Am Scheitelpunkt eines bewegten Lebens

Max Webers Briefe um die Jahrhundertwende sind vorbildlich ediert worden

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anzuzeigen ist ein neu erschienener Band mit Briefen von Max Weber aus den Jahren 1895 bis 1902. Herausgegeben werden die zwei Halbbände von Rita Aldenhoff-Hübinger, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), in Zusammenarbeit mit Uta Hinz, Historikerin an der Max-Weber-Arbeitsstelle der Universität Düsseldorf. Wie bereits mehrfach an dieser Stelle vermerkt, ist es besonders verdienstvoll, wenn das monumentale Unternehmen der Max-Weber-Gesamtausgabe und allen voran die seit Jahrzehnten angekündigten elf Briefbände sich auf bislang nicht allgemein zugänglichen Schriften konzentrieren. Durch den nunmehr vorgelegten Band, der unmittelbar vor den an dieser Stelle zuletzt besprochenen Band der Briefe aus den Jahren von 1903 bis 1905 gehört, fehlen nur noch die beiden Bände der frühen Briefe bis zum Jahr 1894.

Anhand von über vierhundert Briefen wird die wahrscheinlich entscheidendste Phase des Lebens Webers dokumentiert. Sie beginnt mit einem Brief des 31-jährigen Ordinarius für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Großherzoglich Badischen Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau an seinen Bruder Alfred Weber vom 2. Januar 1895 und endet mit einer Postkarte an Marianne Weber aus Genua vom 31. Dezember 1902. Auf den über 1.000 Seiten dieses Bandes kann der schwere Weg des für die junge Disziplin der Nationalökonomie leidenschaftlich engagierten Hochschullehrers in Freiburg und Heidelberg bis zum von seinen Universitätsdiensten immer noch nicht endgültig entpflichteten Kranken nachvollzogen werden. Die Briefe vermitteln das Bild eines Gelehrten mit einflussreichen und vielfach rezipierten Veröffentlichungen zur Geschichte des Altertums, diversen Arbeiten zur Börsengesetzgebung und zu den Agrarverhältnissen im deutschen Kaiserreich. Als führender Herausgeber einer Badischen Hochschulschriftenreihe, die im Verlag J.C.B. Mohr erschien, legte er den Grundstein für seine lebenslange Zusammenarbeit mit diesem Tübinger Verlag in persönlicher und freundschaftlicher Verbundenheit mit dessen Verleger Paul Siebeck.

Als Weggefährte und Unterstützer, aber auch scharfer Kritiker Friedrich Naumanns bewegte sich Weber im Spannungsfeld von wissenschaftlicher Arbeit und politischem Engagement. Viele Briefe stammen von einem begeisterten Reisenden und genauen Beobachter der sozialen Verhältnisse in Schottland, Irland, Frankreich und Spanien. Wenn auch ganz offensichtlich unvollständig, wird der dramatische Bruch mit seinem Vater, dem frühpensionierten Berliner Stadtrat Max Weber Senior, dokumentiert. Die überlieferten Briefe vor allem an Marianne Weber zeugen eindrücklich von den Phasen der schweren Erkrankung mit den zahlreichen und langandauernden Sanatoriumsaufenthalten, dem schrittweisen Rückzug aus der Lehre und der Wiedergewinnung der intellektuellen Schaffenskraft nach Aufenthalten auf Korsika und in Italien. Gerade bei diesem Band, den die üblichen editorischen Vorbemerkungen, Kommentare, Verzeichnisse und Register  wie gewohnt erschließen, erfreut die lobenswert sachliche, nicht ausschweifende Einleitung in die Kontexte der Briefe.Im Nachfolgenden wird auf jene Zusammenhänge hingewiesen, die von allgemeinem Interesse sein könnten, vor allem da, wo der Band Neuigkeiten bietet, da das gesamte Briefwerk seit Jahrzehnten von den Herausgebern – vor allem durch den inzwischen verstorbenen M. Rainer Lepsius (1928-2014) – unter Verschluss gehalten wurde und auch für Max-Weber-Forscher nicht zugänglich gewesen war.

Der rastlose Nationalökonom mit politischen Ambitionen

Auch der hier anzuzeigende Briefband eröffnet mit einer Photographie Webers, diesmal jedoch mit einer bislang unbekannten des 33-jährigen Freiburger Ordinarius, die er als neu ernanntes Mitglied der Badischen Historischen Kommission einreichen musste. Sie zeigt einen entschlossen blickenden Mann mit strengem Scheitel und strammen Zwirbelbart. Dieser war – nicht zuletzt durch Kaiser Wilhelm II. persönlich – das Markenzeichen eines deutschen Mannes, der es „geschafft“ hatte. Ob Weber wohl wusste, dass der kaiserliche Hoffriseur, François Haby, der von ihm entwickelten und für diese Barttracht notwendigen Bartbinde den Namen „Es ist erreicht“ gab?

Weber jedenfalls hatte alles erreicht, was man sich in seinem Alter und bei seiner Herkunft nur wünschen konnte: sein Fachwechsel von der Jurisprudenz zur Nationalökonomie als Hochschullehrer mit beachtlichem Lehrdeputat, sein Engagement bei der Börsengesetzgebung durch einschlägige Publikationen und seine Mitarbeit im provisorischen Börsenausschuss im November 1896, seine zahlreichen Veröffentlichungen auf dem Themenfeld der Geschichte des Altertums in Anknüpfung an seine Habilitationsschrift. Seine dicht aufeinander folgenden Vorträge zu agrarpolitischen Themen in Berlin, Frankfurt am Main, Freiburg, Gießen, Karlsruhe, Mannheim, Saarbrücken und Straßburg belegen seine große Ambition, nicht nur auf dem wissenschaftlichen Feld der Nationalökonomie zu glänzen, sondern darüber hinaus auch auf der Bühne der öffentlichen und politischen Wahrnehmung zu wirken.

Am eindrucksvollsten sicherlich dokumentiert ist alles dieses in seiner agitatorischen Akademischen Antrittsrede „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ vom 13. Mai 1895, von der die einleitenden Herausgeberinnen beschönigend schreiben, dass sie ein Dokument „des in nationalstaatlichen Wertebezügen denkenden jungen Gelehrten“ sei, die „nationalpolitisch zugespitzt“ gewesen sei. Welch diebische Freude der junge reformiert-protestantische Preuße aus Charlottenburg daran hatte, die braven katholischen Badener zu erschrecken, belegt der  Brief an seinen Bruder vier Tage nach seinem Auftritt: „Mit meiner Antrittsvorlesung hier habe ich übrigens Entsetzen über die Brutalität meiner Ansichten erregt, fast am zufriedensten waren die Katholiken, weil ich der ‚Ethischen Cultur‘ einen festen Tritt versetzt hatte. Ich denke, daß ich den Krempel drucken lasse.“ Dieser „Krempel“ in ausgearbeiteter Form erschien als Broschüre gedruckt bereits einen Monat später in einer Auflage von 1.250 Exemplaren bei Mohr-Siebeck und erzeugte ein bemerkenswertes Interesse sowohl in der Tagespresse als auch in den politischen Zeitschriften, so beispielsweise auch bei Ernst Hasse, dem Vorsitzenden des „Alldeutschen Verbandes“. Nicht übersehen werden darf dabei jedoch, dass Weber persönlich sehr an der Verbreitung der Broschüre mitgewirkt hat, wie die mehrfachen Nachforderungen von Sonderdrucken belegen, die er auf eigene Kosten beim Verlag bestellte und versandte.

Dass die Bäume des jungen Ehrgeizlings nicht in den Himmel wuchsen, belegt die Tatsache, dass er nicht in den „definitiven“ Börsenausschuss aufgenommen wurde, was am Widerstand der aristokratischen Großagrarier lag, die ihn als einen zu börsenfreundlichen Teilnehmer am provisorischen Börsenausschuss kennengelernt hatten. Sein Brief an den badischen Finanzminister Adolf Buchenberger vom 26. Juli 1899 zum Thema des gesetzlich festgelegten Verbots des Terminhandels in Getreide vom 22. Juni 1896 belegt seine einschlägige Position: „Mit dessen gesetzlichem Totschlag in Deutschland haben wir die deutsche Preisbildung nicht dem Einfluß der Spekulation entzogen, sondern wesentlich nur an die Stelle des deutschen, durch die deutsche Gesetzgebung zu beeinflussenden Platzes Berlin den Platz New York gesetzt und dessen Übermacht den deutschen Effektivplätzen gegenüber, die früher in Berlin ein Gegengewicht fand, gesteigert.“ Die Tatsache, dass Weber sich nach dieser Erfahrung nicht mehr wissenschaftlich mit der Börsenproblematik befasste, legt die Vermutung nahe, dass er weniger wissenschaftlich an der Thematik interessiert gewesen war, sondern sich mehr aus politischem Opportunismus auf diesem Gebiet engagiert hatte.

Die Herausgeberinnen betonen sehr akzentuiert die Rolle, die Weber während seiner Zeit an der Freiburger Universität spielte: „Die Universität Freiburg formte Max Weber nachhaltig durch sein Engagement“. Damit meinen sie die von ihm geförderten Ernennungen von Heinrich Rickert und Gerhart von Schulze-Gaevernitz zu Ordinarien, die von ihm betriebene Ausgliederung der Staatswissenschaften aus der Philosophischen Fakultät und die Gründung einer neuen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zum Juni 1896, gekrönt durch die Ehrenpromotion seines eigenen Lehrers August Meitzen. Zwar demonstriert der nun zugängliche Briefwechsel Webers unermüdliche Bemühungen in allen diesen und zahlreichen anderen akademischen Zusammenhängen, aber daraus zu schließen, dass es allein Webers Verdienst gewesen war, dass alle diese Ziele erreicht wurden, erscheint doch als eine etwas übertriebene Einschätzung der Allmachts-Rolle Webers, die bereits seine Witwe durch ihre Biographie ihres Mannes suggeriert hatte. Wer das Geschehen an deutschen Fakultäten – nicht nur – zu jener Zeit kennt, weiß, dass es mehr als des Engagements einer einzigen Person bedarf, um derartige einschneidende Veränderungen zu bewirken. Noch dazu darf nicht vergessen werden, dass Weber von seiner fachlichen Herkunft kein Nationalökonom war, sondern promovierter und habilitierter Volljurist mit nicht gerade überwältigenden wissenschaftlichen Leistungen vor allem auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte. Er selbst war sich dieser Außenseiterrolle durchaus sehr bewusst, etwa wenn er in einem Brief an Karl Oldenberg schreibt, dass er wisse, dass Gustav Schmoller – der mächtige Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik – in ihm eher einen „dilettantenhaften Eindringling“ sehe (28. Januar 1895), oder wenn er dem Geheimrat Adolph Wagner gegenüber bekennt, dass er sich „auf 9/10 des Gebietes, das ich vertreten soll, als Anfänger“ betrachtet (14. März 1895).

Nicht eindeutig ist, was Weber in den Jahren 1895/96 selbst erreichen wollte: Zum einen strebte er danach, ein anerkannter und allseits beachteter Wissenschaftler zu sein, vor allem in seinem neu eroberten Feld der Nationalökonomie, für das er über keinerlei professionelle Qualifikationsnachweise verfügte. Zum anderen jedoch wollte er ein öffentlich sichtbarer und politisch wirksamer Gelehrtenpolitiker auf den Feldern der Agrarpolitik, der Sozialpolitik und der Börsenpolitik, aber auch auf dem Feld der allgemeinen politischen Ordnung sein. Die Herausgeberinnen optieren in ihrer Kommentierung für die Interpretation, dass Weber „als durch und durch politischer Mensch“ dann letztenendes „zu sehr Gelehrter“ gewesen sei und auch deswegen allenfalls in seinen Briefen politische Kommentare und Ratschläge formulierte, besonders an seinen Freund Friedrich Naumann. Dass er die ihm von Nationalliberalen in Saarbrücken im Frühjahr 1897 angebotene Kandidatur für den Deutschen Reichstag mit Hinweis auf seine soeben erst angetretene Professur in Heidelberg ablehnte, kann man als Ausdruck seiner Unentschiedenheit auch interpretieren. Im Brief an seinen Heidelberger Onkel Adolf Hausrath vom 15. Oktober 1896 formuliert er seine aktuellen Bedenken recht klar:

Ich selbst weiß kaum, ob ich mir eine Berufung [nach Heidelberg] wünschen soll. […] ich weiß sehr wohl, daß ich vor jene Wahl [zwischen politischer Betätigung von Freiburg aus und dem Ruf nach Heidelberg, verbunden mit dem Verzicht auf politische Betätigung ] jetzt im Augenblick […] unbedingt die breitere akademische Thätigkeit wählen würde. Allein ich weiß nicht, ob ich nicht künftig dies bedauern könnte, und dann wäre es zu spät.

Der Netzwerker und Reisereporter

Die Freiburger Briefe der Jahre 1895 bis 1897, vor allem an seinen Bruder Alfred Weber, zeigen uns einen Mann in voller Blüte und Kraft. Neben seinen universitären und außeruniversitären Verpflichtungen pflegte er einen intensiven Kontakt zu Kollegen und Freunden (vor allem zu nennen ist das Ehepaar Heinrich und Sophie Rickert, das Ehepaar Alois und Sophie Riehl, das Ehepaar Richard und Tilla Schmidt) und auch zu seinen Studenten in teilweise sehr feucht-fröhlicher Manier, bei der er mit viel Wein und Zigarren das Verhaltensrepertoire seiner Zeit als Heidelberger Burschenschafter kräftig wiederholt. Seine Kommentare über die Absolvierung seiner „gesellschaftlichen Pflichten“  – „nach den ca. 60-80 Besuchen kommen nun ebenso viele Einladungen, denen nicht zu entrinnen ist“ – sind dabei bemerkenswert drastisch, so schreibt er beispielsweise über seine Begegnungen mit dem großherzoglichen Ehepaar, also über Ferdinand I. und seine Frau Luise: „er ist ein netter offner Kerl, sie dagegen horndumm“ (2. Januar 1895). Dem heutigen Leser begegnet durchgängig die Überlegenheitsattitüde des preußischen Großbürgersohns aus Charlottenburg, der sich auch seinen Kollegen gegenüber überaus abfällig über die „süddeutschen Spießer“ mokiert, wie etwa in seinem Brief an Karl Oldenberg vom 18. Januar 1895.Webers Briefe aus der Freiburger Zeit belegen zugleich sein enormes, selbst-auferlegtes Arbeitspensum, an manchen Tagen sieht er an seinem Schreibtisch sitzend die Sonne aufgehen: „da es sich nicht mehr lohnte, zu Bett zu gehen und ich noch Colleg zu machen hatte“ (15. Januar 1895). Dass bereits zu Webers Zeiten erheblicher Wert auf die Produktion von wissenschaftlichem Schrifttum gelegt wurde – und nicht erst in Zeiten der angeblichen Herrschaft von „publish or perish“ – belegen die zahlreichen Briefe im Zusammenhang mit den Beratungen über die Nachfolge Webers in Freiburg, wenn er etwa über seinen näheren Bekannten Karl Oldenberg schreibt, dass „er leider nicht zu größeren Publikationen kommt“ und daher keinen Platz auf der Berufungsliste fand. Dass Max Weber selbst, ungeachtet seiner enormen Arbeitswut und zahlreicher Vorhaben, zu keinen „größeren Publikationen“ in den Jahren 1893 bis 1902 kam, steht auf einem anderen Blatt und hat seiner Berufung nach Heidelberg nicht wirklich geschadet. Es muss nicht nur Koketterie gewesen sein, wenn er etwa Lujo Brentano gegenüber zu seiner Berufung nach Heidelberg am 12. Januar 1897 schreibt: „Wenn ich persönlich unerstrebte und unbeanspruchte ‚Erfolge‘ in der akademischen Laufbahn erreicht habe, so lassen mich dieselben ziemlich kalt und geben mir namentlich keine Antwort auf die Frage, ob ich nun grade in dieser Laufbahn an dem für mich passendsten Platze bin.“

Keineswegs nur für Max Weber-Spezialisten lesenswert sind die ausführlichen Briefe an seine Mutter, in denen er über die ausgedehnten Reisen mit seiner Frau berichtet, teilweise ergänzt durch Zusätze von der Hand Marianne Webers: Die dankenswerterweise beigefügten Itinerare der Reisen nach Schottland und Irland (August-September 1895) und nach Frankreich und Spanien (August-Oktober 1897) verzeichnen die Stationen, Transportwege und Unternehmungen. Wie schon in früheren Briefbänden erweist sich Weber in diesen Briefen als Meister der Beobachtung und Analyse. Erneut kann man erkennen, mit welch genauer und streckenweise geradezu poetischer Darstellungsgabe dieser Gelehrte ausgestattet war, wenn er fremde Landschaften, Städte und ihre Bewohner schildert. In einem späteren Brief an Marianne vom 13. Juni 1903 hatte er seine Leidenschaft, seine Eindrücke brieflich zu formulieren, klarsichtig beschrieben: „weil ein pedantisch gewordener Stubengelehrter das intuitive Genießen verlernt hat u[nd] sich der Eindrücke nur discursiv bemächtigen kann, so daß er das Maß von Genuß an Kunst und Natur, welches sein verknöcherter Zustand ihm noch zugänglich belassen kann, sich nur einverleiben kann, indem er es irgendwie in Worte faßt.“ Seiner Mutter, an die die meisten der Reisebriefe zuerst adressiert waren, bevor sie die Runde in der Familie machten, schreibt er im September 1897 aus dem baskischen Las Arenas dazu: „Wenn ich Dir so ausführlich davon erzähle, so geschieht es auch und namentlich, weil bei der Vielseitigkeit der Eindrücke es angenehm ist, sich Abends von ihnen kurz Rechenschaft zu geben.“ Dabei sind diese Reiseberichte keineswegs nur zur Unterhaltung der Charlottenburger Familienangehörigen gedacht gewesen, sie bilden vielmehr auch das Material, aus denen er in seinen wissenschaftlichen Arbeiten zehrt.

Der Heidelberger Ordinarius und die Zäsur

Der erwähnte Briefwechsel mit seinem Heidelberger Professorenonkel Adolf Hausrath im Herbst 1896 spiegelt die ganze Ambivalenz Max Webers wider, auch angesichts der ihm bekannt gewordenen Bestrebungen, ihn auf die Liste der Kandidaten für die Nachfolge auf den Lehrstuhl seines eigenen und sehr renommierten Lehrers, Karl Knies, zu setzen. Am 13. August 1896 hatte der bereits 75-jährige Knies die Fakultät von seinem Wunsch nach Beendigung seiner über 30 Jahre währenden Lehrtätigkeit an der Heidelberger Universität in Kenntnis gesetzt. Die daraufhin gebildete Berufungskommission, bestehend aus den Historikern Bernhard Erdmannsdörffer und Dietrich Schäfer, dem Philologen Fritz Scholl, dem Germanisten und zugleich Dekan Wilhelm Braune, den Juristen Georg Mayer und Georg Jellinek, setzte auf die erste Stelle den Straßburger Ordinarius Georg Friedrich Knapp, auf die zweite Stelle den Leipziger Karl Bücher und auf die dritte Stelle Max Weber. Da sowohl Knapp als auch Bücher die Rufe ablehnten, erhielt der Drittplatzierte den Ruf, den er nach sehr kurzen Verhandlungen annahm, weswegen er bereits am 7. Januar 1897 zum ordentlichen Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Großherzoglichen Ruprecht-Karls-Universität ernannt wurde – drei Monate vor seinem 33. Geburtstag!Im Grunde genommen wiederholte sich in Heidelberg das Verhaltensmuster Webers wie in Freiburg, wenn auch mit einer gewissen Steigerung: Die beachtlichen universitären Verpflichtungen in Lehre und Selbstverwaltung – vor allem beim Aufbau eines eigenständigen Volkswirtschaftlichen Seminars an der Universität – und die geradezu ausufernden gesellschaftlichen „Verpflichtungen“ sowie „Geselligkeit“ im Kreis von Kollegen, Freunden und Verwandten in der so sehr vertrauten Universitätsstadt am Neckar sind Belastung genug für den in dieser Phase seines Lebens einigermaßen extrovertierten Ordinarius, der auch in seinem unermüdlichen Briefwechsel eine beachtliche Netzwerkleistung erbringt.

Nachdenklich stimmt bei den versammelten Briefen jener Heidelberger Jahre die Beobachtung, wem der unermüdliche Briefschreiber nicht schreibt beziehungsweise welche möglicherweise doch geschriebenen Briefe nicht mehr auffindbar sind. So fällt beispielsweise auf, dass sich im gesamten bisher vorliegenden Briefwechsel kein einziger Brief an seinen Kollegen und Freund Ernst Troeltsch findet. Die Tatsache, dass Ernst Troeltsch ab dem Jahr 1894 in Heidelberg lehrte, somit vor Ort war, wäre für sich genommen kein Grund, denn Weber schrieb zahlreiche Briefe an Heidelberger Kollegen, wenigstens dann, wenn er unterwegs war. Wie wir durch die Arbeiten des Troeltsch-Forschers Friedrich Wilhelm Graf wissen, waren die Gespräche zwischen Troeltsch und Weber im Kontext des Heidelberger liberalen Gelehrtenmilieus für beide Gelehrte von großer Bedeutung. So berichtete Troeltsch beispielsweise am 5. August 1898 seinem alten Studienfreund Wilhelm Bousset: „Den meisten Umgang pflege ich außerhalb der [Theologischen] Fakultät. Max Weber, [Paul] Hensel, Carl Neumann u[nd] mehrere andere sind mir sehr liebe Freunde. […] An Anregung u[nd] Austausch fehlt es nicht.“ Dieser Austausch drehte sich bei den Genannten ganz offensichtlich vor allem um die „Kulturbedeutung“ von Religion, Christentum und Protestantismus, aber auch um die Genese des modernen okzidentalen Betriebskapitalismus aus dem Geist des Puritanismus. Dass sich diese „Fachmenschenfreundschaft“ (Graf) zwischen Weber und Troeltsch nicht in brieflicher Korrespondenz niedergeschlagen haben soll, erscheint als erklärungsbedürftig.

In eben diese Phase des anstrengenden Neubeginns in Heidelberg fiel nun auch der legendäre Besuch der Eltern am Abend des 14. Juni 1897, bei dem es in der Mietwohnung von Max und Marianne Weber im Haus Leopoldstraße 53b („Anlage“) – heute Friedrich-Ebert-Anlage – zur heftigen Auseinandersetzung zwischen Weber Junior und seinem Vater Weber Senior über die Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit von Helene Weber kam, der Mutter des Jüngeren und Ehefrau des Älteren. Die hier erstmals edierten Briefe Max Webers an seinen Bruder Alfred illustrieren sehr eindrücklich sowohl die vorangegangenen Auseinandersetzungen als auch den Ablauf und die dramatischen Folgen des radikalen Bruchs zwischen Vater und Sohn. Der Brief an Alfred Weber vom Tag nach der Auseinandersetzung dokumentiert die sehr persönliche Sicht des jüngeren Max Weber: „Abends fand dann hier die Auseinandersetzung statt. Sehr stürmisch und ohne Einigung – d.h. ich brach sie als zwecklos ab. […] Ich habe so ziemlich alles gesagt, was uns auf der Seele lag. […] Ich habe hervorgehoben, daß ich auf die Fortdauer irgendwelcher Beziehungen keinerlei Wert lege […] und ihn schließlich zur Türe hinauskomplimentiert.“ Weber macht in diesem Brief sehr deutlich, dass es alles andere als eine spontane, impulsive Überreaktion war, was sich an jenem denkwürdigen Abend abspielte, wenn er Alfred mitteilt, dass seiner Ansicht nach die Auseinandersetzung „unvermeidlich“ gewesen war, denn schon bei der vorangegangenen Korrespondenz „stand mir vor Ekel und Abscheu des Öfteren der kalte Schweiß am Leibe, und ich hätte es einfach physisch so nicht weiter ausgehalten. Jetzt ist mir wohler“.

Unmittelbar nach dem völlig unerwarteten Tod des Vaters am 10. August 1897 in Riga und auch noch nach dessen Beerdigung am 16. August 1897 in Berlin scheint den ältesten Sohn kein Hauch des Selbstvorwurfs erschüttert zu haben: Noch am 13. Juli 1897 hatte er seinem Bruder geschrieben, dass er seinen Vater nicht mehr freiwillig wiedersehen werde, „weder jetzt, noch in künftigen Jahren“. Elf Tage nach der Beerdigung begeben sich Max und Marianne auf eine schon lange zuvor geplante Reise in den Süden Frankreichs und nach Nordspanien, in das Baskenland. Diese Briefe gehören zu den wertvollsten Schätzen des hier anzuzeigenden Bandes: Sie geben zwar wenig Auskunft über die persönlichen Befindlichkeiten Webers, enthalten jedoch faszinierende Beobachtungen und Einlassungen des Agrarexperten und Sozialwissenschaftlers, so etwa über seinen Besuch der Wallfahrtsstätte Lourdes und über seine Erlebnisse im Baskenland. Nach seinem Besuch in Loyola, der Geburtsstätte des Heiligen Ignatius, ist er vor allem angetan von der baskischen Arbeitsethik, die er sowohl in der Metropole Bilbao wie auch auf dem Land wahrzunehmen glaubt. Wie schon anderen prominenten Kommentatoren und Besuchern des Baskenlandes ist auch Max Weber die formal-demokratische Repräsentation in den baskischen Provinzen aufgefallen, er erwähnt das allgemeine Wahlrecht, die Repräsentation in den Gemeinden und Bezirken sowie die allgemeinen zivil-kulturellen Gesellschafts- und Umgangsformen. Die Abwesenheit des spanischen Zentralstaats bei gleichzeitiger Existenz von Arbeitsdisziplin- und -moral sowie ziviler Umgangsformen führt Weber auf die jesuitische Dominanz in der baskischen Kirche und deren Präsenz in den örtlichen Gemeinden zurück. Und obwohl er den Begriff nicht explizit gebraucht, schreibt Weber den Basken eine jesuitisch-kapitalistische Moral und Arbeitsethik zu und bezeichnet die kleinen Orte zwar einerseits als „malerische dreckige Nester“, aber zugleich auch als „kleine Brutstätten des Capitalismus“.Der Leser dieser Briefe könnte auf den Gedanken kommen, dass die von Max Weber erst nach 1900 formulierte These einer spezifisch protestantischen Arbeitsethik ihren Ursprung in seinen Beobachtungen im Baskenland im Sommer 1897 hatte. Max Weber scheint im Baskenland einem Modell begegnet zu sein, das zwar in gewisser Weise exzeptionell katholisch geprägt war, aber in seinen konkreten Ausprägungen dem „protestantischen“ Modell der Arbeitsethik sehr nahe kommt. Am klarsten formuliert Weber dies in seinem Fortsetzungsbrief vom 18. bis 20. September 1897: „Auf diesem Untergrunde entfaltet sich nun der modernste Capitalismus mit unerhörter Wucht.“

Der kranke Mann und seine nur sehr allmähliche Genesung

In ihrer eigenen Rückschau auf jene Zeit merkte Webers „Gefährtin“, Marianne Weber, sechs Jahren nach dem Tod ihres Mannes an, dass in der „leichten berauschenden Luft Nordspaniens alles menschliche Wirrsal sein bedrohliches Gewicht verloren“ habe. Zugleich erinnerte sie sich jedoch, dass der Ehemann ungeachtet der Faszination der neuen und fremden Welt auf dieser Reise ständig reizbar gewesen war, sich oft über den Schlendrian der Verkehrsmittel ärgerte und ganz allgemein Zeichen nervöser Erschöpfung gezeigt habe. Schon auf der Rückreise nach Heidelberg empfand Weber ein Unwohlsein, er fieberte und fühlte sich „bedroht“.Der Beginn des Heidelberger Wintersemesters 1897/98 verlief scheinbar ruhig, wie seine Ehefrau nach Charlottenburg berichtet: „Max geht es nun wieder besser, er lebt verständig, geht etwas spazieren und ist öfters abends zeitig zu Bett gegangen; er schläft viel.“ Am Ende des Semesters zeigen sich erste Anzeichen einer zunehmend schwerer werdenden Erkrankung, die sich vor allem in Schlaflosigkeit und Sprechstörungen bemerkbar macht. Der Diagnose des Heidelberger Psychiaters Emil Kraepelin auf „Neurasthenie“ folgend verbrachten Max und Marianne Weber – begleitet von Alfred Weber – einen dreiwöchigen Erholungsurlaub im Waadtländischen Glion, oberhalb von Montreux, der jedoch nur eine kurzzeitige Verbesserung des Gesundheitszustandes bewirkte. Klarsichtig schreibt er am 14. April 1898: „Natürlich, nervöse Käuze bleiben wir allesammt, daran ist nicht zu ändern, aber man hat jetzt nachdem allmälig Alles, was Einen drückte, verdaut ist, den Humor dazu, sich daran nicht viel zu kehren.“Was genau ihn „drückte“, formuliert Weber in keinem der vielen nachfolgenden Briefe. Stattdessen gibt es stattdessen eine immer wiederkehrende Aufzählung diverser Beschwerden, Schlaflosigkeit allem voran. Die mittlerweile bereits mehrfach – und zum Teil indiskret ausufernd – beschriebene Phase der Krankheit spiegelt sich sehr plastisch in den Briefen des zweiten Halbbandes wider: Am 16. Juli 1898 beantragte Weber seine vorzeitige Beurlaubung von den Lehrverpflichtungen für einen längeren Sanatoriumsaufenhalt in Konstanz, von dem er seinem Lehrstuhlnachfolger in Freiburg, Carl Johannes Fuchs, bereits am 7. Juli 1898 berichtet hatte:

Zu meiner aufrichtigen Verzweiflung muß ich die ganzen Ferien für eine Nerven-Kur verwenden, um endlich wieder ganz auf den Damm zu kommen. Ich gehe nach Constanz. Alte Überreizung, die dann verschleppt war, spanische Malaria-Infektion etc., manche Aufregungen und ganz falsche Anfangsbehandlung tragen mir diese harte Prüfung ein.

Während der insgesamt fünf Wochen in einem Konstanzer Sanatorium im Sommer/Herbst 1898 schreibt der Kranke an seine Ehefrau – der die Ärzte empfohlen hatten, in Heidelberg zu bleiben – eine Serie von Briefen, die detaillierte Einblicke in den Krankheitsverlauf und die angewandten Heilmethoden gewähren. Wieder zurück in Heidelberg belegt seine Korrespondenz der Jahre 1898/99 eine gesundheitliche Berg- und Talfahrt, in der Max Weber zu keiner wissenschaftlichen Arbeit kommt: Die Arbeitsmaschinerie scheint vollkommen zusammengebrochen zu sein. Nach mehrsemestrigen Beurlaubungen – bei vollem Gehalt – reicht Max Weber am 7. Januar 1900 sein erstes Entlassungsgesuch ein, ein erneuter Sanatoriumsaufenhalt in Urach auf der Schwäbischen Alb für die Dauer von fast fünf Monaten schloss sich an, die Wohnung in Heidelberg wird von Marianne aufgelöst.Wen die „Krankheit“ Webers immer noch brennend interessiert, wird nun in diesen beiden Bänden – vor allem im zweiten Halbband – mehr als genug Lesestoff finden, auch wenn die Herausgeberinnen darauf hinweisen, dass Lücken entstanden sind. Dies betrifft vor allem die bewusste Vernichtung von Briefen zum Komplex des Vater-Sohn-Konfliktes durch Helene Weber – es findet sich kein einziger Brief an seinen Vater – und die Verstümmelung der Briefe aus den Phasen der Sanatoriumsaufenthalte durch Marianne Weber. Was genau hinter der immer wieder nur angedeuteten „sexuellen Neurasthenie“ steckte, derentwegen Weber in Behandlung war, geben auch diese versammelten Briefe nicht preis, ebenso wenig, was es mit jener „krankhaften oder perversen Anlage“ auf sich hatte, „die sich ja in der Studentenzeit in eigentümlichen Phantasien geäußert hat“, wie Marianne an ihre Schwiegermutter schrieb. In der angebracht nüchternen Manier von ärztlichen Diagnosen schrieb der behandelnde Arzt in Konstanz, Friedrich Mülberger, Max Weber „leidet an einer functionellen Erkrankung des Nervensystems, die sich namentlich in rascher Erschöpfung bei geistiger Arbeit äußert“. Wenn man bedenkt, in welchem Maß in diesem Familiensystem eine auffallende Häufung psychiatrischer Erkrankungen zu verzeichnen ist – Emmy und Anna Baumgarten, Hans und Otto Benecke – und wenn man hinzunimmt, in welchem Umfang Max Weber – und seine Frau – Beruhigungs- und Schlafmittel konsumierten – die ganze zeitgenössische Palette von Opiaten, die der Schwager Ernst Mommsen bereitwillig verschrieb: Brom, Opium, Trional, Codein, Heroin – so erscheint es alles andere als verwunderlich, dass Weber erhebliche gesundheitliche Probleme hatte. Die Passagen über den Aufenthalt im „Sanatorium für Nervenleidende und Erholungsbedürfte der gebildeten Stände“ des Dr. Richard Klüpfel in Urach vom 1. Juli bis zum 17. November 1900 jedenfalls verdeutlichen den absoluten Tiefstand des Krankheitsverlaufs.

Nach der Uracher Zeit beginnt die Phase der langandauernden Reisen nach Italien, erst ab Herbst 1902 kann von einem sehr behutsamen Neubeginn wissenschaftlicher Lektüre die Rede sein. Auffallend ist, dass es keine der früheren, ausführlichen Reisebriefe Max Webers von seinen teilweise monatelangen Aufenthalten in Ajaccio auf Korsika, in Grindelwald im schweizerischen Kanton Bern, Rom („ein grundhäßliches Nest“, in dem er sich jedoch vorstellen könnte, „lebenslang“ zu leben), Florenz und Nervi bei Genua gibt, zumindest finden sich keine im hier anzuzeigenden Band. Sein Brief zum Geburtstag seiner Mutter vom 12. April 1902 belegt, welche Schwierigkeiten Weber beim Schreiben von Briefen hatte, er selbst spricht vom „ekligen Schreibkrampf“, und so beschränken sich die Briefe und Postkarten vor allem auf Mitteilungen über das aktuelle Wetter, die Unterkunft und die anhaltenden gesundheitlichen Beschwerden.

Ungeachtet aller zweifellos geübten Sorgfalt von Herausgeberinnen und der Münchner Zentralredaktion findet der aufmerksame Leser dann doch auch Korrekturbedürftiges, so etwa den Irrtum in der Einleitung, dass die „Villa Helene“ in der Charlottenburger Marchstraße gelegen habe, wohingegen dies der Name des Familienhauses in der Leibnizstraße 19 gewesen war: in das sehr viel bescheidenere Haus in der Marchstraße 7f zog Helene Weber erst im Oktober 1902. Auflösen kann der Rezensent als Enkel eines königlich-bayerischen Rittmeisters die den Herausgeberinnen unvertraute Formel, die Max Weber bei der Schilderung seiner Reitkünste in Schottland verwandte, indem er davon berichtet, dass er öfter vom „Majorszügel“ Gebrauch machen musste (28. August 1896): Um einem Absturz zu verhindern und das Pferd zum Stehenbleiben zu bewegen, umarmten die reiterlich unerfahrenen höheren Offiziere einfach den Hals ihres Pferdes. Etwas ungeschickt ist wohl die Formulierung, dass Max und Marianne Weber im August 1899 „in Eibsee“ Urlaub machten, handelt es sich doch beim Eibsee um einen seit 1848 in Privatbesitz befindlichen See, an dessen Ostufer ein berühmter Gasthof steht, in dem das Ehepaar logierte [„Es ist wunderbar hier, nur etwas zu viel Kultur (abgerahmte Milch, frisierte Kellnerinnen)“]; zu bedauern ist die Tatsache, dass die von Weber an Marianne geschickten Fotografien seiner Unterkunft in Konstanz dem Band nicht beigegeben wurden, wenigstens eine der zahlreichen Postkarten als Abbildung hätte man dem kostspieligen Band durchaus beigeben können. Rätselhaft bleibt erneut die unerwartete Neuzählung der Fußnoten in der Einleitung nach entweder 96 oder 99 Fußnoten.

Jenseits solcher Petitessen muss angesichts der beeindruckenden Materialfülle der Briefe insgesamt festgehalten werden, dass den Herausgeberinnen auch dieses Briefbandes im Rahmen der MWG zu danken ist, dass sie mit dieser Sammlung nicht nur ein informatives Dokument deutscher Geistes-, Kultur- und Sozialgeschichte vorlegen, sondern auch den Blick für den leidenschaftlichen und zugleich leidenden Menschen Max Weber schärfen. Nicht groß genug muss erneut die Anerkennung für die unendlich mühevolle Entzifferung der Handschrift Webers sein, vor allem durch Manfred Schön, der ungeachtet seines Ruhestandes die Auflösung der im Grunde genommen unleserlichen Schreibunart Max Webers übernommen hat: In einem Stoßseufzer schreibt dieser selbst am 3. April 1896: „Verfluchte Handschrift!“, die schon den Setzern und Druckern des Verlags Mohr-Siebeck endlose – und teure – Mühen bereitete.

Und nicht nur diese Leistung gilt es lobend hervorzuheben, sondern vor allem auch die grandiose Aufklärungsarbeit der teilweise komplizierten Zusammenhänge, bis hin zur Identifikation des in der Schulgasse 4 wohnhaften „Dieners“ der Heidelberger Universität Karl Greiner, der für Instandhaltung, Heizung und Reinigung des Volkswirtschaftlichen Seminars zuständig war, des deutschen Ingenieurs der Firma Siemens & Halske, Ernst Ruehle, der zuständig war für die elektrische Beleuchtung der baskischen Küste, oder des Verwalters des „Konstanzer Hofs“ –  Mattenklott! Wer selbst solchen Spuren nachzugehen unternahm, muss die beachtliche Leistung, die hinter solcher Entzifferung steckt, voller Anerkennung würdigen, auch wenn sie manchen als überflüssig erscheinen mag.

Ohne das Verdienst der Herausgeberinnen schmälern zu wollen, muss abschließend erneut gemahnt werden, das Unternehmen der Max-Weber-Gesamtausgabe mit Hochdruck zum baldigen Abschluss zu bringen. Es gerät allmählich in die Nähe eines Wissenschaftsskandals, dass das hochsubventionierte und nunmehr seit über vierzig Jahren bestehende Unternehmen der MWG (1975: Konstituierung des „Beauftragten Editorenkreises“, von dem nur noch Horst Baier und Wolfgang Schluchter leben), dessen erste Bände im Jahr 1984 erschienen sind, bis heute noch bedeutende Lücken aufweist. Allen voran fehlen die wissenschaftstheoretisch-methodologischen Schriften (Bände I/7, I/12 und I/13) und die Fassung der Protestantischen Ethik von 1920 (Band I/18): Drei Bände davon werden seitens des Verlags für das Jahr 2016 angekündigt. Weiterhin stehen noch aus die beiden Briefbände bis zum Jahr 1894, über deren Erscheinen der Verlag keine Ankündigung macht (Bände II/1 und 2), ebenso wenig wie über die ebenfalls noch ausstehenden Bände der Vorlesungen (Bde. III/2 und 3).

Falls das „schildkrötenhafte Fortschreiten“ (Jürgen Kaube) der MWG nicht beschleunigt werden kann, wird es noch dazu kommen, dass im klaren Kontrast zu ihr die Parallelaktion der Marx-Engels-Gesamtausgabe, deren editionsgeschichtlichen Verlauf und Ergebnisse der Rezensent bereits vor acht Jahren ebenfalls skizzierte eher fertig ist, zumal deren Ergebnisse in digitaler Form frei verfügbar sind.

Zumindest vor dem Jahr 2020 – der hundertsten Wiederkehr des Todestages Max Webers! – sollte die MWG abgeschlossen sein.

Titelbild

Max Weber: Max Weber-Gesamtausgabe. Band II/3: Briefe 1895–1902.
Herausgegeben von Rita Aldenhoff-Hübinger, in Zusammenarbeit mit Uta Hinz.
Mohr Siebeck, Tübingen 2015.
1030 Seiten, 459,00 EUR.
ISBN-13: 9783161537530

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