Was ist Horror?

Ein Sammelband von Armen Avanessian und Björn Quiring lotet die Abgründe des Genres aus

Von Jürgen JoachimsthalerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Joachimsthaler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Horror“ gehört zu jenen weitverbreiteten Phänomenen der Unterhaltungs- und Massenliteratur, die so selbstverständlich wirken, dass man gar nicht mehr fragen zu müssen glaubt, was sie überhaupt sind. Jeder meint sie zu kennen. Blickt man jedoch genauer hin, erweisen sich die meisten Erklärungen als eigenartig dürftig. Dies gilt auch für die Definitionen von „Horror“. In der Regel beruhen sie auf einer bloßen Verdoppelung des Begriffs durch seine Übersetzung als „Schrecken“, „Grauen“ oder Ähnliches; bestenfalls verschieben Erläuterungen die im Rezipienten ausgelösten Reaktionen auf Horror in das diese auslösende ästhetische Objekt zurück, so dass Horror zur Ursache seines eigenen Effekts wird. Solche nur zirkelförmige Erklärungen weichen ihrem Gegenstand jedoch eher aus, statt ihn analytisch zu durchdringen. Sie reproduzieren seine Wirkung und vervielfachen damit nur eines der dem Genre ohnehin inhärenten Muster: stete Wiederholung. „Horror erzeugt immer nur das Bedürfnis nach mehr Horror.“

Dieser Satz steht in der Einleitung des bei Merve erschienenen, von der DFG geförderten Sammelbandes Abyssus Intellectualis. Spekulativer Horror. Bereits der Titel zeigt, dass mit diesem Band eine grundsätzlich neue Herangehensweise an das Genre gesucht wird: Nicht nur emotionale Sensationen, sondern der intellektuelle Abgrund, die Aporien des Denkens, in die Horror stürzen kann, stehen im Mittelpunkt. Der Klappentext besteht aus einer einzigen Frage (sie stammt aus einem der Beiträge): „Wie denkt das Denken den Tod des Denkens?“ (Ray Brassier) Damit wird schon im Paratext die erkenntniskritische Dimension des Bandes offensichtlich: Mit Horror, so die Grundannahme, bewegt sich das Denken an seinen eigenen Grenzen, die es weder denken noch zu denken vermeiden kann. Es droht (oder sucht) sich dort aufzulösen, frei zu werden von der Last des Intellekts, ohne sich selbst und seine eigene Rationalität doch je überwinden zu können. Es erweist sich als sein eigenes Gefängnis, sein eigener Abgrund. Offensichtlich ist den Herausgebern Armen Avanessian und Björn Quiring die intellektuelle Herausforderung von Horror weit wichtiger als der bloße emotionale Stimmungswert gruseliger Bilder und depressiv-erregender Narrative.

Die Einleitung des Bandes begründet diese Herangehensweise, indem sie sich verortet innerhalb der noch relativ jungen philosophischen Bewegung des „Spekulativen Realismus“, der ein neues Denken jenseits von Immanuel Kant, „jenseits des Menschen“ sucht. Innerhalb dieser Richtung wird gerne auf „Horror“ zurückgegriffen, weil dieser die Leitplanken geordneten Denkens gezielt infrage stellt. „Horror entsteht genau dann“, heißt es, „wenn Unterscheidungen, die für unser Weltverständnis unverzichtbar sind, sich verschieben oder als haltlos erweisen“. Genau diese Haltlosigkeit, die Verunsicherung einer rational wohlgeordneten Welt, ist, was der „Spekulative Realismus“ sucht. Die Phantasmen des Horror-Genres werden deshalb als versuchte fiktionale Annäherung an dasselbe Ziel angesehen, ihre Analyse soll offenlegen, wie Imagination über die von Kant eng gezogenen Grenzen des Denkens hinausführen kann – und dient zugleich der Inspiration eines Denkens, das, will es sich selbst überwinden, selbst kein rein rationales mehr bleiben darf und sich seinerseits der Mittel der Fiktion und der Spekulation bedienen muss. Dabei darf es jedoch nicht zur bloßen Wiederholung fest etablierter Vorstellungsmuster werden, die lediglich in ein imaginiertes Anderswo projiziert werden; es muss den Freiraum der Spekulation nutzen, um von dieser aus seine eigenen Grundstrukturen zu reflektieren und aufzubrechen. Nicht um Spannung, Farben und Illusionseffekte geht es, sondern um Selbstüberwindung des Geistes.

Der Untertitel „Spekulativer Horror“ verweist deshalb auf eine experimentelle, dieser Ausgangsfrage angemessene Herangehensweise: Neben philosophischen (und philologischen) Untersuchungen finden sich erzählende Texte, in denen oft (jedoch nicht immer) das Genre und seine Verfasstheit auf narrativer Meta-Ebene reflektiert und in seiner Gemachtheit offengelegt werden, sowie – am wichtigsten – hybride Texte, in denen Theorie und literarische Praxis unauflösbar ineinander übergehen. Das von B-Movies, Massenliteratur und deren Oberflächlichkeiten geradezu überschwemmte Genre wird damit auf seine Tiefenstruktur hin durchsichtig gemacht. In gewisser Weise befreit der Band damit den Horror im Horror von dem, was als Horror millionenfach verbreitete Unterhaltungsware ist, die häufiger wohldosierte und vorhersehbare Gefühlskitzel auslöst, als tatsächlich und im Wortsinn zu „ent-setzen“, das Subjekt aus sich selbst herauszureißen. Im Normallfall bezahlt der Konsument dafür, nicht zu tief getroffen zu werden. Der Konsum von Horror schützt dann womöglich sogar vor Horror.

Dieser Band will allerdings niemanden und nichts schützen. Er betreibt das imaginative und spekulative Spiel mit der „Grenze zwischen Leben und Tod“ (so noch einmal die Einleitung) als selbstreflexive Infragestellung des Denkens. Nicht so sehr der physische Tod ist dabei von Relevanz, als vielmehr die (Un-)Denkbarkeit des geistigen Todes. Der Verstand gerät in unaufhebbaren Selbstwiderspruch, sobald er sein eigenes Nicht-Sein aktiv zu denken genötigt ist.

15 Texte von 14 AutorInnen, dazu noch die erhellende Einleitung der Herausgeber, bilden ein breites Mosaik, das vielschichtig genug ist, das Genre „Horror“ in bisher ungeahnter Weise zu vertiefen. Die Beiträge wurden aus dem Englischen beziehungsweise aus dem Französischen übersetzt, sechs von ihnen sind bisher auch im Original unveröffentlichte Erstpublikationen – der Merve Verlag, bekannt für seine Vermittlung etwa Michel Foucaults, Jean Baudrillards oder von Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Jahrhundertwerk Mille Plateaux an das deutsche Publikum, erweist sich damit einmal mehr als findige Avantgarde.

Eingerahmt wird der Band von zwei Texturen H.P. Lovecrafts, also jenes eigenartigen „Klassikers“, mit dem „Horror“ sich als ein Genre der Unterhaltungsindustrie etablierte. Ältere literarische Ansätze (gothic novel, Schwarze Romantik et cetera) flossen in seine Texte mit ein, nehmen dieser Tradition gegenüber aber eine merkwürdige Position ein: Sie unterschreiten mit ihren oft sich wiederholenden Handlungsmustern und stereotyp wiederkehrenden Motiven und Kulissen das literarische Niveau ihrer besten Vorläufer und begründen viele heute zum gesellschaftlichen Imaginationsschatz gehörige Konventionen und Klischees des Genres. Gleichzeitig ist ihnen anzumerken (und nur deshalb verdienen sie Interesse, und nur deshalb fanden sie sprachlich so versierte Übersetzer wie etwa H.C. Artmann), dass sie mit ihrer eigenen Oberflächlichkeit kämpfen und sich durch diese hindurch auf einen Intensitätspunkt maximalen Schreckens hindurchzuarbeiten versuchen, den sie aber mit ihren beschränkten Mitteln nie erreichen. Die Sprache des Genres führt sich in ihnen vor als ein Umweg. Das tatsächlich Schreckliche ist nicht mehr repräsentierbar in Sprache und Bild, es kann diese nur noch uneigentlich verwenden als ungenügende Zeichen dessen, was sie nicht auszudrücken vermögen. Horror enthält so spätestens seit Lovecraft ein unerfülltes Versprechen, den asymptotischen Verweis auf ein Unerreichbares (das Grauen schlechthin?), auf das immer wieder neue Texte in immer wieder neuen Anläufen zuzugreifen versuchen. Der Wiederholungszwang des Genres beruht genau darauf.

Die beiden im Band abgedruckten Texturen Lovecrafts reflektieren dies auf ihre Weise. Der erste, mit dem die Textsammlung beginnt, enthält Lovecrafts Notizbuch mit seinen Aufzeichnungen, knapp aneinandergereihten Einfällen für oft unausgeführt gebliebene Horror-Geschichten. In ihrer Fragmentarizität, aber auch in der bloßen Serialität ihrer Aneinanderreihung wird das Strickmuster der Narrative ebenso deutlich wie das Manisch-Besessene des Wiederholungszwangs, der ihnen zugrunde liegt. Stets bleibt die Grundstruktur dieselbe: Ein Mensch begegnet etwas Unerhörtem aus einem diffusen Anderswo, das sein „normales“ Leben und die Welt, in der es gelebt wird, radikal infrage stellt. Horror ist ein im Kern metaphysisches Genre. „Klänge, möglicherweise musikalische, werden des Nachts aus anderen Welten oder Seinsbereichen gehört.“ (Lovecraft) Die entsprechenden phantastischen Räume in einer imaginierten Welt „jenseits“ der Unsrigen werden jedoch nie vollständig ausgemalt, sondern immer nur andeutungsweise erahnbar gemacht, so dass das, was der eigentliche Horror sein soll, immer weiter ins Unerreichbare verschoben wird.

Das Ende des Bandes bildet ein Brief Lovecrafts aus seinem Todesjahr 1937, in dem er auf seine literarische Arbeit zurückblickt und diese erklärt mit real erfahrener Angst während seiner Kindheit (bis zu seinem achten Lebensjahr) und damit verbundenen Visionen „jenseits des Sagbaren“. Sein Schaffen sei der Versuch gewesen, diese nachträglich aufzuzeichnen – dabei interessiert ihn nicht die Frage, ob dies gelungen ist, sondern das damit einhergehende Gefühl der Absonderung von den übrigen Menschen. Die Arbeit am Horror wird zur Auszeichnung einer geistigen Elite. Die – durchaus von moderner, symbolistischer Literatur inspirierte – Erlesenheit vieler seiner Motive und Darstellungstechniken erklärt sich wohl auch daraus. Letztlich war diese stete Produktion zugleich mit Verderben lockender und stets sich wieder entziehender Vorstellungsanreger ein Schutzmechanismus, der den Autor bewahrte vor dem Absturz in jene Dunkelheit, die seine Texte immer nur umkreisen und eher umhüllen als tatsächlich erfassen.

An Edmund Husserls und Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie geschult, analysiert Graham Harman eben diese Eigenart der Darstellungen Lovecrafts, die nicht wirklich evozieren, was sie behaupten, sondern dessen Unbeschreibbarkeit und alle verwendeten Bilder nur nutzen als „Kombination einer offenkundig unzulänglichen Beschreibung mit der Schilderung einer Welt, in der dieses Monster ein echter Akteur und nicht nur ein bloßes Bild ist. Die Beschreibung ist nur insofern schauderhaft, als sie jedes eindeutige Bild unterläuft“. So entstehen intentionale Objekte, „die zugleich immer und niemals präsent sind“.

Diesem Beitrag folgt unmittelbar und treffend Michael Ciscos Fragment „Unsprache“, von dem nicht klar ist, ob darin über eine imaginierte Sprache reflektiert oder ob diese narrativ beziehungsweise spekulativ entworfen wird. „Diese spezielle Sprache gleitet über alles hinweg und ergreift nichts, nicht einmal so wie Wasser, nicht einmal so wie Zeit oder Luft. Sie ist eine Dimension. Sie schläft. Gott benutzt sie nicht und auch die Menschheit nicht. Anders als andere Sprache scheint diese Sprache keine Sprecher zu brauchen; die Unsprache spricht sich selbst.“ Schleifenförmige Handlungsmuster und Argumentationsbögen solcher Art begegnen in den verschiedenen Beiträgen des Bandes immer wieder. Das Subjekt trifft dort, wo es endlich ins Herzen des Schreckens gelangt zu sein hofft, letztlich nur auf sich selbst. Der wahre Schrecken entzieht sich ihm wie sein eigenes Selbst. In einem in den Band aufgenommenen kurzen Ausschnitt aus Philip K. Dicks Exegesis heißt es: „Wir stellen fest, dass die Realität – das Universum – in Wirklichkeit Information ist. […] Schließlich entziffere ich die Schrift […] und entdecke, daß ich sie selbst geschrieben habe: gefangen in meinem eigenen Geist, mit meinen immer weiter zirkulierenden Gedanken.“

Hier ist nicht der Platz, auf alle Beiträge des Bandes detailliert einzugehen, doch entsprechen sie alle diesem Verständnis von „Horror“. Ray Brassier arbeitet heraus, wie einige zentrale Philosopheme der abendländischen Tradition (Friedrich Nietzsches „Ewige Wiederkehr“, Sigmund Freuds „Wiederholungszwang“ und die von Jean-François Lyotard imaginierte Solare Katastrophe) mit der Reflexion des Denkens über die (Un-)Möglichkeit der Denkbarkeit seines eigenen Endes kämpfen und in Imaginationen der Wiederholung, der Erstarrung oder der Auslöschung eine Beunruhigung stillzustellen versuchen, die zu tief reicht, als dass diese über sie gelegten Bilder sie auszugleichen vermöchten. Allen Todesvorstellungen liegt, so Brassier, das Bewusstsein zugrunde, den gefürchteten Tod nie real erreichen zu können: Er ist dem Leben als dessen Ende unzugänglich und bleibt doch das, woraufhin es gerichtet bleibt. Horror ist das Bild, das sich an seine Stelle schiebt, ohne weder auszudrücken noch vollständig überdecken zu können, was hinter ihm nur undeutlich erahnbar bleibt.

Quentin Meillassoux entwirft eine Typologie möglicher nicht-kantianischer Welten als ausgedachte Kosmen systematischer Verunsicherung, Howard Caygill analysiert Kants Kritiken als Dramen der Abwehr eines Schreckens, gegen den die Logik der Kritik aufgebaut wird; Caygill greift zu diesem Zweck auf als rhetorischen Schmuck leicht überlesbare metaphorische Formulierungen Kants zurück, in denen die von Kant gezogenen Grenzen der Vernunft tatsächlich als von Angst und Entsetzen gezeichnete Abwehr des Unendlichen fungieren – Horror erscheint plötzlich als die verborgene innere Unruhe von Kants Denken. Ian Hamiltan Grant setzt Lorenz Okens philosophische Erklärung der Welt aus dem Schleim und dem Nichts den in sich wohlgeordneten naturphilosophischen Entwürfen insbesondere Friedrich Wilhelm Schellings entgegen. „Weil alle existierenden Dinge in der Wiederholung der Null gründen, erstreckt diese Begründung sich bis auf die Ideation und damit auf die Philosophie.“ In der Aporie jeder Selbst- wie jeder Erstbegründung erblickt sie ihren eigenen Abgrund, der durch Bilder und Argumente zumeist überdeckt wird – sofern die genutzten Urbilder nicht exakt ihre eigene Selbstwidersprüchlichkeit wiederholen wie eben Okens Schleim.

Die verschiedenen Beiträge vereinen sich in diesem Sinne zu einem beeindruckenden Mosaik aus unterschiedlichen Textformen, Denkansätzen, sich selbst hinterfragender Rationalität und Bildlichkeit. Mit seiner anregenden Textsortenmischung reflektiert der Band nicht nur, was Horror ist, er zeigt es auch in seiner eigenen Gestalt.

Titelbild

Armen Avanessian / Björn Quiring (Hg.): Abyssus intellectualis. Spekulativer Horror.
Merve Verlag, Berlin 2013.
296 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783883963426

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