Kosmopolitisch und unbehaust: Überlebensstrategien der Moderne
Irmgard Keuns „Kind aller Länder“
Von Liane Schüller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLängst ist Irmgard Keun (1905-1982) als bedeutende Autorin der ausgehenden Weimarer Republik etabliert und einem breiten Publikum bekannt. Mit ihrem Debütroman Gilgi, eine von uns erzielte sie 1931 einen Überraschungserfolg, dem bereits ein Jahr später ihr bis heute bekanntester Roman Das kunstseidene Mädchen folgte. Im selben Jahr wurde Gilgi unter der Regie von Johannes Meyer mit Brigitte Helm in der Titelrolle filmisch adaptiert. Beide Texte, die zentrale Diskurse der Zeit aufgriffen und in einigen Kreisen kontroverse Debatten über die Darstellung des Frauenbildes und der geschlechtsspezifischen Rollenmuster auslösten, gelten bis heute als wichtige (neusachliche) Zeitdokumente. Als „Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz“ landeten sie schließlich auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ der Reichsschrifttumskammer, was die rasante Karriere und Existenzgrundlage der jungen Autorin schlagartig zunichte machte. Keun ging – wie viele ihrer KollegInnen – ins Exil, wo sie an verschiedenen Texten arbeitete und sich u. a. 1936 in Ostende in regem Austausch mit so prominenten Autoren wie Joseph Roth, Ernst Toller, Hermann Kesten, Egon Erwin Kisch und Stefan Zweig befand. Sie blieb bis 1940 im Exil und war in dieser Zeit mit einer bereits in Deutschland begonnenen Geschichtensammlung und zwei Romanen äußerst produktiv. Im Jahr 1938 publizierte Keun im renommierten Amsterdamer Querido-Verlag ihren Roman Kind aller Länder, der nun, im Frühjahr 2016, bei Kiepenheuer & Witsch neu erschienen ist.
Der Text, der durch seine vermeintliche Leichtigkeit besticht, bietet einen ungewöhnlichen Blick auf das Leben von Emigranten in den 1930er Jahren. Aus der Sicht des 10-jährigen Mädchens Kully wird die Flucht mit ihren Eltern aus Deutschland und die anschließende Odyssee durch Europa geschildert, womit en passant die Erfahrungen zahlreicher AutorInnen des literarischen Exils reflektiert werden: „Wir sind aus Deutschland fortgefahren, weil mein Vater es nicht mehr ausgehalten hat, denn er schreibt Bücher und für Zeitungen. Wir sind in die allgemeine Freiheit gewandert. Nach Deutschland gehen wir nie mehr zurück. Das brauchen wir auch nicht, denn die Welt ist sehr groß.“
Bereits der Titel des Romans kommt kosmopolitisch daher und suggeriert Weltoffenheit, ein Überall-Zuhause-Sein. Gleichwohl sind die Gefahren des Lebens im Exil, geprägt von Unsicherheit und Existenzangst, omnipräsent. Die Familie ist ihrer Heimat beraubt, lebt ohne festen Bezugsort und hat gelernt, sich in diffusen Lebensverhältnissen einzurichten. Die facettenreiche und episodenhafte Erzählweise unterstützt den Eindruck vom Chaos und der Unruhe des Exillebens. Das Vorläufige, das Provisorische und die für dieses Leben „auf dem Sprung“ nötige Flexibilität zieht sich durch den gesamten Text. Den Dreh- und Angelpunkt bilden dabei die unterschiedlichen Strategien, die entwickelt werden, um in dieser Form von Unbehaustheit zu überleben. Wie kann man sich mit den (Existenz-)Ängsten, Nöten und Problemen eines solch nomadenhaften Lebens arrangieren? Während Kullys Vater ständig aktiv auf der Suche nach Geldquellen ist, um das Überleben seiner Kleinfamilie zu sichern und dabei zumeist souverän und pfiffig-erfinderisch agiert – er lässt Frau und Kind auch mal als Pfand in Hotels zurück –, wird die Mutter, zur Passivität verdammt, überwiegend verängstigt, unsicher, sorgenvoll und traurig gezeichnet. Die 10-jährige Ich-Erzählerin, die zumeist von entwaffnender Spontaneität ist, kommt hingegen recht unbekümmert mit den wechselnden Gegebenheiten zurecht, reagiert flexibel auf Neues und ist mit dieser Anpassungsfähigkeit eine sehr moderne Figur. Sie entwickelt einen eigenen Blick auf die prekäre Lebensrealität von Emigranten, die tagtäglich mit Grenzerfahrungen und Einreiseproblemen aller Art konfrontiert sind: „Wir haben so viel Gefahren“, sagt sie, „das alles ist so schwer zu verstehen“. Während man in dem einen Land nicht bleiben darf, wird man in dem anderen nicht aufgenommen. Die aus heutiger Perspektive hochaktuelle Erfahrung der Fatalität eines Lebens im „Nichts“, auf einer Grenze, wird durch den kindlichen Blick und die sprunghafte Erzählweise leichtfüßig ad absurdum geführt: „Über eine Grenze kommt man nicht, wenn man keinen Paß hat und kein Visum. Ich wollte immer mal eine Grenze richtig sehen, aber ich glaube, das kann man nicht. Meine Mutter kann es mir auch nicht erklären. Sie sagt: ‚Eine Grenze ist das, was die Länder voneinander trennt‘. Ich habe zuerst gedacht, Grenzen seien Gartenzäune, so hoch wie der Himmel. Aber das war dumm von mir, denn dann könnten ja keine Züge durchfahren. Eine Grenze ist auch keine Erde, denn sonst könnte man sich ja einfach mitten auf die Grenze setzen oder auf ihr herumlaufen, wenn man aus dem ersten Land raus muß und in das andere nicht rein darf. Dann würde man eben mitten auf der Grenze bleiben, sich eine Hütte bauen und da leben und den Ländern links und rechts die Zunge rausstrecken. Aber eine Grenze besteht aus gar nichts, worauf man treten kann. Sie ist etwas, das sich mitten im Zug abspielt mit Hilfe von Männern, die Beamte sind.“ Noch undurchschaubarer werden die Zusammenhänge für das Kind rund um Visabestimmungen und die daraus folgenden Probleme: „Ein Visum ist auch etwas, das abläuft. Zuerst freuen wir uns immer schrecklich, wenn wir ein Visum bekommen haben und in ein anderes Land können. Aber dann fängt das Visum schon an, abzulaufen, jeden Tag läuft es ab – und auf einmal ist es ganz abgelaufen, und dann müssen wir aus dem Land wieder raus.“
Die Wahrnehmung der kindlichen Protagonistin von der unsteten Welt ist äußerst aufschlussreich: Neugierig, teilweise distanzlos und mit hintergründigem Humor reflektiert das Mädchen bedrohliche und riskante Situationen auf scheinbar naive Weise. Dies ist jedoch ein Trugschluss. Dass sich Keun für eine kindliche Erzählfigur entschieden hat, ist als erzählerischer Kunstgriff zu verstehen, den die Autorin in ihren Texten mehrfach verwendet. Denn der unpathetische Blick der Protagonistin und literarische Trick des „Kindheitsfilters“ (Elfriede Jelinek) bietet die Möglichkeit, im vordergründig harmlosen, unpolitisch daherkommenden Gestus Missstände zu entlarven, und dient insofern als Tarnmantel, unter dem zwar durch die charmante Verbindung von Naivität und Logik eine humoristische Wirkung erzielt wird, aber immer auch Tragik spürbar bleibt.
Einiges im Roman Geschilderte ist dabei sicherlich nah an den persönlichen Erfahrungen der Autorin. Viele reale Schauplätze, an denen sich Irmgard Keun im Exil aufhielt, ließen sich, wenn man wollte, mehr oder weniger eindeutig identifizieren. Es geht aber weniger darum, Einblicke in die Biographie der Autorin zu erhalten; vielmehr enthüllt der Text das Exil als eine Form der Unbehaustheit, als ein Paradigma der modernen Existenz (Walter Delabar). Ob also die biographische Lesart, die der Klappentext der Neuausgabe einschlägt, so angebracht ist, sei dahingestellt. Denn dass sich – wie dort zu lesen ist − in den Eltern Kullys das Paar erkennen lasse, „das Joseph Roth und Irmgard Keun im Sommer 1936 in Ostende wurden“, ist mehr als fraglich. Während Keun in ihren Erinnerungen zwar ihre Exilerfahrungen, die sie gemeinsam mit ihrem zeitweiligen Lebenspartner Joseph Roth gemacht hatte, reflektiert, verweist sie dort zugleich auf einen Wiener Journalisten, der sich mit Frau und Kind in einer provisorischen Existenz im Exil eingerichtet hatte und sie als Pfand in Hotels hinterließ, um sie nach Wochen wieder „einzulösen“. Ein mögliches Vorbild für Kully liefert sie darüberhinaus in ihren Bildern aus der Emigration: „Eine wahre Erfrischung war ein kleiner Emigrantenjunge […]. Er […] brachte es fertig, ein Berliner Französisch zu sprechen, mit dem er sich ohne Scheu und Rücksicht überall verständlich zu machen wußte. Ob er Heimweh nach Berlin habe? Nein, gar nicht, warum denn? ‚Det is mir egal, wo ick bin, ick spiel überall mit alle Kinder, ick muß nur immer wieder bei meiner Mutter sein, weil die mir kocht‘. Wir verzichteten darauf, weitere sentimentale Emigrantenfragen an dieses kummerlose, kosmopolitische Kind zu richten.“
Obgleich sich Irmgard Keuns Texte im Spannungsfeld zwischen Unterhaltungsfunktion und literarischem Anspruch ansiedeln, stellen sie keineswegs idyllische Reminiszenzen dar, sondern enthüllen die unter der Oberfläche verborgene und oftmals verstörende Lebensrealität ihrer Figuren.
Dass der Roman Kind aller Länder, der bislang eher am Rande − vor allem in literaturwissenschaftlichen Diskursen – Beachtung fand, nun einem neuen Publikum zugänglich gemacht wird, ist hoch erfreulich. Besonders im Kontext der weltweiten Flüchtlingsbewegungen stimmt dieses äußerst lesenswerte Dokument der Exilzeit sehr nachdenklich.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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