Angekommen in der „Peinlichkeit“
Julia Döring stellt die erste Monographie zum Thema vor
Von Sibylle Blaimer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVon Schamverlust und Peinlichkeitsgewinn
„Zivilisiertheit zielt darauf, die anderen mit der Last des eigenen Selbst zu verschonen.“ Die kulturpessimistische Diagnose einer dazu gegenläufigen „Tyrannei der Intimität“, die der amerikanische Soziologe Richard Sennett seiner Gesellschaft 1983 ausstellte, scheint sich heute mehr denn je zu bewahrheiten. Alltag und Medien-Kultur bezeugen eine drastische Tendenz zur Entblößung all dessen, was vormals als zu intim galt, um es zu zeigen. Dazu gehören die Zurschaustellung des eigenen Körpers, das öffentliche Teilen ehemals privat gehaltener Gefühle und Wünsche, namentlich sexueller Vorlieben, ebenso wie das hemmungslose Vorführen der eigenen Unzulänglichkeiten und Beschränktheiten, für die unsere Gesellschaft mittlerweile in nahezu notorischer Weise Plattformen bereitstellt. Schenkt man unterschiedlichen Autoren wie Henry Lowenfeld oder Ulrich Greiner Glauben, stehen die in den letzten Jahrzehnten überhand nehmenden Verstöße gegen die Grenzen von Sitte und gutem Geschmack, dieser „Verlust der Zivilisiertheit“ also, vor allem für eines: für einen „Wandel der Gefühlskultur“ (Greiner), mithin für den zunehmenden Bedeutungsverlust von Scham als emotivem Sanktionsmechanismus.
Scham scheint in ihrer Funktion als ehedem leitendes Verhaltensregulativ – und ‚ehedem‘ meint im Besonderen vor 1968 – nahezu gänzlich dem der Peinlichkeit gewichen zu sein. Nun ist das emotive Konzept von Peinlichkeit kein genuin modernes Phänomen. Bereits um 1800 begegnet ‚Peinlichkeit‘ als Ausdruck dafür, sich unangemessen und wider die geltenden sozio-ästhetischen Kategorien verhalten zu haben. Doch die gegenwärtig erlebbare Inflation sowohl peinlicher Momente als auch peinlicher Attributionen, im Sinne einer potentiellen „Ontologisierung“ (Pontzen) von nahezu allem und jedem als ‚peinlich‘, markiert sicherlich einen entschieden veränderten Stellenwert: Als überwiegend peinlich, und eben kaum mehr beschämend, wurden Christian Wulffs strategische Volten für seine Person wahrgenommen, als peinlich auch Thilo Sarrazins Gen-Rhetorik eingestuft. Peinlich wirkt der Peinlich, peinlich…-Ratgeber zum „selbstbewussten Blamieren“ und peinlich Markus Lanz‘ jüngste moderatorische Entgleisung. Ob mit Blick auf das zuhöchst peinliche Teilnehmergebaren von noch peinlicheren TV-Formaten oder die Selbst-Inszenierungswut in den sozialen Netzwerken, ob mit Blick auf den sich soeben geleisteten Fauxpas in der Unterhaltung mit Kollegen oder das frühmorgens noch als peinlich in den Kleiderschrank zurückverbannte Kleidungsstück – unser Alltag, so scheint es, ist zu einer einzigen Gefahrenzone der defizitären Selbstdarstellung und damit der Peinlichkeit geronnen. Das „Zeitalter der Schamlosigkeit“ (Gerd Klaus-Kaltenbrunner) könnte demnach ebenso gut unter der Etikette ‚Zeitalter der Peinlichkeit(en)‘ firmieren, insbesondere als unsere Gesellschaft eine eigentümliche Lust am Unlustgefühl des Peinlichen kultiviert. In das beschriebene gesellschaftsaffektive Szenario fügt sich denn auch Julia Dörings 2015 im Bielefelder transcript-Verlag erschienene Monographie Peinlichkeit. Formen und Funktionen eines kommunikativ konstruierten Phänomens. Mit ihr liegt nun die erste geschlossene Publikation zum Thema vor.
Peinlichkeit als kommunikativ konstruiertes Phänomen
Dörings Arbeit nähert sich ihrem Gegenstand von unterschiedlichen Seiten an. Ausgehend von bisherigen Peinlichkeitsbegriffen (Kap. 2) wird der Versuch einer kommunikationstheoretisch gefassten Emotionsstruktur (Kap. 3) und deren situativer Wirksamkeit (Kap. 4) unternommen, bevor am Beispiel des noch wenig untersuchten Phänomens ‚Junggesellenabschied‘ Peinlichkeit unter dem Aspekt der Ritualisierung auf dem Prüfstand steht (Kap. 5). Außen vor sollen dabei all jene Situationen bleiben, in denen die Peinlichkeitsvokabel ausschließlich als ästhetisches Geschmacksurteil (normativ) oder zu selbstdarstellerischen Zwecken (expressiv) dient und der eigentlichen physisch-psychischen Schmerzerfahrung entbehrt. Lieferanten solcher Alltagsszenen, in denen die Sprache tatsächlichen Ausdruckswert für das Gefühl der Peinlichkeit aufweist, der Autorin nach also deskriptiv ist, bilden neben teilweise empirisch erhobenem Datenmaterial vornehmlich zeitgenössische Erlebnisberichte und literarische Beschreibungen.
Die titelgebende, kommunikationstheoretische Perspektive löst Döring dadurch ein, Peinlichkeit in expliziter Abkehr zu bisherigen emotionspsychologischen Ansätzen „nicht mehr als bloßes Gefühl“, sondern als innerliche „kommunikative Erfahrung“ und äußerlich wirksames „kommunikatives Ereignis“ gleichermaßen anzusprechen. In der Formulierung unterläuft damit vorab eine gewisse Verkürzung des emotionspsychologisch dominierenden Emotionsbegriffes. Emotionen werden dort schließlich als ein komplexes Gefüge nicht allein erlebnismäßiger, sondern auch physiologischer, kognitiver, expressiver und motivierender Dimensionen verstanden. Die wesentliche Akzentverschiebung, die Döring auf Basis des Kommunikationsbegriffes von Gerold Ungeheuer demnach vornimmt, ist einerseits, den Zeichencharakter der affektbedingten Reaktionen für die Perspektive des Beobachters, und andererseits, das handlungssteuernde Potential des Affekts aus der Warte des peinlich Berührten zu betonen. Um das Fazit der Autorin gleich vorweg zu nehmen: „Der Komplexität und Prozesshaftigkeit von Erfahrungen ist mit kausalen Erklärungsschemata und analytischen Begriffen nur zu geringen Teilen gerecht zu werden.“ Die Lektüre kann diesen Eindruck über weite Strecken nur bestätigen, ohne der Verfasserin damit in irgendeiner Form einen lesenswerten und aufschlussreichen Beitrag absprechen zu wollen.
Peinlichkeit als kommunikative Erfahrung – Jenseits von Phänomenologie und Emotionspsychologie?
Der Entfaltung des eigentlichen kommunikationstheoretischen Ansatzes voran geht eine Art propädeutisches Kapitel, das auf Basis bislang flottierender „Begriffe und Merkmale von Peinlichkeit“ den Untersuchungsgegenstand vorkartiert. Um Dörings Arbeit im Forschungsfeld besser positionieren zu können, ist an ihrem Argumentationsverlauf dreierlei hervorzuheben: Erstens übernimmt die Autorin Peinlichkeit unter dem affekttheoretischen Label der sogenannten ichbewussten oder auch selbsteinschätzenden Emotionen wie Schuld, Stolz oder Scham – Gefühlen also, die nach Normverstoß oder -erfüllung auf den Plan treten und in denen das Selbst in der jeweiligen gefühlsspezifischen Weise Stellung zu sich bezieht. Das Strukturmoment der Selbstobjektivierung erlaubt Döring, Peinlichkeit von dem mehrheitlich als konstitutiv behaupteten Faktor realer Öffentlichkeit stärker zu lösen. ‚Peinlich berührt‘ könne demnach jeder zu jeder Zeit sein, solange die im stillen Kämmerlein antizipierte – oder rückblickend nachgeholte – peinliche Szene auch so etwas wie ein Publikum imaginiert. Damit tritt Döring in die wissenschaftliche Reihe all jener ein, die zweitens ‚Peinlichkeit‘ angesichts ihrer phänomenologischen und kognitiven Analogien nicht bloß als abgeschwächte Variante oder Komplementärreaktion zur Scham, sondern als eigenständiges Phänomen begreifen. Als ebensolche „Beschädigung des Selbstbildes“ stehe ‚Scham‘ für die „Verletzung normativer Selbstansprüche“, ‚Peinlichkeit‘ hingegen eher für die Verletzung situativer Ansprüche an die Darstellung des Selbst. Diese Ansprüche werden drittens nicht allein als klar registrierbare Störung des dramaturgischen Interaktionsablaufes im Sinne Goffmans konkretisiert, sondern nach Babcock auch als mögliche Diskrepanz zwischen den konstanten und den sich situativ ergebenden Vorstellungen darüber, wie das Selbst zu präsentieren sei. Defizitäres Selbst vs. defizitäre Darstellung – der entsprechende Vorbegriff von Peinlichkeit, den Döring überwiegend aus emotions-, respektive sozialpsychologischen Erklärungsmodellen destilliert, kann in der Diskussion der von ihr getroffenen theoretischen Auswahl durchaus überzeugen. Einen umfassenden Forschungsbericht darf man indes nicht erwarten. Stellenweise vermisst man den Verweis auf die zu den Kernthesen konträren Positionen – insbesondere dann, wenn die jeweiligen Autoren, z. B. Norbert Elias oder Hilge Landweer, nachweislich unter anderen Aspekten rezipiert wurden.
Im Folgenden schickt Döring sich an, das Versprechen einer neuartigen kommunikationswissenschaftlichen Sicht und Begrifflichkeit einzulösen. Das beginnt damit, die Emotion eben als „kommunikative Erfahrung“ zu titulieren, und endet zunächst darin, drei emotive Hauptformen zu differenzieren: „Peinlichkeit als Exponierung des Selbst“, „Peinlichkeit als defizitäres öffentliches Selbstbild“, wobei Döring hier grosso modo die Unterscheidung von Standards und Ansprüchen forciert; und schließlich „Peinlichkeit als Exponierungsbeobachtung“. Das Novum besteht darin, dass Döring Peinlichkeitsgefühle von etwaigen, die Selbstdarstellung beeinträchtigenden Fehltritten abstrahiert und alle Phänomene in einer ersten, basalen Ebene auf Verletzungen der „Schamhaftigkeit, als Hemmung, unser Selbst vor anderen zu exponieren“, zurückführt. ‚Peinlichkeit‘ entsteht also bereits dann, wenn wir in den bloßen Aufmerksamkeitsfokus rücken und/oder unsere unausgesprochenen Empfindungen, Gedanken oder Wünsche dabei von anderen als entlarvt antizipieren. Dieser Ansatz erlaubt, das oftmals Peinliche per se positiver Situationen in Abgrenzung zu Verlegenheit theoretisch zu fundieren, wirft aber auch etliche Fragezeichen auf: Schamhaftigkeit steht psychoanalytisch gesehen als Reaktionsbildung auf habituell gewordene Schamängste für den Schutz der Ich-Integrität. Döring muss denn auch Klassiker und Formulierungen der Schamforschung für ihre Ausführungen bemühen, wodurch der Begriff des Peinlichen an Trennschärfe zu dem der Scham verliert. Von einem Zusammenhang von Peinlichkeit und Entblößung kann meines Erachtens nach wie vor nur dann die Rede sein, wenn man die peinliche Entblößung als das ansieht, was sie von der beschämenden abhebt: als eine allein dem situativen Rahmen unangemessen und darum peinlich empfundene Preisgabe. Wenn Döring zudem mutmaßt, „Selbstexponierung“ könnte „ein notwendiges Merkmal aller Peinlichkeitsphänomene sein“, bleibt dies mit Blick auf die von Zeugen erlebten Peinlichkeitsgefühle mindestens diskussionswürdig, insofern eine Selbstexponierung im eigentlichen Sinn hier nicht vorliegt.
Gerade die Erfahrung fremdverursachter Peinlichkeit, von Döring auch identifiziert mit Fremdscham, scheint angesichts der omnipräsenten medialen Inszenierungen des Peinlichen für die Gegenwartskultur von besonderem Aussagewert. Das schmerzhafte Gefühl, das uns beim Anblick sich peinlich Gebärdender ergreift, wird in der Arbeit als Form der stellvertretenden oder mitfühlenden Emotionsübernahme erklärt; die zeitsymptomatische Peinlichkeitslust entstehe, wenn zum Gefühl „Häme und Spott über die Fehlbarkeit, Dummheit oder Ungeschicklichkeit der Exponierten“ trete und so „zeitgleiche Bestätigungen des eigenen Selbstwertes“ erlaube. Das mag sicherlich nicht der einzige Grund für den besonderen Lustgewinn sein, den Zuschauer aus den bad performances der C-Promis, Ungeschickten und Unschicklichen ziehen. So wird in der Peinlichkeitsforschung bisweilen auch eine Art Aussöhnung des Publikums mit den eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten ins Feld geführt, die, dupliziert in medialer Dauerschleife, ihre Pseudolegitimation erfahren. Mit der Transformation in Schadenfreude macht Döring allerdings eine nicht unwesentliche affektdynamische Gleichung auf, die in dem Peinlichkeitsgefühl, einer affektiven Mésalliance aus Mitleid und Verachtung, selbst angelegt zu sein scheint. Unzulässig mutet indes die Verkürzung von Fremdscham auf den Beobachteraffekt des Peinlichen an. Das Phänomen, sich für jemanden zu schämen, kann gleichermaßen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen, eher Scham in eigener Sache denn übertragene Peinlichkeit markieren. Ganz nach dem Motto: „Sage mir, mit wem du gehst, und ich sage dir, wer du bist“ verwandeln sich gerade Eltern oder Partner zu schmerzlichen Quellen eines globaleren Affekts, sobald die von uns an ihnen wahrgenommenen Wesensdefizite zumindest unserer Vorstellung nach auch die eigene Persönlichkeit nach außen mangelhaft erscheinen lassen. Kafkas Brief an den Vater ist übervoll von solcher Scham, die qua Alterität das eigene Selbst zum Inhalt macht; und allein die Frage „Schämst du dich für mich?“ kann bereits den Auftakt zum Schwanengesang einer verlebten Partnerschaft geben – eben darum, weil sie nicht (bloß) Peinlichkeit, sondern Scham evoziert und anrührt.
Darüber hinaus kann Dörings Ansatz kaum jene, zugegeben eher seltenen Übertragungssituationen erklären, in denen das (Nicht-)Gefühl keiner bestimmten Person(engruppe) ursächlich zurechenbar ist. Stellvertretung und insbesondere Mitgefühl sind jedoch sympathetische Konzepte, die gerade das implizieren. Insofern legen Phänomene wie die des peinlichen Schweigens nahe, Peinlichkeit teilweise weniger personen-, als situationsbezogen zu lesen – insbesondere, als der kommunikationstheoretische Ansatz Peinlichkeit als Gefühlsansteckung oder kollektive Atmosphäre nach affektiven Modellen wie dem Max Schelers oder Hermann Schmitz‘ nicht zu denken erlaubt. Ganz generell: Abseits dieser Ausblendung mag das genuin kommunikationstheoretische Moment von Dörings Perspektive bislang nicht so recht erkennbar werden. Unbestritten bricht die vorgeschlagene Formen-Trias die dominierende Klassifikationsdyade von Peinlichkeitsgefühlen nach den situativen Erfahrungsmodi von Selbst-Verursachung und Beobachtung grundlegend auf. Doch bis auf die terminologischen Einflechtungen funktioniert die Arbeit unverändert und weitestgehend auf Grundlage wenn auch nicht phänomenologischer, so doch emotionspsychologischer und soziologischer Theorien. Stärker fruchtet der kommunikationstheoretische Blickwinkel für die beiden folgenden Kapitel.
Peinlichkeit als kommunikatives und ritualisiertes Ereignis
Mit Peinlichkeit als „kommunikative[m] Ereignis“ widmen sich die Ausführungen vorzugsweise den äußerlichen, sich dem Beobachter kommunizierenden Indikatoren der Emotion. Insofern Peinlichkeit sich leiblich durch enormen Handlungsdruck auszeichnet, manifestiert der kommunikationstheoretische Rahmen nun einen eigenen heuristischen Wert. Es gelingt dasjenige, wofür affektdynamische oder auch phänomenologische Theorien keine rechte Begrifflichkeit mehr zu bieten haben: die Integration auch der affektspezifischen zielgerichteten Handlungsweisen über entsprechende operative Kategorien. Döring differenziert denn auch zwischen „Ausdruck“, d.h. den mit dem Gefühl einhergehenden unwillkürlich-unbewussten Reaktionen, und den „Anschlusshandlung[en]“ im Sinne des strategisch-planvollen Affektumgangs und klassifiziert diese jeweils umfassend und überzeugend strukturiert. An gewisse Grenzen stößt ihr Ansatz dort, wo es um die tiefere Begründung bestimmter Funktionsweisen geht: Warum kann beispielsweise die absichtsvolle, bei Döring „affirmative“ Peinlichkeitsherbeiführung, zur Solidarisierung mit dem Betroffenen führen? Warum sind die von uns planvoll eingegangenen Peinlichkeiten zu Zwecken des Eindrucksmanagements weniger peinvoll als die prototypische peinliche Situation? Die Antworten hierauf liegen eher in der Affektidentität als in kommunikativen Wirkzusammenhängen. Für eine gewisse Irritation sorgt zudem die abrupte Unterscheidung von extrakommunikativen Beobachtern mit Peinlichkeitsempfindungen und – sozusagen – intrakommunikativen Beobachtern mit Peinlichkeitsempfindungen. Müsste dem zugrunde gelegten Kommunikationstheorem eine Person, die „kein kommunikativer Teilnehmer der beobachteten Situation ist (man ist unbeteiligt am kommunikativen Geschehen)“, so Dörings Wortlaut, nicht zwangsläufig auch von Peinlichkeit befreit sein, insofern die Affektübertragung kommunikative Adressabilität doch gerade voraussetzt beziehungsweise bedingt? Dessen ungeachtet wird der erarbeitete Signal- und Strategiekatalog, einschließlich der dazu gelieferten Funktionsbeschreibung für die nächsten Jahre – das ist bestimmt zu sagen –, die wesentliche Referenz für die Peinlichkeitsdiskussion in puncto Ausdrucksbewegungen und Handlings formieren.
Die Neuformierung der Gegenwartskultur unter den Vorzeichen des Peinlichen bildet die von transcript in die Reihe „Kulturen der Gesellschaft“ aufgenommene Arbeit nirgends so explizit ab, wie mit dem letzten Themenkapitel „Ritualisierte Peinlichkeit“. Döring versteht hierunter Situationen und Handlungsvollzüge, die von den Akteuren im Alltag als peinliche Ordnungsstörungen eingestuft und vermieden würden, eingebettet in rituelle Kontexte jedoch freiwillig eingegangen werden. Als prototypisches Beispiel dient hierfür das in seiner heutigen Form recht junge Phänomen der Junggesellenabschiede (JGAs): alkoholisierte, einheitlich gekleidete Gruppen, die sich exponieren, indem sie sich, respektive Braut/Bräutigam öffentlichen Prüfungen unterziehen und Wildfremde in rührige bis geschmacklose Spielchen involvieren. Nach der Entwicklung eines vornehmlich auf Turner und van Gennep basierten Ritualbegriffes stuft Döring JGAs in deutlicher Abgrenzung zu beschämenden und schmachvollen Degradierungsritualen als liminoide, also unverbindliche Übergangsrituale vom Typus ‚Feier‘ ein, deren Handlungsplan die Herbeiführung peinlicher Situationen vorsieht. Die wesentliche Funktion des JGA-Rituals bestehe in „Spannungsabbau und Angstlinderung“ vor der Hochzeit sowie in der Freundschaftsstabilisation. Besonderes Interesse zeigt Döring anschließend für all jene etwas missverständlich „Entpeinlichung“ benannten Faktoren, die den Teilnehmern (rückblickend) erlauben, die Peinlichkeiten als lustvoll und spaßig zu interpretieren und zuweilen womöglich sogar zu erleben. Hierunter rechnet Döring neben Alkoholkonsum und Gruppendynamiken vor allem die mit dem rituellen Ordnungsrahmen verschränkten Relativierungen des peinlichen Tuns. Pointiert: Insofern Rituale eine Gegenordnung zu den Gesellschaftsordnungen des Alltags aufbauen, ist der peinliche situative Ordnungsverstoß, bemessen an der rituellen Ordnung, nicht mehr als solcher wahrnehmbar. Dörings erhellende Beobachtungen werfen jedoch die generelle Frage auf, ob die Attribuierung des Peinlichen sich, wie dadurch suggeriert wird, tatsächlich für Beobachter wie Betroffene vorrangig mit einer spezifischen Verantwortungszuschreibung verbindet, oder nicht doch mit einer im Peinlichen angelegten Normengefährdung. Was in jedem peinlichen Fehltritt nicht zuletzt bewusst wird, ist schließlich auch eine beunruhigende Aushebelung des akzeptierten Normsystems, an dem festzuhalten der peinlich Berührte ja gerade durch sein Peinlichkeitsgefühl signalisiert. Diese Position nimmt seit geraumer Zeit auch die Forschung ein. Für die Funktion des Peinlichen im rituellen Handlungsablauf selbst bietet Döring zuletzt zwei aparte Thesen: Die „Flucht ins Extrapeinliche“ diene zum einen „als selbstironische Distanzierung“ des mit der Hochzeit bevorstehenden, selbst auf gewisse Art peinlichen Bekenntnisses zum Partner; zum anderen als „Maskierung von Verbürgerlichung“, wie sie die Entscheidung für ein Ehemodell letztlich impliziert. Döring kommt damit zum Abschluss ihrer Arbeit. Das Nachdenken über die Affektkultur der Gegenwart fängt hier jedoch erst an.
Vor und mit der Peinlichkeit, Scham
Dörings Beobachtungen zum Phänomen JGA erhellen eine Sache sehr deutlich: Offenkundig existiert unserem Empfinden nach eine Art Ranking des Peinlichen, in dem die Vorstellung, womöglich als spießbürgerlich zu gelten, an Peinlichkeit nur mehr durch den Anschein des Mega-Outen, Uninspirierten – oder, um mit Andreas Reckwitz zu sprechen – des Unkreativen getoppt wird. Wie sonst wäre es zu erklären, dass die nämlichen Freundeskonstellationen, die vor geraumer Zeit noch mit Bierwägelchen lustig die Innenstädte verunsicherten, Kondome und Geschlechtsteile wohlfeil boten, nun dazu übergehen, in ländlicher Kulisse zu wandern, Wellness- oder Konzert-Wochenenden zu bestreiten? Doch wohl hauptsächlich unter dem Aspekt der Selbstvergewisserung, ein möglichst wenig nivelliertes, individuelles Programm erarbeitet zu haben. Wichtiger als die Geste des „Wir-können’s-Noch“ ist die des „Wir-können’s-Anders“ geworden. In dieser Hierarchisierung von Peinlichkeit, so scheint mir, liegt ein besonderer kulturrelevanter Aussagewert.
Was sich in Dörings Worten ebenso kristallisiert, ist die enorme Schwierigkeit unserer Gesellschaft, der großen Affektpartituren noch habhaft zu werden, in deren Register das Beispiel des uneingeschränkten Ja zum Ehepartner fällt. Unverbrüchliche Bekenntnisse, Langzeitversprechen des aufrichtigen Gefühls muten uns, begegnen sie in der Lebenswirklichkeit, auf gewisse Weise deplatziert, eben ‚peinlich‘ an; nicht, weil sie offen bekundet werden, sondern weil sie schlicht nicht mehr glaubhaft und überzeugend wirken. Daran kann selbst der rituelle Rahmen der Hochzeitszeremonie nur zu geringen Teilen etwas ändern. Wenn Menschen sich also freiwillig Prüfungen unterziehen, die als hochgradig peinlich empfunden werden, Millionen von Fernsehzuschauern einer prekären Lust am Peinlichen frönen, so liegt das womöglich auch daran, dass Peinlichkeit zusammen mit Ekel ein letztes Residuum des authentisch erlebbaren Affekts ist. Schon die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, sofern sie auf die anti-modernen Affektschablonen verzichtet, Autoren wie Flaubert, Kafka, aber auch Fontane, Grillparzer und Stifter, zeichnen in ihren Werken diese Bewegung nach. Wo sich das Pathos von Liebe, Eifersucht, Rache angesichts der Banalität des bürgerlichen Alltags nur mehr als affektives Klischee, als bloße Hohlform des einmal Gewesenen generiert, erweist sich Peinlichkeit als glaubwürdig und konstant – eben darum, weil sie die allgemeine Verflachung in nuce wiedererzählt. Die inflationäre Inszenierung des Peinlichen würde demnach als „Schiffbruch mit Zuschauer“, als eine Art Dauerschleife der gemischten Empfindung funktionieren. Die Lust, überhaupt einer authentischen Schmerzerfahrung habhaft zu werden, wiegt augenscheinlich das Moment der Unlust auf.
Eine dritte Überlegung schließt an Dörings Verweis auf das Scham-Tabu unserer Gesellschaft an: „Dass auf modernen JGA-Feiern die Denkfigur der lustvollen Peinlichkeitsumfunktionalisierung dominiert, könnte als Ausdruck einer Werteorientierung verstanden werden, welche die Überwindung der eigenen Beschämbarkeit durch Peinlichkeitsbefreiungsakte zum Idealbild stilisiert“. Die zugrunde liegende und zunächst paradox anmutende Gleichung lautet: Wir führen bewusst Situationen der Peinlichkeit zu Zwecken ihrer Transzendierung herbei, um uns dadurch schlussendlich als von Scham und Peinlichkeit enthoben darstellen zu können. Dies zeugt jedoch einmal mehr von keinem Verlust der Scham, als vielmehr der bloßen Verschiebung ihrer Inhalte, zu solch einem – unter vielen ehedem positiv konnotierten Bereichen wie Uneigennützigkeit, Ehrfurcht, Respekt oder sexuelle Enthaltung – Scham selbst geronnen ist. Darin scheint eine neue, von den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts abweichende Verhaltenslehre der Selbstpanzerung auf, die zu ihren elementarsten Mitteln jetzt allerdings das Peinliche zählt. Unter die Strategien eines solchen Immunitätsphantasmas fällt dabei recht wahrscheinlich auch, Scham durch Peinlichkeit zu maskieren. Wenn die 2001 verstorbene SPD-Politikern Regine Hildebrandt in einem der von Döring zitierten Anschauungsbeispiele von einer „doppelte[n] Peinlichkeit“, nämlich der des Zu-spät-Kommens in den Schulunterricht und ihrer Lügen-Raffinesse, spricht; wenn in einer anderen Episode ein Betroffener davon erzählt, sich einmal selbst als feige und darum als peinlich empfunden zu haben, so scheint es mehr als zweifelhaft, dass es sich in den genannten Fällen tatsächlich durchwegs um das Gefühl von Peinlichkeit gehandelt habe. Zumindest dort, wo den Personen ein offener Widerspruch zu moralischen Standards oder selbstwertenden Idealen entstanden ist, scheint die Verbalisierung von Peinlichkeit rückblickend das gravierendere und nur selten explizierte Phänomen der Scham zu decken.
Woher diese eigentümliche Tabuisierung von Scham, das Selbstideal einer weder durch Scham noch Peinlichkeit verletzbaren Persönlichkeit sowie die Verschiebung und unterschiedliche Gewichtung von Peinlichkeits- und Schaminhalten zuletzt rührt, ist noch lange nicht erschöpfend erklärt. Julia Döring kann und will diese Fragen nicht beantworten. Ein weiterer Baustein auf dem Weg zu ihrer Lösung bleibt die vorliegende Untersuchung zur Peinlichkeit indes allemal.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen