Unversöhnt mit seinem Staat

In seinem letzten Manuskript verarbeitete Max Frisch die Bespitzelung seiner Person durch den Schweizer Staatsschutz zur Zeit des Kalten Krieges

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1991 feierte die Schweiz den 700. Jahrestag ihrer Gründung. Und natürlich war man daran interessiert, die künstlerische Elite des Landes mit in die Feierlichkeiten einzubeziehen. Die hatte allerdings gut ein Jahr vorher erfahren müssen, dass der Staat sie über Jahrzehnte hinweg bespitzelt hatte. Auf gut 900.000 so genannten „Fichen“ – Karteikarten, die von der Schweizer Bundespolizei geführt wurden – waren nach einer festgelegten Systematik Informationen über Privatpersonen und Institutionen aus dem In- und Ausland gesammelt worden, denen man während der Zeit des Kalten Krieges zutraute, aufgrund ihrer weltanschaulichen Einstellungen anfällig zu sein für subversives Denken. Künstler und Studenten gehörten dazu, Gewerkschafter und Anhänger der Friedensbewegung, Linke wie Liberale. Eine Teilnahme an den über mehrere Monate sich hinziehenden Feierlichkeiten unter dem Aspekt, dass sich hier ein Gemeinwesen im Geiste des Rütlischwurs feierte, das seine Intellektuellen einer permanenten „bundesstaatliche[n] Untertanenkontrolle“ unterzogen hatte, kam deshalb für ein Gutteil der eidgenössischen Künstler und Intellektuellen nicht infrage.

Bei Max Frisch (1911 – 1991), der seine „Fiche“ per Post ausgerechnet am 1. August 1990 – dem 699. Nationalfeiertag der Eidgenossenschaft – zugestellt bekam, setzte der Einblick in das dilettantische und teilweise aus Gründen des Personenschutzes geschwärzte Flickwerk noch einmal Kräfte frei. Der an Krebs leidende Schriftsteller – „Meine Onkologin, die am Bett sitzt, kann sich nicht vorstellen, wie ich auch nur drei Minuten aufrecht stehe oder aufrecht sitze zwischen einem Bundesrat und einem Bundesanwalt“ , schrieb er in einem offenen Brief im März 1990 als Antwort auf die Einladung zu einem offiziellen Feierakt der Gründung der Eidgenossenschaft an den verantwortlichen Delegierten des Schweizerischen Bundesrats – verfasst in den Tagen und Wochen nach Erhalt der Dokumente seinen letzten, mit „Ignoranz als Staatsschutz?“ übertitelten Text.

Dessen Grundlage bilden die 13 Karteikarten, auf denen die Behörde zwischen 1948 und 1990 dreispaltig festhielt, womit sich der „Eidgenosse“ Frisch über Jahrzehnte hinweg verdächtig gemacht hatte. Auseinandergeschnitten, neu aufgeklebt und mit eigenen Zwischenkommentierungen versehen, entstand eine Collage, die dokumentiert, mit welch zwiespältigen Gefühlen der Autor auch in seinen letzten Lebensmonaten seinem Vaterland gegenüberstand. Es ist kein literarischer Text im engeren Sinne, auch wenn er in seiner Machart ein wenig Frischs „Montauk“-Erzählung von 1975 ähnelt.  

Allein die 26 Seiten sprühen vor Zorn, Sarkasmus und Ironie. Zumal sie sich auf ein läppisches Dokument voller Fehlinformationen, Lücken und Banalitäten beziehen. Beginnend mit Bemerkungen zu Frischs Teilnahme am Breslauer „Weltkongress der Intellektuellen für Frieden“ 1948 und endend mit einer Eintragung vom 12. 01. 1990, die den „voraussichtlich[en]“ (!) Besuch des zweiten Sekretärs der Berner DDR-Botschaft bei Frisch betrifft, haben ebenso eifrige wie offensichtlich wenig gebildete Beamte festgehalten, was den weltberühmten Autor in den Augen jener, die für die innere Sicherheit im Alpenland zuständig waren, verdächtig machte. Das reicht von Auslandsreisen über als kritisch eingeschätzte Artikel und Stellungnahmen in der internationalen Presse bis zu entstellenden Wiedergaben einzelner seiner publizierten Texte.

Geradezu genüsslich weist Frisch seinen „Sachbearbeitern“ Fehler nach, korrigiert schon auf den ersten Seiten die Angaben zur Person – von seiner zweiten Ehescheidung weiß man beim Staatsschutz offensichtlich nichts, die drei Kinder aus erster Ehe finden genauso wenig Erwähnung wie sein militärischer Aktivdienst, in dem 1940 die „Blätter aus dem Brotsack“ entstanden – , gibt Tipps, in welchen seiner öffentlich zugänglichen Texte man sich hätte genauer über Tatbestände informieren können, anstatt sie aus dubiosen Werbebroschüren zu entnehmen, und trägt schließlich auf fast 10 Seiten zusammen, was den Staatsschützern in den Jahrzehnten der Beobachtung an für ihn wirklich Entscheidendem entgangen ist.

Das Fazit, das er letzten Endes zieht, fällt vernichtend aus: „Ich bekenne, dass ich dieser Regierung kein Vertrauen mehr schenke.“ Und an anderer Stelle: „Kein Eintrag in meiner Fiche (13 Seiten) verweist auf eine verfassungswidrige Handlung […]. Trotzdem werde ich als Schweizerbürger observiert, wenn ich nicht ausser Landes bin, und zwar 42 Jahre lang […]. Observiert wird, wer Meinungen vertritt, die von der Meinung beispielsweise der FREISINNIGEN DEMOKRATISCHEN PARTEI abweichen; das genügt für den Verdacht: Staatsfeind, Landesverräter etc.“

„Ignoranz als Staatsschutz?“ markiert Frischs endgültigen Bruch mit der ‚offiziellen‘ Schweiz. Der Autor sieht sich von „seinem“ Staat in ein Korsett gepresst, gegen das fast alle seiner Roman- und Dramenfiguren Sturm gelaufen sind. „Du sollst dir kein Bildnis machen“, hieß der Satz, den sie sich dazu auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Nun hatte sich die Schweiz aber offensichtlich ein Bild von ihrem prominentesten Autor gemacht, eines, das geprägt war von Borniertheit und Halbwisssen, Ignoranz und nicht haltbaren Unterstellungen. Dem nicht zu widersprechen, ihm nicht ein Selbstbildnis entgegenzustellen, dass die Verzerrungen und Fehler im selben Maße hervorhob, wie es sie gleichzeitig zu korrigieren suchte, kam für den todkranken Autor offensichtlich nicht infrage.

Die beiden Herausgeber, keine Germanisten von Hause aus, sondern an der ETH Zürich mit Fragen der Technikgeschichte und der Geschichte der Sicherheit befasst, haben dem überlieferten und für eine Publikation eigentlich nicht vorgesehenen Text die nötige Sorgfalt angedeihen lassen. Neben einem ausführlich in die Materie einführenden Vorwort finden sich auf jeweils zwei gegenüberliegenden Seiten Faksimile und Transkription der 26 Schreibmaschinenseiten, auf denen sich Frisch mit seiner Akte auseinandersetzte. Auf einen Anmerkungsteil, der keine Wünsche übrig lässt, folgt schließlich ein Faksimile der 13-seitigen Fiche, auf deren erster Seite die Spalten „Urteil“ – leer geblieben – und „Bemerkungen“ – geschwärzt – den Schluss zulassen, dass die gesammelten Informationen bei Bedarf durchaus im Sinne von anklagestützenden Beweismaterialien gebraucht werden konnten. Allerdings trat ein Ernstfall, der aus dilettantischer Ignoranz schreiendes Unrecht gemacht hätte, zum Glück nicht ein. Zur gleichen Zeit, als die „Fichenaffäre“ die Schweiz aufwühlte, verschwand in Osteuropa ein ganzes Überwachungssystem von der politischen Landkarte und damit auch der Gegner, dem man im Grundmisstrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung letzten Endes gar nicht so unähnlich war.

Wo Anfang 1990 hunderttausende Schweizer Staatsbürger voller Empörung Einsicht in ihre Akten verlangten, war es für den kurz zuvor eingesetzten „Sonderbeauftragten für Staatsschutzakten“ und die Beamten seiner unterbesetzten Behörde übrigens nicht leicht, die entsprechenden Dokumente zu kopieren, in den Kopien Informantennamen und anderes der Geheimhaltung Unterliegende zu schwärzen und die Papiere danach per Post zu versenden. Dass Frisch unter den Ersten war, die ihre „Fiche“ einsehen durften, hatte er wohl seiner Prominenz und ein paar guten Verbindungen zu danken – das Eintreffen der Postsendung an seinem Krankenlager just am Nationalfeiertag aber stellt eine ganz besondere Ironie der Geschichte dar. Zufrieden freilich war der Autor mit dem teilweise massiv geschwärzten Dokument keineswegs. Über seinen Anwalt forderte er ein zweites, ungeschwärztes Exemplar an. Als das tatsächlich eintraf – nicht alle Schwärzungen sind daraus verschwunden, aber man hatte sich bemüht, den Zorn des Autors zu dämpfen – , war Max Frisch nicht mehr am Leben. Gestorben am 4. April 1991 in Zürich – unversöhnt mit seinem Staat und bis zuletzt kämpfend gegen Fremdbilder seiner selbst.

Titelbild

Max Frisch: Ignoranz als Staatsschutz?
Herausgegeben von David Gugerli und Hannes Mangold.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
127 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518424902

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