Die Natürlichkeit der Revolution

Jürgen Goldsteins Buch über den Naturforscher, Entdecker und Revolutionär Georg Forster

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Menschenfresser? Aufgeklärte Europäer des 18. Jahrhunderts konnten über solch eine absurde Vorstellung nur den Kopf schütteln. Immanuel Kant hatte von Königsberg aus höchstpersönlich festgestellt, die Vorstellung von Kannibalen irgendwo auf der Welt stehe im Widerspruch zur menschlichen Natur. Ein Schauermärchen also, nichts weiter. Den Neuseeländern, auf die James Cook und seine Mannschaft bei ihrer Weltumsegelung im Oktober 1773 trafen, war diese Argumentation jedoch herzlich egal. Stolz präsentierten sie den Kopf eines erschlagenen Feindes, der von ihrem eben getätigten Mahl noch übrig geblieben war. Noch bemerkenswerter war allerdings, was geschah, als die Eingeborenen an Bord der Resolution das restliche gebratene Fleisch „mit der größten Gierigkeit“ verspeisten: Zwar ekelten sich viele ihrer europäischen Zuschauer bei dem Anblick oder wurden zornig – aber einige bekamen plötzlich „Lust […] mit anzubeißen“, wie Georg Forster später in seiner „Reise um die Welt“ (1777) berichtet.

Für den damals erst 18-Jährigen wurde dieser Moment zu einer Schlüsselszene: Denn von da an vertrat Forster eine Naturanthropologie, die auf Anschauung und Erfahrung setzte statt auf Spekulationen aus der Studierstube. Eben deshalb lasse sich der Naturforscher, Entdecker und große Reiseschriftsteller auch nicht von dem späteren Mitbegründer der Mainzer Republik trennen, betont Jürgen Goldstein in seinem Buch „Georg Forster – Zwischen Freiheit und Naturgewalt“.

Letzteres war in der Forster-Rezeption bisher durchaus üblich, die gern den Revolutionär ignorierte, der 1794 im Pariser Exil als ein in seiner Heimat Geächteter völlig verarmt mit nur 39 Jahren starb. Jan Philipp Reemtsma etwa resümierte: „Die Reise um die Welt war Georg Forsters Leben; der Rest sind unerfreuliche Appendices.“ So ist es gerade nicht gewesen, betont Goldstein: Natur und Politik hätten für Forster stets zusammengehört, ja gerade seine Erfahrung der Welt habe ihn zum Glauben an eine „natürliche Revolution“ gebracht, die sich wie Vulkanausbrüche oder Erdbeben „von selbst“ vollziehe.

Wie in Forsters Denken und Handeln die beiden Schlüsselbegriffe der Epoche, „Natur“ und „Revolution“, kurzgeschlossen wurden, rekonstruiert der in Koblenz-Landau lehrende Philosophieprofessor auf eindrucksvolle Weise: in einem packend-luziden Stil und wo immer möglich „die Kostbarkeit des Wortlauts“ bewahrend mittels Zitatcollagen aus Forsters Tagebüchern, Briefen oder Werken. „Indem er (Forster) die Natürlichkeit der Revolution gegen den Primat der Vernunft betont, bewegt er sich auf der Schattenseite der Aufklärung“, erklärt Goldstein, der in seiner „Entwicklungsbiografie“ nicht streng chronologisch verfährt, sondern sich auf Einzelaspekte konzentriert, auf Kontraste und Bezüge, von den damals unfassbaren Entfernungen, die Cooks Schiffe zurücklegten, bis zur Begegnung mit einem „taihitischen Fresser“, für Forster ein Sinnbild aristokratischer Dekadenz. Das macht Goldsteins Buch zu einer gelungenen Einladung, diesen „ungelesenen Klassiker der deutschen Geistesgeschichte“ wiederzuentdecken. Entschieden zu kurz kommt dabei allerdings Forsters Privatleben, darunter seine gescheiterte Ehe.

Von Vorteil für Georg Forsters intellektuelle Entwicklung war, dass dem 1754 in Nassenhuben bei Danzig Geborenen eine höhere Bildung zeitlebens verwehrt blieb: Dies bewahrte ihn, so Goldstein, in der Begegnung mit den vermeintlich „edlen Wilden“ vor den eurozentrischen Vorurteilen seiner Zeit und bescherte ihm einen unverstellten Blick auf die Natur.

Nach einer ersten Reise als Zehnjähriger an der Seite seines Vaters Johann Reinhold, der im Dienst der russischen Zarin an die Wolga reiste, bot sich den beiden 1772 in London die Chance, an Cooks zweiter Weltumsegelung teilzunehmen, der Vater als Naturforscher, der Sohn als botanischer Zeichner. „Drey Jahre und achtzehn Tage“ lang waren sie auf dem umgebauten Kohlenfrachter HMS Resolution unterwegs, erlebten Einsamkeit, Langeweile und immer neue lebensgefährliche Situationen: zuerst in den unwirtlichen Weiten des antarktischen Eismeers auf der (vergeblichen) Suche nach einem sagenhaften Südkontinent, dann, im denkbar stärksten Kontrast dazu, in der paradiesischen Südsee.

Dort sollte das Erlebnis einer egalitär ausgerichteten Gesellschaft auf Tahiti, wo der König von jedermann angesprochen werden konnte, Forster für immer prägen: Dass für ihn eine Staatsform, die auf der Gleichheit aller beruht, keine Utopie war, sondern auf tatsächlichem Erleben beruhte, unterschied Forster von allen anderen Dichtern und Denkern seiner Zeit, betont Goldstein. Dennoch sei er nicht als Revolutionär nach Europa zurückgekehrt, sondern als „Sklave der Umstände“. Berühmt, zumal nach Erscheinen seiner „A Voyage Round the World“, aber ohne Geld und mit einer zeitlebens ruinierten Gesundheit verdingte sich Forster zunächst als Professor in Kassel, später im polnischen Wilna:  „Ich besinne mich […] ich correspondire mit Fürsten und schreibe ein AbcBuch von der Naturhistorie; ich segle um die Welt, und komme nach Cassel zwölfjährigen Rozlöffeln ihre Muttersprache buchstabiren zu lehren.“

Der Frust ließ ihn einen Streit mit Kant über den Ursprung des Menschengeschlechts vom Zaun brechen, bei dem der philosophisch Ungebildete keine gute Figur abgab. Sein Traum von neuen Expeditionen erfüllte sich nicht – abgesehen von seiner mit dem jungen Alexander von Humboldt 1790 unternommenen Reise durchs Rheinland bis London und Paris: Für Goldstein zeugen Forsters mit ethnologischem Blick geschriebene „Ansichten von Niederrhein“ (1791–94) für eine allmähliche Radikalisierung, bei der Forster revolutionäre Gewalt im Namen einer schicksalhaften Natur legitimierte.

1792 hatte er in Mainz, wo er eine Stelle als Bibliothekar angetreten hatte, die Gelegenheit, die Geschichte mitzugestalten: Als Präsident des Jakobinerclubs wurde Forster Mitbegründer der Mainzer Republik, der ersten Republik auf deutschem Boden – und musste dann von Paris aus, wo er um Unterstützung bat, miterleben, wie preußische Truppen Mainz zur Kapitulation zwangen – während in Paris der staatlich legitimierte Terror der Revolution Zehntausende auf die Guillotine führte. Kurz vor seinem Tod notierte Forster desillusioniert: „Ich schreibe, was ich nicht mehr glaube.“

Titelbild

Jürgen Goldstein: Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015.
302 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783957570901

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