Verfall einer Familie
Sándor Márais Roman „Die Eifersüchtigen“ porträtiert das Bürgertum der Zwischenkriegszeit
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFamilienromane haben Konjunktur. Vor allem seit der Wiedervereinigung Deutschlands wurde eine kaum mehr überschaubare Zahl deutschsprachiger Familien- und Generationsromane veröffentlicht. Es scheint, als lebe die Gattung auch deshalb wieder auf, weil sich am Beispiel der kleinsten Zelle der Gesellschaft, der Familie, die kulturellen, politischen und sozialen Zeitläufte einer Epoche am eindrücklichsten literarisieren lassen. In den schon durch die unterschiedliche Generationenzugehörigkeit der einzelnen Familienmitglieder vorgegebenen Spannungen bilden sich gleichsam die allgemeinen, meist durch die politische Ereignisgeschichte bedingten Verwerfungen ab und markieren damit geschichtliche Umbruchsmomente und Übergangsphasen.
Der bereits 1937 im ungarischen Original erschienene und nun – nach der ersten, 1947 publizierten Übertragung von Artur Saternus – in einer Neuübersetzung von Christina Kunze im Piper Verlag vorgelegte Roman „Die Eifersüchtigen“ schildert vordergründig auch eine Familiengeschichte, nämlich die der Garrens, und schließt an den ersten Teil („Die jungen Rebellen“) der von Sándor Márai unter dem Titel „Das Werk der Garrens“ zusammengefassten Trilogie an, von der „Die Beleidigten“ bislang noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Gleichzeitig porträtiert der Text aber auch am Beispiel der Familie Garren kulturelle Prägungen und Ausformungen des ehemals österreich-ungarischen Bürgertums in der Zwischenkriegszeit.
Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Geschwister Tamás, Albert, Anna und Péter, aus dessen Perspektive der Erzähler über weite Strecken des Romans berichtet. Auslöser für Péters Heimkehr in die von seiner (Künstler-)Familie seit Jahrhunderten kulturell und administrativ dominierte Stadt ist der nahende Tod des Vaters und Oberhaupts der Familie, Gabor Garren. Der Erzähler gibt nur dürftige Informationen über die genaue Lage der Stadt preis und legt sein Hauptaugenmerk vielmehr auf gesellschaftliche Konstellationen und Lagerbildungen, die sich in den teils antagonistischen Handlungsweisen und -motivationen der weltlichen und geistlichen städtischen Ordnungsmächte sowie der Familie Garren symbolisch verdichten. Sowohl in den Rückblicken der einzelnen Familienmitglieder in die Geschichte der Stadt und der Familie als auch durch die vom Erzähler präsentierte Lebensleistung des im Sterben liegenden Vaters entfaltet Márai noch einmal das große Panorama der österreichisch-ungarischen Geschichte und ihrer Bildungselite.
Obwohl der Roman unverkennbar in der Zwischenkriegszeit spielt, scheinen die Figuren mit ihrer tiefen Melancholie und Zerrissenheit, ihren Endzeitängsten und Verfallslust Wiedergänger der Jahrhundertwende zu sein. In jedem Fall sucht Márai deutlich den Anschluss an die Dekanz-Literatur. Der 1900 als Sándor Károly Henrik Grosschmid im heutigen slowakischen Košice (dt. Kaschau) geborene Márai schrieb vor 1928 als Mitarbeiter der „Frankfurter Zeitung“ und des „Prager Tagblatt“ noch in deutscher Sprache. Mit den Werken deutschsprachiger Dichter der Avantgarden um 1900 war der Autor aufgrund seiner Lehr- und Studienjahre in Frankfurt und Berlin bestens vertraut und plante eine ungarische Übersetzung von Thomas Manns „Buddenbrooks“, für die er allerdings keinen Verlag finden konnte. Die intertextuellen Bezüge zu Manns Roman sind unübersehbar. Auch Márai inszeniert den langsamen Verfall der (groß-)bürgerlichen Familie Garren als symptomatische Erscheinung der Gegenwart und korreliert sie mit der Zeit- und Kulturgeschichte. Die Meisterschaft des Textes liegt jedoch in der Figurenzeichnung: Er lässt sich Zeit für die Charaktere und legt durch multiple interne Fokalisierungen das Innenleben der Geschwister offen. Die äußere Handlung beschränkt sich dagegen auf wenige Gesprächsszenen. Die Einblicke, die dem Leser in die Gefühlswelt der Figuren gewährt werden, lassen die tiefe Isolation der einzelnen Geschwister und ihre Entfremdung voneinander erkennen. Denn keiner erfährt etwas über die Gedanken der anderen, keiner ist in der Lage, auf den anderen zuzugehen.
Für Péter ist das Leben „etwas Schreckliches und Selbstvergessenes, dessen einziger Sinn darin lag, dass man sich danach nicht mehr schuldig fühlte“. Ohne miteinander kommunizieren zu können, sind die vier Geschwister beherrscht von ihren Erinnerungen, deren Erbe sie erdrückt und sie wie Menschen ohne Gegenwart erscheinen lässt. Der Verfall einstiger Größe und das Verschwinden kultureller und politischer Bedeutung wird nirgendwo deutlicher als in dem Verhältnis Péters zu seinem Freund und Arbeitgeber Emmánuel. Als Kaufmann und Finanzjongleur gehört er der neuen (Geld-)Elite an und bleibt als Figur von ebenso dubiosem wie diabolischem Einschlag eine unvergessliche Schöpfung Márais. Emmánuel verkörpert den ungebremsten Optimismus in eine kapitalistische Welt, von deren Entwicklungen er in kluger Weise zu profitieren wusste und in der Konsum, Geld und Gegenwart alles und Vergangenheit nichts sind. Im Verhältnis der beiden wird die unheilige Allianz von Bildungsbürgertum und Finanzwelt augenscheinlich und spiegelt symbolisch die soziale Fragilität der Zwischenkriegszeit wider.
Es ist eine ausgesprochene Qualität des Textes, dass der Erzähler an keiner Stelle Partei ergreift, sondern die unterschiedlichen Triebkräfte jener Jahre durch verschiedene Figuren veranschaulicht. Der Tod des Vaters markiert dann auch das Ende jener alten Zeit, die von der Familie Garren repräsentiert wird, deren Mitglieder wie zeitenthobene Relikte der Vergangenheit inmitten einer für sie feindlich wirkenden und unverständlichen Gegenwart agieren, was der sterbende Vater in seinem letzten Moment erkennt: „Die Seele wusste, dass das Garrentum in unendlichen Varianten weiter wirkte, in der Zeit und in der Welt, aber mit diesen Begriffen, mit der Zeit und mit der Welt, hatte sie eigentlich nichts mehr zu tun.“
|
||