Vorübungen in Frankfurt
Mit „Pandectae“ erscheint der dritte Band aus Arthur Schopenhauers Nachlass
Von Nico Schulte-Ebbert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNachdem die Cholera von Indien über Russland im Sommer 1831 Berlin erreicht hatte, verließ der 43-jährige Arthur Schopenhauer im September fluchtartig die preußische Hauptstadt, um zunächst in Frankfurt Schutz vor der sogenannten ‚asiatischen Hydra‘ zu finden. Am Main lebte Schopenhauer zurückgezogen, beendete hier im Winter die Übersetzung von Baltasar Graciáns 1647 erschienenem Oráculo manual y arte de prudencia und zog, noch immer unter Depressionen leidend, bereits 1832 weiter nach Mannheim. Doch auch hier sollte er es nicht länger als ein Jahr aushalten. In seiner Biographie Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie zitiert Rüdiger Safranski Schopenhauers Beweggründe, die dieser „auf dem Deckel seines Rechnungsbuches“ zusammengetragen hatte: „‚Du bist uneingeschränkter und weniger mit Gesellschaft behelligt, die der Zufall, nicht deine Wahl dir gibt, und hast die Freiheit, dir mißliebigen Umgang abzuschneiden und zu meiden‘; ‚bessere Kaffeehäuser‘; ‚mehr Engländer‘; ‚keine Überschwemmungen‘; ‚ein geschickter Zahnarzt und weniger schlechte Ärzte‘; ‚Gesundes Klima‘; ‚weniger beobachtet‘.“ Am 6. Juli 1833 kehrte Schopenhauer in die Geburtsstadt Johann Wolfgang von Goethes zurück, die ihm 27 Jahre lang Denk-, Existenz- und schließlich auch Todesort sein würde.
Noch in Mannheim begann der unruhige Philosoph ein neues Notizbuch, dessen Incipit lautet: „Dieses Buch heißt / Pandectae / angefangen zu Man[n]heim. 1832. Septr.“ Darunter ein aus Vergils Aeneis entnommenes Zitat: „Durate et vosmet rebus servate secundis“, ein Diktum, das Schopenhauer einerseits vor dem Hintergrund der grassierenden Cholera-Epidemie, andererseits in Anbetracht seiner Ängste, Depressionen und sicherlich auch seiner beruflichen und philosophisch-schriftstellerischen Erfolglosigkeit und Nichtbeachtung Mut zusprechen sollte: „Bleibt standhaft und harret der besseren Zukunft.“ Bertrand Russell fasst in seiner Philosophie des Abendlandes diese Zeit im Leben Schopenhauers wie folgt zusammen: „Schließlich ließ er sich in Frankfurt nieder, um dort das Leben eines alten Hagestolzes zu führen. Er hielt sich einen Pudel namens Atma (Weltseele), ging täglich zwei Stunden spazieren, rauchte eine lange Pfeife, las die Londoner Times und hatte Agenten angestellt, die nach Zeugnissen für seine Berühmtheit fahnden mußten.“ Es sind die Jahre zwischen 1832 und 1837, die Jahre nach Goethe, den Schopenhauer verehrte, und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, den er mit Spott überzog, die die jetzt erschienene vollständige Transkription des Schopenhauer’schen Gedankentagebuchs – das ‚Allumfassende‘, die ‚Sammlung‘, so die Übersetzung seines Titels – abbildet.
Die großen Themen dieser Jahre – von November 1832 bis November 1833 benutzte Schopenhauer das Manuskriptbuch Cogitata (an dessen Transkription bereits gearbeitet wird), um danach bis April 1837 seine Gedanken, Skizzen und Exzerpte aus naturwissenschaftlichen und philosophischen Neuerscheinungen wieder den Pandectae anzuvertrauen – sind im Wesentlichen die folgenden: Immer wieder trifft der Leser auf die Notiz „Benutzt Willen in der Natur“. Damit weist Schopenhauer auf Passagen hin, die in die 1836 in einer Auflage von 500 Exemplaren erschienene Schrift Ueber den Willen in der Natur eingegangen sind. Neben Überlegungen, Anschauungen und Glossen unterschiedlichster Art, diversen Entwürfen einer „Vorrede zur zweiten Auflage“ des Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung und immer wiederkehrendem Fichte- und Hegel-Bashing („Scharlatan“, „Hanswurst“, „Windbeutel“) sind gerade die Jahre 1836/37 geprägt durch Schopenhauers intensive Beschäftigung mit Aristoteles, den er als „seichten Schwätzer“ bezeichnet, der nicht an die Geisteskraft Platos heranreiche. Über viele Seiten hinweg füllte Schopenhauer sein Manuskriptbuch mit kritischen Anmerkungen zu und Zitaten aus Aristoteles’ Werk (die vierbändige Bekker’sche Ausgabe war soeben erschienen), wobei die Metaphysik als „das schlechteste aller Bücher des Aristoteles“ apostrophiert wird.
Das 370 Seiten umfassende Pandectae-Manuskript, als Faksimile sowohl auf DVD als auch online über die Seiten der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main zugänglich, ist mit 1178 erklärenden Endnoten versehen, die beinahe 100 Seiten umfassen und kaum einen Wunsch oder besser: eine Frage offen lassen. Ebenso vorbildlich zeigt sich das sich dem Anmerkungsteil anschließende Personenregister, dessen Lemmata nicht bloß aus den Namen der jeweiligen Personen bestehen, sondern zudem noch deren Lebensdaten und ‚Berufe‘ verzeichnen. Eine hilfreiche Inhaltsübersicht, die jeden Abschnitt der Pandectae kurz zusammenfasst, beschließt das Buch. Der Sankt Gallener Historiker und Paläograph Ernst Ziegler, Jahrgang 1938, der Pandectae unter maßgeblicher, technischer und finanzieller Mitarbeit der Veterinärmedizinerin Anke Brumloop und des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Sparkasse Hersfeld-Rotenburg Manfred Wagner herausgegeben hat, sieht „Zweck und Ziel dieser Edition“ darin, „einen wissenschaftlich vertretbaren und, wie gesagt, vor allem leserfreundlichen Text zu liefern, um ihn einem breiten Publikum zugänglich zu machen. ‚Streng-wissenschaftliche‘ Arbeiten am Text können, dank der digitalisierten Ausgabe der Gedankenbücher, von berufener Hand direkt am Original stattfinden.“
Nach Senilia (2010; 2., durchges. Aufl. 2011), das die letzten Lebensjahre Schopenhauers zwischen 1852 und 1860 umfasst, und Spicilegia (2015), in dem Notizen der Jahre zwischen 1837 und 1852 festgehalten sind, erscheint mit Pandectae nun der dritte von Ziegler herausgegebene Nachlass-Band in ungekürzter Fassung. Die fünfbändige Ausgabe, die der große Arthur Hübscher (1897–1985) in den 1960er- und 1970er-Jahren vom handschriftlichen Nachlass des Philosophen besorgte, stellt jeweils nur Auszüge, „wesentliche Eintragungen“, so Hübscher, aus den Manuskriptbüchern dar. Die Gründe, die ihn seinerzeit lediglich zu einer Auswahl bewegten, waren gänzlich profan: Neben mangelnder Unterstützung und der Redundanz von bereits in Schopenhauers Werk eingegangenen Passagen zwang Hübscher die geringe oder gar ausbleibende finanzielle Unterstützung zur Selektion. An diesem geradezu beschämenden Umstand hat sich auch vier Jahrzehnte nach der Hübscher-Ausgabe nichts geändert: Die aktuelle Edition listet zu Beginn nicht weniger als sieben private Sponsoren auf, die durch „großzügige Zuwendungen“ die Herausgabe des Schopenhauer’schen Nachlasses ermöglichten. Wäre Schopenhauer eine in ‚Schieflage‘ geratene Bank, würde er von offizieller Stelle großzügigen finanziellen Beistand erfahren!
Man darf bei diesem ‚Gedankenbuch‘ – so Schopenhauers Bezeichnung in einem Brief an Friedrich Arnold Brockhaus vom 8. August 1858 – nicht vergessen, dass es sich hierbei um private Notizen handelt, noch dazu um solche aus dem Nachlass, sprich: Schopenhauers Gedankenbücher waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt, erst recht nicht in unredigiertem Zustand. Sie dienten dem Philosophen ausschließlich als Gedankenstütze und Ideenlabor: „Mancher Aufsatz in diesen Büchern“, so Schopenhauer 1836 in den Pandectae, „ist eine bloße Vorübung zu einem viel späteren, durch den er dann allen unmittelbaren Werth verliert, der aber ohne ihn nicht so gediehen wäre.“ Der Wert dieser ‚unfrisierten‘ Gedankensammlung, dieses work in progess liegt darüber hinaus einerseits in der Authentizität des Geschriebenen, der Nähe zum Schreibenden und der Unbekümmertheit im Schreiben, die schon im Werk des großen Pessimisten les- und spürbar ist, und die hier, in seinen Notizen, noch lebhafter, frischer und ehrlicher wirkt. Andererseits können die seit 2010 publizierten Nachlass-Bände vor dem Hintergrund ihrer Entstehung nicht hoch genug bewertet werden. Ernst Ziegler berichtet in seiner Einleitung vom mühevollen, akribischen und mit größter Leidenschaft vorangetriebenen Entstehungsprozess, in dem jahrelange Transkription und Kollation steckten: „Das Korrekturlesen eines Textes, der nicht nur von den heutigen Rechtschreibregeln abweicht, sondern zudem die damals übliche nicht durchgehend beibehält, ist außerordentlich zeitaufwendig und anstrengend. Die ‚Sechs-Augen-Kontrollen‘ wurden am Ende zusammengeführt, erneut am Original Schopenhauers überprüft und erst dann an den Verlag weitergeleitet.“
Im Jahr 1833 notierte Schopenhauer in seinen Pandectae: „Warum meine Philosophie keine Theilnahme gefunden? – weil die Wahrheit nicht im Einklang ist mit den Flausen der Zeit.“ Es bleibt zu hoffen, dass sich die Flausen der heutigen Zeit als weniger widerspenstig erweisen und dass Schopenhauers Werk als auch seine Notizen aus dem Nachlass, dieser „Vorrathskammer“ (Julius Frauenstädt, 1864) eines unzeitgemäßen und zeitlosen Denkers, eine breitere Aufmerksamkeit erfahren mögen.
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