An der schönen blauen Donau und am Hudson River

Catalin Dorian Florescus Roman „Der Mann, der das Glück bringt“ erzählt am Beispiel zweier Familien auch eine Gegengeschichte von Moderne und Fortschritt

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht für alle Menschen und nicht überall in Europa brachte der (natur-)wissenschaftliche, ökonomische und industrielle Fortschritt des beginnenden 20. Jahrhunderts Wohlstand, Lebensqualität, neue Freiheiten von Bevormundungen des Staates und der Kirche, von gesellschaftlichen Zwängen oder die Befreiung aus wirtschaftlichen Notlagen mit sich. Einige waren sowohl familiär und schichtenspezifisch als auch kulturtopographisch bedingt schlichtweg abgehängt davon, was wir gerne mit der gesellschaftlichen und kulturellen ‚Moderne‘ um 1900 assoziieren. Das trifft in gleicher Weise auch auf einen großen Teil der meist als italienische oder irische Einwanderer ins Land gekommenen Menschen zu, die – schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – ihr Glück in den zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht so dicht besiedelten Städten an der nordamerikanischen Ostküste suchten, namentlich in der damals noch gar nicht so pulsierenden Metropole New York.

Wie schon in seinem 2008 erschienenen Roman „Zaira“ glückt dem 1967 in Rumänien geborenen, deutsch schreibenden Catalin Dorian Florescu anhand der beiden wohl ebenfalls um 1960 geborenen Protagonisten Ray und Elena eine transatlantische Geschichtsbetrachtung. In dieser werden Familien- und Generationengeschichten nicht minutiös nacherzählt, sondern an historisch und in der fiktiven Biographie der Figuren signifikanten Stationen der Jahre 1899, 1919, 1937 und 2001 punktuell die Wendepunkte von Lebenswegen seit der Großelterngeneration von Ray und Elena markiert. In „Zaira“ war es die gleichnamige Hauptfigur, die es in Amerika mit einem Nobelrestaurant zu einigem Wohlstand gebracht hatte und die als 70-jährige in ihre am Südostrand der ungarischen Tiefebene gelegene Heimat, das heute zum Teil zu Rumänien gehörige Banat, zurückkehrt. Dort hofft sie, ihre längst vergessene große Liebe wiederzufinden, blickt gleichzeitig aber auch auf ihre Kindheit und Jugendjahre im archaisch anmutenden, in der Erinnerung mythisch wirkenden Mitteleuropa sowie auf ihre Lehr- und Wanderjahre bis hin zum Erfolg in Amerika zurück.

In seinem neuen Roman „Der Mann, der das Glück bringt“ lässt Florescu nun in den ersten sechs Kapiteln abwechselnd und zu gleichen Teilen den in New York lebenden Ray und die aus eben dem Banat stammende, nach New York kommende Elena ihre Familiengeschichten seit der Großelterngeneration erzählen. Schon „Zaira“, aber auch der 2011 erschienene Roman „Jacob beschließt zu lieben“, mit dem Florescu der Durchbruch in Deutschland gelang, wurde zwar vielfach gelobt, erntete aber auch viel Kritik, indem Florescu im Umgang mit den historischen Räumen und der Einbettung seiner Figuren in geschichtliche Kontexte ein Hang zum Kitsch und zur Folklore nachgesagt wurde. Das Gegenteil ist der Fall: Wie in den genannten früheren Romanen versteht es der Autor auch in seinem neuen Text glänzend, Kulturtopographie und Kulturgeschichte in der Erlebnis-Perspektive seiner Figuren glaubhaft und ohne geschichtliche Belehrung oder moralischen Zeigefinger lebendig werden zu lassen. Dabei erfährt der Leser erst in den letzten beiden Kapiteln, wie die beiden so unterschiedlichen Familiengeschichten zusammenhängen: Nämlich eigentlich nur durch das Treffen der Protagonisten der Enkelgeneration im Umfeld der Anschläge vom 11. September 2001 in New York. Elena ist gekommen, um die Asche ihrer toten Mutter in dem Land zur letzten Ruhe zu bringen, wohin sie so gerne emigriert wäre, durch ihre Lepra-Erkrankung 1938 aber nicht mehr verheiratet werden konnte. Ihre Geschichte erzählt sie größtenteils Ray, im achten Kapitel aber auch der von ihr liebevoll „Tanti Maria“ genannten Frau, die sich im Leprakranken-Lager um ihre Mutter gekümmert hatte, so dass der Leser Zuhörer dessen wird, was zwischen Elena und Ray beziehungsweise Elena und „Tanti Maria“ berichtet wird. Dass es sich mit Ray und Elena um Ich-Erzähler handelt, die sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen, macht sich indessen auf weiten Strecken des Romans kaum bemerkbar, vor allem in den ersten sechs Kapiteln nicht, in denen die beiden wie Chronisten über die Geschichten ihrer Familien berichten. Erst in den letzten zwei Kapiteln, die sich zeitlich zur Erzählgegenwart und zur Bekanntschaft von Elena und Ray 2001 in New York hin bewegen, wird diese Erzählsituation für den Leser erkennbarer.

Trotz der nur in der dritten Generation mit Elena und Ray Berührungspunkte findenden Familiengeschichten versteht es der Roman, den Leser unaufdringlich zum Nachdenken über historische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen diesseits und jenseits des Atlantiks über ein Jahrhundert hinweg zu bringen. Und zwar ohne einen angestrengten Plot zu konstruieren, bei dem sich am Ende die angedeuteten Fäden der beiden Familiengeschichten zusammenführen lassen. Lebensgeschichten von erfundenen Figuren werden damit zu exemplarischen Mosaiksteinen von Weltgeschichte und in den Lebenswirklichkeiten der Figuren spiegeln sich die für ihre Kulturräume signifikanten sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen der jeweiligen Gegenwart wider.

Da ist zum einen Rays Großvater, der, ohne zu wissen, wer seine Eltern waren, viele Namen und Gelegenheitsjobs annimmt, sich 1899 in der Welt der Varietés, Schmuggler und Migranten rund um die im südlichen Manhatten gelegene Mulberry Street und Allen Street durchschlägt und von einem besseren Leben als Sänger und Unterhalter träumt. Als einer, der ohne familiäre oder religiöse Bindung und Geschichte heranwächst, verkörpert Rays Großvater die Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit einer Generation, deren Eltern noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus Irland oder Italien kommend ein besseres Leben in der Neuen Welt suchten. Das Manhatten, in dem er sich bewegt, ist dabei das Gegenbild und die Schattenseite jener nur wenig später zur aufregenden Metropole stilisierten Stadt New York.

Elenas Großmutter Leni wächst dagegen im rumänischen Dorf Uzlina am Donaudelta auf, einer Gegend, die „wie aus der Zeit gefallen schien, immer gleich und gleichgültig gegenüber der Außenwelt, unveränderlich, seitdem Gott sie erschaffen hatte“. Elenas Erzählung setzt mit dem Jahr 1919 und der vierten Schwangerschaft ihrer Großmutter Leni ein, deren erste drei Kinder vor oder kurz nach der Geburt gestorben waren, weshalb sie von allen Nachbarn und Dorfbewohnern argwöhnisch als eine vom Unglück verfolgte Frau beäugt wird. Von der Amtskirche und ihren Würdenträgern ist die Großmutter zwar enttäuscht und hat wenig übrig für den Popen und seine christlichen Ratschläge, doch entwirft die Enkelin ein Bild von der Umgebung der Großmutter, in dem christliche Orthodoxie als ebenso gesellschaftsfördernd von den Bewohnern wahrgenommen wird, wie auch Aberglauben, Wunderhoffen und die Ahnung von Numinosem die Alltagswirklichkeit der Menschen prägen. Landschaft, Gesellschaft, Natur und Lebensrhythmus erscheinen als etwas Vormodernes, unbeeindruckt vom Wirken der Menschen und scheinbar gänzlich vom Gang der Weltgeschichte unberührt. So ist es auch unerheblich, dass die Zeitung, die der bei Leni und ihrem Mann Iulian lebende junge Vanea Elenas Großvater vorlesen soll, schon beinahe ein Jahr alt ist und die Nachrichten vom Ende des Krieges und dem Spartakus-Aufstand den beiden ebenso fremd erscheinen, wie uns als Lesern diese Lebensweise archaisch vorkommt und doch mitten in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur am Donaudelta Realität gewesen ist.

Vom mythischen und langen kulturgeschichtlichen Atem der Donau, wie ihn Claudio Magris in seiner „Biographie eines Flusses“ beschrieben hat, profitieren indessen die atmosphärisch dichten Darstellungen des einfachen Dorf- und Landlebens. Gleichzeitig ist die Donau auch das verbindende Motiv mit der Lebenswelt von Rays Großvater. Wie in Mitteleuropa und in der Biographie von Leni die Donau gewissermaßen den Rhythmus des Alltags vorgibt, so bestimmt auch der Hudson River in New York die frühen Mannesjahre von Rays Großvater. Der europäische Strom wird dabei gleichsam zum Symbol für Werden und Vergehen von Natur und Kultur, aber auch für die Sinnlosigkeit allen menschlichen Strebens:

Die Donau war das Eingeweide Europas. Sie nahm alles in sich auf, was man ihr auf ihrem langen Weg quer durch den Kontinent mitgab, und lagerte es im Osten ab: Die Ausscheidungen der Menschen, den Abfall und die Abflüsse aus Tausenden Fabriken. Sie wusch die Körper von badenden Kindern und trug deren Schmutz fort. An ihren Ufern brachten Männer aus vielen Ländern stolz ihre Autos auf Hochglanz. Die wenigen, die schon ein Auto hatten. Andere führten dorthin ihr Vieh zum Tränken.

In den Jahren um 1900 verdingt sich Rays Großvater unter anderem auch als Helfer bei den Totentransporten. Der dafür benutzte East River wird dabei in gleicher Weise wie die Donau zum Sinnbild der gleichgültigen Natur gegenüber den Folgen der wachsenden Großstadt:

Auf der einen Seite, am Hudson River, kamen die Lebenden an; auf der anderen Seite, am East River, verließen die Toten die Stadt. Die Toten und die Lebenden bekamen einander niemals zu Gesicht. Sie wussten nichts voneinander, sie trafen sich nie, aber sie nährten den ewigen Kreislauf des Lebens. New York nahm die Menschen im Westen auf und schied sie im Osten aus. Dazwischen schenkte es wenigen ein gutes, sattes, bequemes Leben und quetschte die anderen aus wie eine Zitrone.

Was wir als Moderne bezeichnen und historisch einordnen, entlarvt Florescu in den beiden Großelterngeschichten als Produkt einer Geschichtsschreibung, die jene topographisch abgeschiedenen, von Aberglauben und Übersinnlichem geprägten Regionen Europas und deren Bewohner ebenso wenig berücksichtigt, wie die Verlierer der florierenden amerikanischen Großstadt, die keinen Anteil am Wohlstand erhalten, sondern letztlich in ihren zu Ghettos verkommenden Einwanderer-Milieus meist ohne Aufstiegsmöglichkeit verharren. Die erfundenen Leben, denen der Roman ein Profil und eine Geschichte verleiht, sind solche, die weder von Nachrichten berührt oder verändert werden konnten, noch jemals im großen Gefüge der Zeitläufte Hoffnung auf eine ihnen entgegengebrachte Erinnerung haben durften. Es sind Lebensgeschichten von Leid, Entbehrung und Lebenshunger, eine Bestandsaufnahme von Verlorenen und Vergessenen und deren Resignation, Moral und religiösem Empfinden, was sich zusammengenommen als eine ‚andere‘ Geschichte der Moderne lesen lässt. Das Glücksversprechen einer besseren Welt diesseits und jenseits des Atlantiks erfüllt sich – und das mag man als versöhnliche Perspektive des Romans werten – wenigstens oder erst in der aufkeimenden Beziehung von Ray und Elena, die aber auch schon verschattet ist durch die nun untrüglichen Zeichen einer postmodernen, auf ihre Weise wiederum grausamen Wirklichkeit, wie sie mit dem Terror des 11. September in die Realität der erzählten Figuren einbricht und uns als Lesern in Erinnerung geblieben ist.

Titelbild

Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
327 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783406691126

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch