte ist in der Reihe „edition spoken script“ des Verlags Der gesunde Menschenversand erschienen. Die „Sprechtexte“, wie es im Untertitel der Reihe heißt – es handelt sich hierbei hauptsächlich um Lyrik und ein wenig Kurzprosa – sind auf fünf Kapitel unterschiedlicher Länge verteilt, deren Überschriften ihrerseits buchstäblich das Prinzip der Oralität reflektieren: „Du hast nichts vom Ende erzählt“, „Es bleibt doch stets beim Hören (sagen)“ und „LAUT! Lesen!“. Hinter dem Titel Drei fliegende Minuten verbirgt sich das Libretto zu Helga Pogatschars gleichnamigem Opernprojekt. Hierdurch zeigt sich neben dem Poetry-Slam eine weiteres Format literarischer Mündlichkeit: die Oper. Paul-Henri Campbell verweist im Nachwort des Bandes darauf, dass Gomringer „eine für das postdramatische Musiktheater typische Mischung von Sprechweisen bzw. Textsorten wie dem Soliloquium, der liedhaften Lyrik, der Auflistung, dem Kinderspiel, dem Dialog, dem Reverie, der Konstatierung usf.“ verfolge.

Überhaupt erscheint der Band als eine bunte Sammlung vielfältiger Formen und Genres. So wirft das Gedicht tobias lyrische Schlaglichter auf jene Erzählung, mit der die Autorin in Klagenfurt die Jury überzeugen konnte. „tobias / ist tobias / war tobias / tobias gefallen aus luft / auf erde / ja klar / war tobias / noch alle wieso / ganz wieso / warum / wer fällt 13. stock / oh je unglück / kleine schwester spricht kein l.“ Daneben zeigen Erzählungen wie der märchenhafte Gang mit Hermelin eine andere Form der „Spracharbeit“. Etwas entrückt bewegt sich die Erzählstimme hier durch eine an Alice im Wunderland erinnernde Bergwelt und betreibt Konversation mit besagtem Hermelin.

Auch die Antike wird bemüht: „Erkläre mir, Muse, den Mann“ ist nicht nur ein direkter Verweis auf die Odyssee. Hier wird anhand verschiedener weiterer mythologischer Helden eine Anthropologie des Mannes vorgestellt, die sodann mit den wenig heroischen Protagonisten aktueller Tragödien – namentlich Josef Fritzl und Anders Behring Breivik – kontrastiert werden. Die Synthese aus Held und Untier wird schließlich vom (weiblichen) lyrischen Ich geschaffen: „Schwarz-weiß ist die Welt, die der Mann / – oft farbenblind – auf seinen Schultern trägt / Ich käme zu küssen, das alles in Farbe zu tauchen. Versprochen. / Ich bitte dich, schick mir den einen, den andern, mal den / Und mal den, damit ich erkenne, wie einzeln sie alle, wie kostbar so mancher, wie schön. […] Ja, ich bin eine Sammlerin, webe den Teppich erneut / und warte ergeben / Komm, Muse, erklär mir die Männer. / Komm, Muse, erklär mir die Welt.“

Sicherlich ist das Gedicht anspielungsreich und findig konstruiert, legt diverse Fährten und spannt einen weiten kulturellen Horizont auf. Jedoch mag es zumindest als geschmacklich fragwürdig erscheinen, Fritzl und Breivik mit der klischeehaften weiblichen Migräne engzuführen. Darüber hinaus erscheint das Gedicht vor allem in seinem Aussagengehalt ziemlich bieder; wie auch in Vorbei bin ich, dem Text, mit dem der/die Leser*in in den Band einsteigt, wird hier vor allem mit überkommenen Geschlechterbildern gearbeitet; ebenso wenn es im Lied vom missglückten Ernstgenommenwerden aus dem Libretto zu Drei fliegende Minuten heißt: „Wenn man als junge Frau etwas will / Lernt man lügen, lächeln und ‚sei still‘ […] Wenn man als junge Frau daliegt und denkt / Wär‘ er ein anderer, wär’s nicht verschenkt, nicht so schlimm / wär nicht alles zu spät und eben nur vieles dahin“; oder im späteren Verlauf des Librettos: „Dem wollte ich Kinder geben, / mein Leben, vielleicht das, was sie ‚alles‘ nennen“.

Vielleicht tut eine nicht-ironische Lesart den Texten unrecht, vielleicht liegt dies vor allem an der Verschriftlichung der Sprechtexte, und bestimmt weisen sie auch literarische Qualitäten auf – das zeigt sich insbesondere in der Kurzgeschichte Haus bestellt, die angenehm unpathetisch und dennoch berührend vom Tod der Mutter erzählt. Dennoch erscheinen gerade jene Gedichte, die sich laut Nachwort mit der „Gefühlsprägung der westeuropäischen Weiblichkeit“ befassen, wie Hausfrauenlyrik aus einem Brigitte-Blog. Wenn in Vorbei bin ich alle paar Minuten die Sprecherin mit sich ringt, ihren Geliebten nicht anzurufen und stattdessen versucht, ihren Liebeskummer zu verbalisieren, wirkt das in der lesenden Rezeption ungemein schematisch – im Grunde bieder und konservativ. So lässt sich die ironische Haltung hinter einigen Texten zuweilen nur vermuten und bleibt undeutlich markiert. So witzig und energiegeladen Gomringers Auftritte sind, soviel Ausdruck und Farbe in ihrer Stimme liegen, so blass wirkt ihre Dichtung auf dem Papier. Das Konzept der „edition spoken script“-Reihe, die „Mündlichkeit der Texte“ zu bewahren, „den Reiz des Hörens durch jenen des Lesens“ zu ergänzen und so die „gesprochen verschriftlichten Texte unabhängig von den Interpretinnen und Interpreten ein Eigenleben entwickeln“ zu lassen, wird seinem eigenen Anspruch nicht gerecht.

Man muss nicht denselben Schluss ziehen wie Goetz, dass hinter der Performance keine literarische Qualität zu finden sei. Aber man kann sich fragen, ob Texte, die für den mündlichen Vortrag auf der Bühne geschaffen wurden, überhaupt ohne jeglichen ästhetischen Verlust ins Medium der Schrift übertragbar sind, oder ob der Poetry Slam nicht vielmehr – als eigenständige Form der Literatur – sein natürliches Habitat eben in der Performance und nicht im Buch hat.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Nora Gomringer: achduje.
Der gesunde Menschenversand, Luzern 2015.
150 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783038530138

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