Literarische Moderne, verleugnetes Judentum und „konservative Revolution“

Peter Sprengels Biografie zu Rudolf Borchardt sowie der Briefwechsel zwischen Karl und Hanna Wolfskehl und Stefan George

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang von Peter Sprengels Biografie über Rudolf Borchardt (1877-1945) steht eine Entdeckung und kleine Sensation. So unterzieht der bis zum vergangenen Wintersemester an der Freien Universität lehrende Literaturwissenschaftler einen vermeintlich von Friedrich Leo (1851-1914), Borchardts Göttinger Doktorvater und entferntem Verwandten, stammenden und an Borchardt adressierten Brief einer genauen Analyse. Dieser war im Mai 1902, nur wenige Wochen nach Borchardts überstürztem Aufbruch, bei Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) in Rodaun bei Wien eingegangen, wo Borchardt sich eine Woche lang einquartiert hatte. Ohne vom Abgereisten eine gültige Anschrift zu besitzen, konnte Hofmannsthal den Brief nicht nachsenden. Sprengel nimmt an, dass Hofmannsthal den Brief vermutlich erst im Herbst 1906 öffnete, als Borchardt ihn mit der Zusendung von Korrekturfahnen seiner „Rede über Hofmannsthal“ überraschte.

Es ist die Lektüre dieses dem Anschein nach gar nicht für ihn bestimmten Briefes, die Hofmannsthals Bild des unzuverlässigen, bis dahin noch weitgehend „fremden Freundes“ nachhaltig korrigierte. Ausgerechnet auf Grund seiner Brieflektüre revidierte Hofmannsthal seine Vorstellung von Borchardt als eines Lügners und Hochstaplers. Denn, das ist das plausible Ergebnis von Sprengels philologisch akribischer Untersuchung, die auch einen Handschriftenvergleich einschließt: Der angeblich von Friedrich Leo stammende Brief wurde augenscheinlich von Borchardt selbst fingiert. So hat Borchardt den ungünstigen Eindruck, den er bei dem nur wenige Jahre älteren, aber bereits literarisch etablierten Hofmannsthal durch sein Verhalten hinterlassen haben musste, offenbar richtig erfasst und durch die Zuspielung eines komplexen Selbstbildes zu manipulieren versucht.

Die textuelle Wirklichkeit, ausgestattet mit der geliehenen Autorität des väterlichen Mentors Friedrich Leo, verfehlte ihre Wirkung nicht. Was aber verrät diese Episode über Borchardt und dessen literarisches Werk? Walter Benjamins vernichtendes Wort vom „Willen zur Lüge“, mit dem er in Anspielung auf Friedrich Nietzsche Borchardts „moralisches Wesen“ zu erfassen suchte, führt Sprengel zwar an, um die sich aus solchen Fälschungen für die Rekonstruktionsversuche des Biografen ergebenden Probleme zu pointieren, ohne diesem Diktum jedoch zu folgen. Seine psychoanalytisch motivierte Deutung zielt hingegen auf die These, dass sich der noch wenig selbstbewusste, angehende Philologe und Autor „die fremde Stimme einer wissenschaftlichen Autorität“ lieh, um „beim Über-Ich Hofmannsthal“ für die eigenen Schwächen zu werben. Was bisher als, von Friedrich Leo bezeugte, besondere menschliche Qualität Borchardts aus dem Brief herausgelesen wurde, erweist sich so als „Utopie einer toleranten Vater- und Mutterinstanz“, die Borchardt bei seinen tatsächlichen Eltern vermisste. Schon hier zeigt sich die für die gesamte Biografie charakteristische Verbindung eines großen Einfühlungsvermögens in Borchardt mit einer überragenden Kenntnis von dessen Werk.

Mit seinem furiosen Einstieg weiß Sprengel nicht nur neugierig zu machen auf einen Autor, über den Harald Zils 2009 bemerkte, kein anderer sei in den letzten vierzig Jahren so häufig so folgenlos wiederentdeckt worden, sondern konturiert zugleich ein bedeutsames, lebens- und werkgeschichtliches Motiv, das seine Perspektive auf Borchardts Biografie bestimmt: das Sprechen mit fremder Stimme. Wie schon Alexander Kissler in seiner wichtigen, ebenfalls biografisch orientierten Studie „‚Wo bin ich denn behaust?‘ Rudolf Borchardt und die Erfindung des Ichs“ (2003) präsentiert auch Sprengel Borchardt als modernen Schriftsteller der Ich-Spaltung. Vor allem aber entwirft der Literaturwissenschaftler ein Bild des Autors, politischen Redners und Übersetzers Borchardt, das ihn im modernen Medienzeitalter als „einen irritierenden Fremdkörper“ kennzeichnet. Dort, wo er sich in politische Debatten einmischte, sei dieser „neue Demosthenes“ als „Romantiker des Geistes“ aufgetreten, „ein dichterischer Visionär“. Schon Borchardts an der Antike ausgerichtete Rhetorik habe der Wahrnehmung seiner Reden, Gedichte und Essays in den Ohren der Zeitgenossen einen „fremden Klang“ verliehen. Als weitere Fremdheitsaspekte skizziert Sprengel vor allem drei markante Felder. Das erste ist Borchardts selbstgewählte und gerne zur Schau gestellte Exilsituation. Mit Ausnahme der Zeit des Ersten Weltkriegs und der ersten Jahre danach hielt er sich seit 1903 in der Toskana auf, wo er historische Villen anmietete. Diesen aristokratischen Lebensstil finanzierte er pikanterweise vor allem mit dem Geld seiner Ehefrauen Karoline Ehrmann (1874-1944), von der er sich 1919 scheiden ließ, und Marie Luise (Marel) Voigt (1896-1989), mit der er ab 1920 verheiratet war. Karoline Ehrmann wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie unter ungeklärten Umständen 1944 zu Tode kam.

Neben einem Bekenntnis zum „abendländischen Kulturerbe“ drückte sich in diesem Lebensstil aber auch ein Superioritätsanspruch aus, den Borchardt nach Ansicht von Sprengel von seinem Elternhaus – der Vater war Bankier – übernahm, gegen das er freilich zugleich zeitlebens rebellierte. Als Schriftsteller demonstrierte Borchardt mit seiner Ortswahl darüber hinaus seine Unabhängigkeit insbesondere vom George-Kreis, dem er zunächst durchaus nahegestanden hatte, von dem er sich aber ab 1906 zunehmends distanzierte, später auch in Form homophober Tiraden gegen den „Meister“ und dessen Anhänger. Verbunden mit seinem toskanischen „Exil“ war auch eine Hinwendung zu Dante, dessen „Divina Commedia“ Borchardt in jahrzehntelanger Arbeit ins Deutsche übertrug, und den er, wie Sprengel schreibt, „in den Gang der nationalen Kultur seit dem Mittelalter“ hinüberzunehmen bzw. zu annektieren versuchte. Am Beispiel von Borchardts Dante-Übersetzungen beschreibt der Berliner Literaturwissenschaftler dessen Übersetzungspraxis als einen „Versuch der verfremdenden Aneignung“, als ein Sprechen „mit eigener und fremder Stimme“.

Damit ist ein zweites Feld konstitutiver Fremdheit identifiziert: Borchardt sah die Moderne durch einen Abgrund oder eine primäre Fremdheit „von der Ursprünglichkeit früherer Kulturtraditionen“ getrennt. Schließlich bezeichnet Sprengel die jüdische Herkunft, die Borchardt nie habe an sich heranlassen wollen, als eine weitere Form der Fremdheit. Schon Alexander Kissler bezeichnete diese in seiner 2003 erschienenen Monografie über Borchardt („Wo bin ich denn behaust?“ Rudolf Borchardt und die Erfindung des Ichs) als den „Fluchtpunkt sämtlicher Argumentationen über das Wesen des Judentums“: Alle autobiograpfischen Schriften und Bezüge hätten dazu dienen sollen, einen exemplarischen Menschen vorzustellen, der „die freiwillige, sittlich und national gebotene Überwindung des Judentums und Annahme des Christentums“ verkörperte und so gewissermaßen als „Königsweg zur Lösung der sogenannten Judenfrage“ erscheine. Dabei hält Kissler die mit Borchardts jüdischer Herkunft verbundene, innere Zerrissenheit für nichts Geringeres als den wichtigsten Schreibimpuls Borchardts, der noch bis in die jüngste Zeit hinein als „eigentümlich schwankende Begrifflichkeit“ im Hinblick auf die Bezeichnung der familiären Zugehörigkeit zum Judentum in der Forschung ein Echo finde.

Tatsächlich kann Sprengel, entgegen der noch von Kissler vertretenen Auffassung, Borchardts Mutter, Rosalie Bernstein (1854-1943), sei vermutlich noch vor der Hochzeit mit Robert Martin Borchardt (1848-1908) zum Christentum konvertiert, zeigen, dass in Borchardts Geburtsurkunde als Religionszugehörigkeit der Mutter „mosaisch“ vermerkt ist. Die Verleugnung der eigenen jüdischen Zugehörigkeit, die trotz seiner Taufe über die Mutter klarer Teil seines familiären Erbes war, wird durch diesen Befund noch deutlicher.

Die Biografie enthält eine Fülle von bedeutsamen Beobachtungen und eröffnet auf der Grundlage vor allem der inzwischen veröffentlichten Briefwechsel eine Reihe neuer Einblicke, so etwa im Hinblick auf verschiedene Verwerfungen zwischen dem schillernden Borchardt und seinen zeitweiligen Bündnisgenossen, Gegenspielern und den von ihm umworbenen Frauen. Ausführlich zitiert Sprengel etwa einen bemerkenswerten Brief von Borchardts zweiter Frau Marie Luise, die ihrem Ehemann im Frühjahr 1936 im Zusammenhang einer Ehekrise sehr deutlich zu verstehen gibt, wen sie für verantwortlich hält, sollte ihre Ehe scheitern: „Du bist überempfindlich und kannst nicht mehr mit Menschen umgehen. Mich verurteilst Du zu dem gleichen Leben obwohl Du mir in Treue nicht das Gleiche gibst noch je gegeben hast was ich gab.“

Paradoxerweise jedoch entzieht sich trotz – und auch wegen – der erreichten Nahsicht zum Teil der Gegenstand von Borchardts Werk und die Frage von dessen literaturgeschichtlicher Bedeutung. Auch die ihm zugesprochene Faszination bleibt letztendlich merkwürdig ungreifbar. Das mag zum einen mit Eigentümlichkeiten der biografischen Methode zusammenhängen, die in der Fokussierung auf die Biografie zuweilen Gefahr läuft, die vorgefundenen widersprüchlichen Dokumente mit einem kohärenten Narrativ zu verknüpfen. Dabei gelingt es dem Biografen nicht immer so überzeugend wie in dem angeführten Beispiel des Briefs von Marie Luise Borchardt, die in den Briefen und anderen Zeugnissen vorgefundenen projektiven Wahrnehmungen Borchardts in der Konfrontation mit Gegenstimmen zum Sprechen zu bringen. Wenn etwa im Hinblick auf ein neuerliches Zusammentreffen mit seiner späteren zweiten Ehefrau während der Anfangszeit ihrer Bekanntschaft 1919 aus Anlass der Proben zu Hofmannsthals „Der Bürger als Edelmann“ am Deutschen Theater die Rede davon ist, dass „Borchardts Widerstandskraft schnell“ schwand, ist es die Rekonstruktion des Biografen, die den Topos von der Verführung durch die Frau implementiert. Zwei andere Beispiele fallen in dieser Hinsicht besonders auf. Der Prager Literaturkritiker Fritz Brügel (nicht Bürgel, wie er in der Biografie versehentlich genannt wird) griff den 1937 im Exilverlag Bermann-Fischer veröffentlichten, einzigen Roman Borchardts, „Vereinigung durch den Feind hindurch“, in der Moskauer Exilzeitschrift „Das Wort“ scharf an. Borchardts Werk rechnete er dabei dem „aristokratischen Faschismus“ zu und zitierte aus dessen berüchtigter Bremer Rede „Führung“ von 1931 sowohl Borchardts Androhung von „Stockprügeln“ gegen andere Autoren als auch die Bemerkung, „daß Feuer noch stärker ist als Papier“, was er anschließend sarkastisch kommentierte: „Der erste deutsche Schriftsteller also, der Bücherverbrennungen, Prügel und Martern und all die unaussagbare Rohheit des Faschismus, lange vor dessen Machtantritt im Deutschen Reich, empfohlen hat, war Rudolf Borchardt.“

Sprengel kommentiert, dass Borchardt der „eigentlichen Pointe des Angriffs […] wehrlos ausgeliefert“ blieb. Freilich entstammte die martialische Androhung von Gewalt gegenüber ästhetisch-politischen Opponenten Borchardts Rede; die Hilflosigkeit ist die des entlarvten Aggressors. Gerade als politischer Rhetor vermochte Borchardt, wie Harald Zils in seiner Studie „Autonomie und Tradition. Innovativer Konservatismus bei Rudolf Borchardt, Harald Bloom und Botho Strauß“ (2009) gezeigt hat, mit einigem Erfolg situative Gemeinschaften herzustellen, auch wenn seine Botschaften häufig vieldeutiger blieben als in der „Führungs“-Rede und sich deshalb zeitweilig neben den Nationalisten auch Liberale angesprochen fühlen konnten.

An anderer Stelle fragt Sprengel, woher eigentlich Borchardts Antipathie gegenüber dem amerikanischen Juden Bernard Berenson (1865-1950) herrührte, in dessen Villa I Tatti im Süden von Florenz auch Borchardt offenbar in den Anfangsjahren seines Lebens in Italien nach 1903 einmal zu Gast gewesen war und mit dem Borchardt als Privatgelehrter auch noch die Vorliebe für den gleichen Lebensstil teilte. In seiner Antwort vermutet Sprengel, dass es offenbar „eine Parallele zu viel“ gegeben habe – und die bezieht sich auf Borchardts jüdische Herkunft und seinen Umgang damit. Zu lesen steht: „Borchardt erkannte im Milieu um Berenson jene jüdische Geschäftstüchtigkeit wieder, die ihm das eigene Elternhaus verleidet hatte. In gewisser Weise war sogar eine Steigerung festzustellen. Denn der Typus Berenson unterwarf dem eigenen kommerziellen Talent sogar noch die Sphäre der Kunst, die dem jungen Borchardt bei seinen Ausbruchsversuchen aus den Bankierskreisen als genuin alternativer Bereich vorschwebte.“

Völlig ohne jede Distanzierung müssen hier das antijüdische Stereotyp von der „jüdischen Geschäftstüchtigkeit“ und sogar die Rede vom (jüdischen) „Typus“ herhalten, um Borchardts Abneigung gegenüber Berenson zu erklären. Auf irritierende Weise erscheint darin die hochproblematische Gegenüberstellung einer als „jüdisch“ denunzierten Welt der Geschäfte und einer davon abgegrenzten „Sphäre der Kunst“ legitimiert. Der offensichtlich lebensgeschichtlich zentralen Bedeutung der verleugneten jüdischen Herkunft und ihrer ambivalenten Reflexionen im Werk Borchardts wird die Biografie so nicht gerecht. Ungeachtet von Kisslers grundlegender Arbeit bleibt es weiter notwendig, diese „Form der Fremdheit“ in Werk und Biografie zu erkunden. Daniel Hoffmann etwa hat vor wenigen Jahren in einem Aufsatz, den Sprengel nicht berücksichtigt, anhand einer gründlichen Relektüre von „Das Buch Joram“ und vor dem Hintergrund von Borchardts Briefwechsel mit Martin Buber herausgearbeitet, wie existenziell für Borchardt die Annäherung an die religiösen Gedanken der hebräischen Bibel war.

Es lässt sich überdies fragen, ob die von Zils beobachtete, offenbare Folgenlosigkeit der immer neuen Entdeckungen von Borchardts Werk, nicht auch mit dem Skandalon zusammenhängt, das es schon einigen ZeitgenossInnen darstellte. Dabei stand Borchardt mit seiner bis zur Selbstverleugnung reichenden Verabsolutierung einer totalitären Assimilation keineswegs allein, ebenso wie mit seiner Verabscheuung der Französischen Revolution, die er als entscheidenden geistesgeschichtlichen Bruch auffasste und im vitalistischen Vokabular antifranzösisch auflud: „Was man die Prinzipien der französischen Revolution zu nennen pflegt, eine Verbindung hohlster […] Utopie mit den Formen der bürgerlichen Freiheit […], beweist zum ersten Male die ausbrechende politische Unkraft Frankreichs.“ (zitiert nach Kissler) Mit Stefan George und dessen Kreis teilte er ein elitäres Dichtungsideal, das einen idealisierten Begriff der deutschen Nation entwarf. Innerhalb von Briefen kam es auch zur Aneignung antisemitischer Stereotype; als zentraler „kultureller Code“ (Shulamit Volkov) des Kaiserreichs diente Antisemitismus vielfach zur Bezeichnung kultureller „deutscher“ Zugehörigkeit.

Aufschlussreich ist dabei der Blick in die von Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann vorzüglich edierte Ausgabe des umfangreichen Briefwechsels zwischen Stefan George und Karl und Hanna Wolfskehl, der unter dem Titel „Von Menschen und Mächten“ erschien und so die Bedeutung des Machtaspekts auch für die literaturgeschichtliche Debatte prominent aufgreift. Dass auch von Stefan George antijüdische Stereotype überliefert sind, wie etwa in einem Brief vom 14. März 1901 an Karl Wolfskehl, in dem es George als für Deutschland beschämend empfindet, „sich seine dichterischen urteile […] von alternden zeitungsjuden und einigen schulentlaufenen Kuli“ sprechen zu lassen, belegt nur einmal mehr die Omnipräsenz des Ressentiments im Kontext nationaler Kunstaspirationen. Der Briefwechsel ist aber auch im Hinblick auf die Wahrnehmung Borchardts interessant. Während Karl Wolfskehl in einem Schreiben vom 29. April 1901 an George den Autor Borchardt noch für eine Mitarbeit an den „Blättern für die Kunst“ empfiehlt, ist nur wenige Monate später bereits vom „üblen R. B.“ die Rede. 1907 überzieht Hanna Wolfskehl in einem Brief an George Borchardts „Das Buch Joram“ gar mit Spott, das ihr altmodisch erscheint und sie als „Ober-Snobbuch“ bezeichnet. Erschütternd liest sich dann – worauf in den Besprechungen zur Briefedition bereits hingewiesen wurde – Karl Wolfskehls kurzes Schreiben vom 7. Juni 1932, in dem er vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Bedrohung George um Rat ersucht: „Tief bedrängt von dem was jetzt sich vollzieht, was mich den Juden bedroht – ich meine nicht die äußere Gefahr! – bin ich nach kurzem Verweilen wieder weggefahren, bin grenznah und weiss nicht, tat ich recht.“ Die am 11. Juni erfolgende Antwort gibt ein deprimierendes Bild davon, wie wenig George die Sorgen seines Getreuen verstand: „D. M. [= der Meister; H.J.H.] lässt in erwiderung Ihres briefes sagen dass das allgemeine durcheinander gewiss gross sei – so gross dass das einzelschicksal weniger gelte – dass Sie jedoch was sie persönlich anlange vielleicht doch zu düster zu sehen scheinen.“

Mit der Veröffentlichung von Borchardts in der Tradition antiker Schmähgedichte verfassten und gegen den Nationalsozialismus gerichteten „Jamben“ dreißig Jahre nach ihrer Entstehung im Jahr 1967 lag, wie Ulrich Raulff in seiner bedeutenden Studie „Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben“ (2009) über den George-Kreis schreibt, für jedermann offen, was bei George immer gefehlt hätte: „die klare, unmissverständliche Absage an den Nationalsozialismus.“ Freilich legen Studien von Ernst Osterkamp (1995) und Kai Kauffmann (2003) zu Borchardts „Aufzeichnung Stefan George betreffend“ offen, wie sehr Borchardt wiederum in diesem den Gedichten nachgereichten Prosatext zu einem „allumfassenden Wahnsystem“ (Kauffmann) gelangt, innerhalb dessen George wegen seiner Homosexualität regelrecht zum Vorläufer der Nazis stilisiert wird. Nicht der Rassismus oder der Antisemitismus und auch nicht die Reichsmystik würden George vorgeworfen, sondern ausgerechnet dessen „Erotomanie“.

In Zeiten „autoritärer Versuchung“, um hier eine Formulierung Jörg Laus aus der Wochenzeitung „Die Zeit“ aufzugreifen, leuchtet an Peter Sprengels großangelegtem Versuch, den „geistigen Kosmos“ von Borchardts Werk, „das die Möglichkeiten der deutschen Sprache in verschiedenen Richtungen nachhaltig erweitert“, in der Rekonstruktion von dessen Biografie sichtbar werden zu lassen, abgesehen von den angesprochenen Misstönen vielleicht am wenigsten ein, dass er ihn zum Fremdkörper im Medienzeitalter stilisiert. Zu sehr erinnern der glänzende Rhetoriker Borchardt und dessen Selbstinszenierung auch an gegenwärtige Versuche, Kunst und Ästhetik vor den Karren identitärer Nationalkulturen zu spannen. Allerdings eröffnet die keineswegs ausgesparte Darstellung von Borchardts Abgründen, seiner Homophobie, der Verleugnung seiner jüdischen Herkunft, das Liebäugeln mit Positionen der „konservativen Revolution“ – Sprengel hat dem „Kulturkampf gegen die Republik 1924-1932“ ein umfangreiches Kapitel gewidmet – viele Ansätze, sich mit der immer aktuellen Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Politik zu beschäftigen.

Titelbild

Peter Sprengel: Rudolf Borchardt. Der Herr der Worte. Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
504 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406682070

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ute Oelmann / Birgit Wägenbaur (Hg.): Von Menschen und Mächten. Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892-1933.
Herausgegeben im Auftrag der Stefan George Gesellschaft.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
879 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783406682315

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