Kleine und große Fluchten

Anna Katharina Hahns „Das Kleid meiner Mutter“ erzählt fantasievoll von den Geheimnissen einer Familie

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Arbeit, kein Geld, keine Perspektive: Das Leben der jungen Spanierin Ana María, genannt Anita, ist wie das ihrer Freunde wenig vielversprechend. Sie alle sind längst erwachsen und haben ‚richtige‘ Berufe erlernt, doch es darf sich schon glücklich schätzen, wer einen Aushilfsjob ergattert, um wenigstens ein bisschen Geld zum Familieneinkommen beizusteuern. Anita lebt in ihrem ehemaligen Kinderzimmer und teilt sich somit Wohnung und Alltag mit ihren Eltern Blanca und Oscar. Durch die Eurokrise ist es um die gesamte Familie finanziell schlecht bestellt und Anita fragt sich jeden Morgen aufs Neue, ob es sich wirklich lohnt aufzustehen.

Doch mit „Das Kleid meiner Mutter“ hat Anna Katharina Hahn keinen dokumentarischen Roman über die spanische Wirtschaftslage geschrieben, sondern eine ebenso fantastische wie fantasievolle Geschichte, die Anita schon bald aus ihrem deprimierenden Alltag reißt, auch wenn ihr zunächst ein schwerer Schock bevorsteht: Eines Morgens findet Anita Blanca und Oscar tot im Schlafzimmer. Was geschehen ist, ist ihr ein großes Rätsel, und von diesem Moment an scheinen die ‚normalen‘ Gesetzmäßigkeiten des Lebens außer Kraft gesetzt. Als Anita sich dann auch noch ein Kleid ihrer Mutter überstreift, verändern sich ihr gesamtes Erscheinungsbild und Auftreten und sie wird plötzlich selbst von engen Freunden für Blanca gehalten. Der Rollenwechsel ist für Anita zwar befremdlich, aber doch nicht ohne Reiz, denn als Blanca hat sie die Chance, den Geheimnissen der Eltern auf die Spur zu kommen.  

Blanca und Oscar waren passionierte Vielleser – ganz im Gegenteil zu Anita, die mit Büchern nicht viel anfangen kann. Aber um die Vergangenheit der Eltern zu verstehen, hat die junge Frau keine andere Wahl, als in gleich mehrere literarische Rätsel einzutauchen, die um die mysteriöse Figur des deutschstämmigen Schriftstellers Gert de Ruit kreisen. Der mittlerweile in die Jahre gekommene Autor ist ein Phantom und es gibt nur sehr wenige Menschen, denen er sich bisher gezeigt hat, sodass die wildesten Gerüchte über ihn in Umlauf sind. Gewalttätig, brutal und einschüchternd soll er sein, und das Leben derer, mit denen de Ruit in Berührung gekommen ist, war danach nicht mehr dasselbe – sofern sie überhaupt noch eins hatten. Für Anita steht jedoch fest, dass sie herausfinden muss, was de Ruit mit ihren Eltern zu schaffen hatte, wer der Mann mit dem schwarzen Hund ist und warum Blanca während eines Ferienaufenthaltes immer wieder nachts verschwunden ist.

„Das Kleid meiner Mutter“ ist ein Roman, wie es ihn in der deutschen Literatur selten gibt: Die Autorin zieht weite Kreise durch verschiedene Länder und Zeiten und entfaltet kunstvoll die unwahrscheinliche Verbindung von Menschen, die nichts weiter gemeinsam zu haben scheinen als die Begeisterung für Literatur. Beizeiten erinnert das an Paul Austers (frühe) Werke, in denen sich die Helden häufig in einem Buch im Buch wiederfinden und wo aus zahlreichen Nebenschauplätzen ein dicht gewobenes Netz von Fiktionen wird. Und so geht es in Anitas Geschichte vielleicht gar nicht in erster Linie um ihre Eltern, die Familiengeheimnisse oder die spanische Arbeitsmarktmisere, sondern um die kleinen und großen Fluchten, die in die Literatur münden.

Titelbild

Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
312 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425169

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