Von Mowgli bis zum Kriegsgeheul

Der Anglist Stefan Welz schreibt die erste deutsche Biografie über den großen englischen Schriftsteller Rudyard Kipling

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rudyard Kipling war eine schillernde Persönlichkeit, die von den meisten leider bis heute nicht richtig (ein)geschätzt wird. 1865 in Bombay geboren, aufgewachsen in Indien, dann in England, wurde er in Indien Journalist und schrieb neben seinen Artikeln Kurzgeschichten, mit denen er schnell bekannt wurde. Bereits 1883 waren sechs Bände erschienen, viele von ihnen spielen im anglo-indischen Milieu, manche unter den einfachen Soldaten und Ingenieuren, aber auch unter den muslimischen und hinduistischen Indern. Häufig setzt sich Kipling in ihnen durchaus kritisch mit den Zuständen der englischen Verwaltung auseinander, ist ironisch bis hin zum Sarkasmus, wobei er die grundsätzliche Notwendigkeit des Empires, Indien zu beherrschen, nicht kritisiert.

1889 geht Kipling nach London, wo er mit weiteren Erzählungen und Gedichten sehr populär und sogar berühmt wurde. Vor allem seine Virtuosität, mit unterschiedlichen Slangs und Jargons zu jonglieren, verschiedene Töne genau zu treffen und sie zu variieren, ist bis heute unübertroffen. Auch sein harter Realismus, mit dem er das Leben der Unterschicht beschrieb, und die neuen Techniken, wurde im literarischen London des Ästhetizismus sofort bemerkt – nicht immer mit Begeisterung. Aber Kipling brachte damit einen völlig neuen Ton in die Literatur. Viele seiner Balladen wurden begeistert von der gesamten Bevölkerung aufgegriffen und sogar gesungen, die Soldaten fanden sich in ihnen ebenso wieder wie die Arbeiter.

1892 heiratet Kipling die Amerikanerin Caroline Balestier, die Schwester eines früh verstorbenen Freunds, und lebt mit ihr in Vermont, wo er unter anderem „Das Dschungelbuch“ schrieb, wohl bis heute sein berühmtestes Buch. Es folgten „Captains Courageous“ und sein kritischer und in die Zukunft reichender Blick auf das Empire, das Gedicht „Recessional“, zum 60. Thronjubiläum von Königin Victoria. In Afrika befreundete er sich mit Cecil Rhodes, in Amerika mit Theodore Roosevelt. 1901 erschien sein Roman „Kim“, eine der schönsten Geschichten über Indien, die es bis heute gibt. 1907 bekam er den Nobelpreis verliehen, als erster englischer Autor und bis heute jüngster.

Es ist ein wechselhaftes Leben, das Kipling führte. Früh war er berühmt und ist noch heute nach William Shakespeare der meistzitierte Autor in England. Viele Autoren hat er beeinflusst, viele haben ihn bewundert, oder, wie Bertolt Brecht, auch beklaut (der, als man es ihm nachwies, in etwa sagte: „In Fragen geistigen Eigentums bin ich etwas lax.“). Eng war er mit dem englischen Imperialismus verbunden, den er bejahte, dem er aber auch eine erzieherische Aufgabe zusprach. Die anderen Kulturen hat er oft als gleichwertig beschrieben, doch gibt es in seinem Werk sogar rassistische Züge. Den Ersten Weltkrieg begrüßte er, weil er schon früh die Gefahr erkannte, die von Deutschland ausging. Als sein ältester Sohn 1915 im Alter von 18 Jahren fiel, schrieb Kipling auf den Grabstein: „If any question, why we died, tell them, because our fathers lied.“

Diesem spannenden und oft widersprüchlichen Leben geht jetzt der Anglist Stefan Welz nach. Sonderbarerweise ist es die erste deutsche Biografie überhaupt. Und leider, so ist zu konstatieren, muss Welz’ Biografie als erster Versuch betrachtet werden. So ist seltsamerweise fast nur von den Inhalten von Kiplings Kurzgeschichten und Gedichten die Rede. Von seinem überragenden Stil, von dem man sich in den Neuausgaben von „Captains Courageous“ und den späten Erzählungen ein Bild machen kann, die jetzt erschienen sind, ist nur sehr wenig die Rede, wenn überhaupt. Schon eine oberflächliche Analyse dieses Romans hätte beispielsweise sein Tempo, seine überragende Fähigkeit, Charaktere in wenigen Strichen lebendig werden zu lassen, seinen enormen Wortschatz (nach Shakespeare der größte aller Engländer) und seine sprachliche Finesse sowie extreme Flexibilität zeigen können – und dafür ist er berühmt geworden. Das streift Welz nur, was ein großes Manko dieses Buchs ist.

Ein weiteres sind seine Versuche, Kipling psychologisch zu deuten. Da versteigt sich Welz mitunter zu abenteuerlichen Formulierungen oder durch nichts erklärte Volten: So ist Kiplings kindlicher Zusammenbruch in England unter anderem „ein kindlicher Wunsch nach Bestrafung der Eltern für deren Abwesenheit“. Mehrfach spekuliert er über Kiplings angebliche Homosexualität, ohne irgendetwas belegen zu können. Bei einer Geschichte von Kipling konstatiert er „eine unterkühlte Art, in der die aufkeimende Liebe zwischen ihr (der weiblichen Hauptperson) und Ingenieur Scott beschrieben wird“ und stellt dann die für einen Anglisten unerhörte Frage: „Warum soll es in Kiplings Leben anders gewesen sein?“ Normalerweise unterscheidet man zwischen den Figuren, dem Erzähler und dem Autor. Oder man belegt seine These genau. Welz tut beides nicht.

Mehrmals betont der Biograf, dass Kipling Schiffen und Lokomotiven menschliche Charaktereigenschaften unterlegt – auch hier gibt es keine Beispiele und keine Ausführungen zu diesem überaus interessanten Detail. Dabei hat er sich über dieses Thema habilitiert. Zudem benutzt Welz mehrfach seltsame Formulierungen, die Kipling, dem größten Stilisten Englands, sicherlich nicht angemessen sind. So habe die geringe „emotionale wie auch wertphilosphische Verankerung in einer ihm letztlich fremden Gesellschaft“ (der USA) zu einer Sinnkrise geführt, einmal erklärt er ihn pathetisch zum „Gralshüter spätviktorianischer Werte“ oder schreibt: „Nunmehr schwellen seine patriotischen Gesänge lautstark bis zum Kriegsgeheul an.“ Auch das ohne genauen Beleg. Insgesamt findet Welz bei Kipling einen „unterdrückten Selbsthass, der aus einem profunden Schuldkomplex erwachsen ist“. Oft betont Welz auch Kiplings „Deutschenhass“, wo doch die reale Gefahr für den Weltfrieden, die vom Kaiserreich ausging, sich 1914 für jeden sichtbar manifestierte.

Zum Glück sind solche Ausrutscher selten, hätten allerdings, wie manche stilistischen Eigenarten und Wiederholungen (auf Seite 140 steht derselbe Satz gleich zweimal) durch einen guten Lektor korrigiert werden müssen. Immerhin muss man konstatieren, dass Welz uns mit Kipling bekannt machen will und sein Weltbild, seine Lebensumstände, seine politischen Verirrungen ebenso nacherzählt wie er uns leicht fasslich die spannenden Zeitumstände sowohl in England als auch in Indien und Amerika erklärt. Wer kann, greife, wenn er keine englische Biografie lesen kann oder will, wenigstens ergänzend zu den stilistisch ausgereifteren Essays des exzellenten Kipling-Übersetzers und Kenners Gisbert Haefs, die allerdings nur verstreut erschienen sind. Unter anderem in „Über Bord“ oder in den „Späten Erzählungen“.

Titelbild

Stefan Welz: Rudyard Kipling. Im Dschungel des Lebens.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2015.
272 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783650400307

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