Lichtschriftzeichen

Der Band „Auge in Auge“ versammelt Roland Barthes’ Texte zu Photographie(n) und Photographen

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrer 1982 erschienenen Einleitung „Das Schreiben selbst: Über Roland Barthes“ zu A Barthes Reader, die 2001 in der Essay-Sammlung Worauf es ankommt wieder abgedruckt wurde, weist Susan Sontag darauf hin, dass Barthes’ Schreiben wesentlich aphoristisch geprägt sei: „Man könnte tatsächlich Barthes’ Werk nach glänzenden Kleinodien – Epigrammen, Maximen – durchsuchen, um daraus ein kleines Buch zu machen, wie man es bei Proust und Wilde gemacht hat.“ Nun, ein solches „kleines Buch“ ist noch nicht realisiert; dank Peter Geimer, Professor für Neuere und Neueste Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, und Bernd Stiegler, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Konstanz, liegen jetzt allerdings Kleine Schriften zur Photographie vor – und damit ein nahezu komplettes Best-of der Barthes’schen Photo-Texte.

Die in Auge in Auge ver- und gesammelten phototheoretischen Essays sind chronologisch geordnet und reichen von 1953 („Gesichter und Gestalten“) bis zu Barthes’ Tod im Jahr 1980 („Proust und die Photographie. Durchsicht eines wenig bekannten photographischen Archivs. Seminar“). Sieben der 24 mal mehr, mal weniger umfangreichen Texte und Textauszüge sind hier erstmals ins Deutsche übersetzt, darunter ein Beitrag, der bereits teilübersetzt in den Mythen des Alltags erschienen ist. Insgesamt ergänzen 161 Abbildungen Barthes’ Betrachtungen, darunter neun, die sich „nicht in der Originalpublikation“ finden. Bei diesen handelt es sich – wie die Herausgeber in ihrem sehr hilfreichen, Barthes’ Kerngedanken summierenden Nachwort erwähnen – nur um „solche Photographien […], auf die Barthes in seinen Bemerkungen explizit Bezug nimmt, kein illustratives Beiwerk.“ „Wie lesen wir eine Photographie? Was nehmen wir wahr? In welcher Reihenfolge, nach welchem Ablauf? Was heißt überhaupt wahrnehmen?“ All diese von Roland Barthes gestellten Fragen können als leitend für den Sammelband gelten. Man könnte sie noch um die Frage ergänzen, ob gar die Bezeichnung ‚Photographie‘ selbst ein wenig mehr Licht ins Dunkel zu bringen vermag. Der Kunstwissenschaftler Steffen Siegel berichtet in seinem instruktiven Text „Der Name der Fotografien. Zur Entstehung einer Konvention“ in der Zeitschrift für Ideengeschichte (Heft VII/1, Frühjahr 2013) von den spannenden und einfallsreichen Überlegungen, der neuen Technik der Bildproduktion einen Namen zu geben. So stellte Joseph Nicéphore Niépce (1765-1833), der französische Vater der Photographie, im Jahr 1832 eine Systematik mit griechischen Begriffen auf, die seine Abbilder greif- und begreifbar machen sollten: „Im Einzelnen vermerkt finden sich hier: physis, auté, graphé, typos, eikón, parastasis und aléthés. Kaum weniger als ein kleiner medientheoretischer Bausatz ist es, den Niépce auf diese Weise zusammenstellt.“ Siegel fährt fort und übersetzt: „Die von Niépce in seiner Liste notierten Stichworte jedenfalls haben von ihrer Aktualität für heutzutage geführte Debatten zur Bildmedientheorie kaum etwas eingebüßt: Natur, Selbsttätigkeit, Schrift, Abdruck, Bild, Repräsentation, Wahrheit.“

In der Tat scheinen diese ‚Namen‘ von bestechender Treffsicherheit, ja mehr noch scheinen sie einem Barthes’schen Text entnommen zu sein! Denn so wie sich Niépce lexikalisch der neuen Technik nähert, so erkennt man in den in Auge in Auge publizierten Texten einerseits eine immer konzentriertere, andererseits eine immer weitgreifendere, breitere Beschäftigung Barthes’ mit dem Phänomen der Potographie, die als ein Herantasten an die unheimliche, unfassbare Macht der Abbilder, ein Ausprobieren und Über-den-Tellerrand-Blicken charakterisiert werden kann. „So wörtlich sie [die Photographien] auch sein mögen“, heißt es etwa im 1960 erschienenen „Kommentar. Vorwort zu Brechts Mutter Courage und ihre Kinder mit Photographien von Pic“, „sie nehmen dennoch Partei, sie wählen die Bedeutungen aus, sie helfen uns, von einer faktischen Ordnung in eine intellektualistische Ordnung überzuwechseln, sie belichten, das heißt, sie machen sichtbar und erkennbar; ihre Funktion, ihr Vermögen, wenn auch nicht ihre Mittel, sind von der Malerei nicht so weit entfernt.“

Neben Barthes’ sehr speziellen, frühen Betrachtungen von Gesichts-, Theater-, Schock-, Werbe-, Mode-, Film- und Pressephotos findet sich eine erste allgemeine, definitorische Arbeit am Begriff und am Wesen der Photographie im siebten Text des vorliegenden Bandes: „Die Photographie als Botschaft“, erschienen in der Winterausgabe 1961 der Zeitschrift Communications. Hier skizziert Barthes „eine strukturale Analyse der photographischen Botschaft“ vor dem Hintergrund denotierender und konnotierender Elemente beziehungsweise Dimensionen des Bildes. Ohnehin ist in den Texten der 1960er Jahre – vor allem in „Rhetorik des Bildes“ (1964) – der strukturalistische Jargon unüberhörbar: Neben Denotation und Konnotation ist von Signifikat und Signifikant die Rede, von Sem, Opposition und System; zudem zitiert Barthes neben de Saussure auch Hjelmslev, Greimas, Benveniste und Jakobson, um eine „Semiologie der Bilder“ zu erstellen. Der eigentliche ‚Barthes-Sound‘ setzt spätestens im zehnten Text („Der dritte Sinn. Forschungsnotizen über einige Fotogramme S. M. Eisensteins“ aus dem Jahr 1970) ein, in dem es unter anderem heißt (oder besser: tönt): „man könnte umgekehrt – und das wäre genauso richtig – auch sagen, daß sich ebendieser Signifikant nicht leert (nicht leeren kann); er bleibt im Zustand eines unaufhörlichen Erethismus; in ihm mündet das Begehren nicht in jene Zuckung des Signifikats, die gewöhnlich das Subjekt lustvoll in den Frieden der Benennungen zurückfallen läßt.“ Hier ergreift der lustvolle, ja wolllüstige Photographienleser Barthes das Wort und beginnt, Natur und Kultur, Macht und Freiheit, Wirklichkeit und Illusion im ikonisch-indexikalisch-symbolischen Zeichen namens Photographie zu verschränken.

Der amerikanische Schriftsteller Nathaniel Hawthorne (1804-1864) rückt das neue Medium der ‚Lichtschrift‘ in den Fokus seines im Jahr 1851 erschienenen Romans The House of the Seven Gables, indem er den „Lichtbildner“ und „Künstler“ Mr. Holgrave, einen „anständigen, ordentlichen jungen Mann, der die Kunst der Daguerrotypie ausübte“ als Bewohner seines Hauses mit den sieben Giebeln auftreten lässt. Hawthornes Roman ist jedoch nicht nur ein sehr frühes Beispiel für die Erwähnung der Photographie beziehungsweise Daguerreotypie expressis verbis im literarischen Text; er verdeutlicht auch die Art und Weise, wie das neue Medium um die Mitte des 19. Jahrhunderts gesehen wurde: „Die meisten meiner [Mr. Holgraves] Porträts wirken unfreundlich, aus dem einfachen Grund, nehme ich an, weil die Originale es auch sind. Es ist erstaunlich, was am hellen Tageslicht alles zum Vorschein kommt. Wir trauen ihm bloß zu, daß es die reine Oberfläche wiedergibt, dabei enthüllt es den verborgenen Charakter mit einer Wahrhaftigkeit, zu der kein Maler den Mut hätte, selbst wenn er ihn entdecken würde. Meine bescheidene Kunst schmeichelt wenigstens nicht.“ Die Annahme, die Photographie sei fähig, den wahren Charakter eines Menschen darzustellen, ist in Hawthornes Roman von entscheidender Wichtigkeit, und auch Roland Barthes sieht in der physikalisch-chemischen Abbildtechnik ein wesentlich denotierendes, verlässliches, ja unbekümmertes Zeichen am semantischen Nullpunkt, oder mit den Worten der Herausgeber Geimer und Stiegler: „der Traum des Realen, eines präsemiotischen Raums, der noch von keiner Kultur und keiner entstellenden Ideologie berührt worden ist, der Traum eines unschuldigen Reichs der Zeichen.“

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es. Laut einer Schätzung der Venture-Capital-Gesellschaft Kleiner Perkins Caufiled & Byers (KPCB) betrug die Anzahl der täglich per Whatsapp, Snapchat, Facebook, Instagram und Flickr verbreiteten Fotos im Jahr 2014 rund 1,8 Milliarden – Tendenz steigend! Wie viele Worte bräuchte es für eine derartige Bildschwemme? In den Vorlesungsnotizen zu „Vorbereitung des Romans“ (1980) findet sich bei Barthes folgender Eintrag: „1. Die Welt: voller Photos, gesättigt, auf allen Ebenen der Erkenntnis, des (öffentlichen und privaten) gesellschaftlichen Lebens; vielgestaltiger, heterokliter Gegenstand (vgl. die Sprache, die Saussure in Panik versetzt ≠ und dennoch: keine Theorie der Photographie, keine Aufnahme in den Himmel der Hochkultur (Kino, Malerei).“ Und im Interview „Über die Photographie“, ebenfalls aus dem Jahr 1980, sagt Barthes: „Jede Lesehandlung eines Photos, und dazu kommt es milliardenfach im Verlaufe eines gewöhnlichen Tages, jedes Erfassen und Lesen eines Photos ist implizit, in verdrängter Form, eine Berührung mit dem, was nicht mehr ist, das heißt mit dem Tod.“ Derartig eschatologische Gedanken werden wohl die Wenigsten haben, wenn sie tagtäglich von Selfies und Katzenbildern überflutet werden und hin und wieder über den Sinn sinnieren. In „So“, einem nur gut zwei Seiten langen Text aus dem Jahr 1977 über Photographien Richard Avedons (1923-2004), der in Auge in Auge erstmals auf Deutsch vorliegt, schreibt Barthes: „Doch die Photographie ist weder ein Gemälde noch … eine Photographie; sie ist ein Text, das heißt eine komplexe, äußerst komplexe Meditation über den Sinn.“ Die hyperschnellen Photographien des Internetzeitalters, die kaum noch gelesen, sondern nur noch als sinnloses, visuelles, omnipräsentes Hintergrundrauschen konsumiert werden (können), mögen vielleicht eine eigene, neue Ästhetik besitzen, deren theoretische Darstellung erst noch geschrieben werden muss. Roland Barthes’ Kleine Schriften zur Photographie haben hierfür allerdings einen Grundstein von immenser Wichtigkeit und Inspiration gelegt.

Titelbild

Roland Barthes: Auge in Auge. Kleine Schriften zur Photographie.
Herausgegeben von Peter Geimer und Bernd Stiegler.
Übersetzt aus dem Französischen von Horst Brühmann, Dieter Hornig, Dieter Hoch, Agnès Bucaille-Euler, Gerhard Mahlberg, Maren Sell und Birgit Spielmann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
352 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518297551

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch