Fragen statt Antworten

Christina Olszynski, Jan Schröder und Chris W. Wilpert legen einen Sammelband zur zeitgenössischen jüdischen Literatur vor

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Auseinandersetzung mit der individuellen wie auch sozialen Identität, die Suche nach der verlorenen Heimat oder die Erfahrung der Mobilität waren einst für die jüdische Literatur repräsentativ. Indes gibt es mittlerweile vor allem in der deutschen Gegenwartsliteratur viele Autoren mit einem „Migrationshintergrund“, wodurch die Juden seit Langem nicht mehr als das exemplarische Nomadenvolk gelten, das seine eigenen Erfahrungen in einer mehr oder minder fremden Gesellschaft literarisch verarbeitet. Im Gegenteil: Bei der Sichtung der Neuerscheinungen entsteht der Eindruck, dass die Identitätssuche in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geradezu inflationär betrieben wird. Womöglich auch aufgrund dieser Überpräsenz haben sich Olszynski, Schröder und Wilpert, die Herausgeber des 2015 veröffentlichten Sammelbands Heimat – Identität – Mobilität in der zeitgenössischen jüdischen Literatur, u.a. auch mit diesem Phänomen befasst. Die Publikation geht auf eine interphilologische Konferenz zurück, die im November 2013 in Bamberg abgehalten wurde; unter den Beiträgern sind Germanisten, Romanisten und Anglisten vertreten.

Den Sammelband eröffnet eine Einleitung, in der sich die Herausgeber den drei Titel-Begriffen Heimat, Identität und Mobilität zu nähern versuchen. Doch bereits „die Vorstellung des Jüdischen als homogener Bezugsrahmen“ ist ihnen zufolge aufgrund der Untergruppenbildung, wie z.B. in die Aschkenasen und Sepharden, zu hinterfragen. Zudem sei das jüdische Schreiben innerhalb der Diaspora stark an die jeweiligen nationalen Literaturtraditionen gebunden. Bedenke man außerdem die unterschiedlichen Orte des Schreibens und die Diversität der Sprachen, erscheine eine Definition dessen, was „die jüdische Literatur“ sei, ohnehin aussichtslos: „Deshalb gilt es weniger, Antworten zu geben, als vielmehr die Probleme aufzuzeigen, die mit dem Begriff jüdische Literatur verbunden sind“. Gleichermaßen problematisch und schwierig zu definieren erscheint den Herausgebern der Begriff der Heimat. Hier folgen sie einer in der Forschung verbreiteten Annahme, „dass immer dann über Heimat gesprochen wird, wenn diese abwesend ist“. In ähnlicher Weise gewinne die Identität primär dann Relevanz, wenn sie bedroht oder prekär werde. Hinsichtlich der Mobilität, die früher meist im Kontext der Vertreibung behandelt und erst in der Gegenwart aufgewertet wurde, weisen die Herausgeber darauf hin, dass gerade der „permanente räumliche und sprachliche Transfer für das Judentum konstitutiv“ ist. Die Einleitung beendet ein während der Tagung entstandenes Gedicht.

Der Kern des Bandes ist in vier thematische Blöcke aufgeteilt: Entwürfe im Ausnahmezustand, Brüche in der Vergangenheitsnormalisierung, Identitäten im Wandel und Orte in Bewegung. Die Wortwahl mag den LeserInnen suggerieren, dass sich die jüdische Literatur der Gegenwart in einer Transformationsphase befinde. Diese Annahme wird jedoch in den Beiträgen selbst weder bestätigt noch widerlegt, sodass sich hierbei eine gewisse Willkür vermuten lässt. Sehr hilfreich dagegen sind die jedem Beitrag vorangestellten Abstracts jeweils in deutscher und englischer Sprache.

Den Konferenzband charakterisiert eine thematische Vielfalt, die sich anhand ausgewählter Aufsätze wie folgt veranschaulichen lässt: So schreibt Peter Waldmann in seinem Beitrag Der Jude als Gedächtniskerze. Das Schicksal der jüdischen Identität in Rabinovicis Roman „Suche nach M.“ den Kindern der Überlebenden die Funktion einer Gedächtniskerze zu, die einerseits darin bestehe, andere Gesellschaften in ihrer Identität zu stabilisieren, und andererseits „die schlimmste Niederlage des Judentums in einen Sieg“ zu verwandeln. Allerdings zweifelt Waldmann daran, dass „die Juden, die in der Vergangenheit als die Prototypen des Fremden die Avantgarde der multikulturalistischen Lebensweise waren, […] das multikulturalistische Zeitalter“ überleben würden. Mareike Eisenhuth beleuchtet in ihrem Beitrag Männer, Frauen, Pferde und Hunde: Identitätsexperimente in Maxim Billers Novelle „Im Kopf von Bruno Schulz“ narrative Strategien zur Imagination unterschiedlicher Menschen und Tiere. Die Autorin ordnet Billers Novelle dabei „in die ostjüdische Literaturgenealogie des frühen 20. Jahrhunderts“ ein, deren Repräsentanten u.a. Franz Kafka und Bruno Schulz waren. In seiner Novelle behandelt Biller die Frage, „wie in Nazideutschland Menschen zu Bestien wurden und sechs Millionen Juden systematisch ermorden konnten“. Er fordere die LeserInnen dazu auf, „die verschollenen und sich verflüchtigenden Identitäten einer ganzen Generation durch die Lektüre von Schulzʼ Gesammelten Werken intertextuell zu entschlüsseln“. Christina Olszynski eruiert am Beispiel von Mois Benarrochs Roman En las puertas de Tánger die Konstruiertheit und Wandelbarkeit sozialer Identität, die einerseits „in der Perspektive des Anderen begründet liegt“ und andererseits „einer Auseinandersetzung mit selbst- und fremdwahrgenommenen Gruppenzugehörigkeiten“ bedarf. Daniel Hoffmann beschäftigt sich mit dem 1958 in der DDR geborenen und 1978 von der BRD freigekauften Lyriker Matthias Hermann, dessen Besonderheit in einer skeptischen Haltung gegenüber vielen Unbedingtheiten des Lebens bestehe. Obwohl Hoffmann Hermanns Einfühlungsvermögen in das Schicksal des jüdischen Volkes lobt, zeigt er sich, vor allem wegen fehlender Innovation, von dessen kritischer Sichtung des Judentums als Religion allerdings nicht überzeugt. Annette Paatz schreibt in der Tradition des Postmemory-Konzeptes über die jüdischen Erfahrungen im (auto-)biographischen Werk von Marjerie Agosín. Elisabeth Güde geht der Unterscheidung zwischen Heimat „Sprache“ und Sprachheimat nach und stellt fest, dass in den meisten wissenschaftlichen Texten zur Mehrsprachigkeit der Juden zwar „immer wieder das mehrsprachige Universum der Vorfahren evoziert [wird], […] doch die literarische Mehrsprachigkeit […] hinter der referierten Mehrsprachigkeit des Alltags in den allermeisten Fällen zurück“ bleibt. Als letztes Beispiel ist auf den äußerst informativen Beitrag von Mechthild Gilzmer Der Orient als Heimat der sephardischen Juden? einzugehen, in dessen Fokus die interne Heterogenität des Judentums steht. Dort erfahren die LeserInnen, dass es nicht nur die aschkenasischen und sephardischen Juden gibt, sondern auch die sephardischen Juden aus Nordafrika und der Mittelmeerregion einerseits und die spanischen Juden andererseits, die bereits früher aus einem der südeuropäischen Länder nach Frankreich emigrierten.

Ein Verdienst des Bandes besteht darin, dass er die stillschweigend suggerierte Homogenität des über die ganze Welt verstreuten Judentums widerlegt. Hervorzuheben ist außerdem die Aktualität der herangezogenen Romane, von denen der jüngste erst 2013 erschienen ist. Darüber hinaus ermöglicht der interphilologische Zugang einen Blick auf den Umgang mit der jüdischen Literatur in den benachbarten Philologien. Allerdings ist die interphilologische Ausrichtung zugleich ein Grund dafür, dass sich der Band in keine konsistente Forschungstradition einordnen lässt. So ist der Sammelband vorrangig denjenigen LeserInnen zu empfehlen, die sich in der jüdischen Literatur bereits auskennen und nach einem Anstoß für eine eingehendere Auseinandersetzung suchen.

Nicht selten lässt sich beobachten, dass Tagungsgäste sich darauf beschränken, eigene Forschungsergebnisse zu präsentieren und nicht unbedingt daran interessiert sind, gemeinsam die bereits bestehenden Forschungsprobleme zu lösen. Ähnliches ist auch an dem hier besprochenen Konferenzband zu beobachten. Denn leider werden mehr neue Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben. Dennoch wirkt dieser Sammelband inspirierend und führt zu weiteren Fragen, die in dem vorliegenden Band leider keine Berücksichtigung fanden: Hat jede Nachkriegsgeneration der Juden ihren eigenen Blick auf die Identitätsfrage hervorgebracht? Wodurch unterscheidet sich die jüdische Literatur von der sogenannten Migrantenliteratur? Lässt sich womöglich kein Unterschied mehr ausmachen – wie der von Wilpert verfasste Beitrag vermuten lässt, in dem die russische Identität und die nationalen Stereotypen mehr Platz einnehmen als die eigentlichen Themen des Sammelbandes? Oder könnte der Unterschied in einem an die jüngste Generation wortlos erteilten Auftrag liegen, das Jüdische und seine Traditionen gleichsam auferstehen zu lassen? Was also macht das Spezifikum der jüdischen Literatur aus oder ist schon vielmehr vom Ende der jüdischen Literatur zu sprechen?

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Christina Olszynski / Jan Schröder / Chris W. Wilpert (Hg.): Heimat – Identität – Mobilität in der zeitgenössischen jüdischen Literatur.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2015.
240 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783447104234

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