Worauf wartet eigentlich die Literaturwissenschaft im Fall Wolfgang Koeppen?

Antworten in diesem Themenschwerpunkt zu einer Frage Marcel Reich-Ranickis

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Im Juli vor 20 Jahren schloss Marcel Reich-Ranicki das Nachwort zu seinen gesammelten Aufsätzen und Reden über Wolfgang Koeppen, die 1996 als eine Art Nachruf auf den wenige Monate vorher gestorbenen Autor erschienen und jetzt mit etlichen Ergänzungen als Sonderausgabe von literaturkritik.de erneut veröffentlicht werden, mit den Worten ab: „Am Ende habe ich zu danken – ihm, Wolfgang Koeppen, dessen Werk ich ein Leben lang begleiten durfte.“ Bald darauf widmete er der Erinnerung an ihn in seiner Autobiographie Mein Leben ein ganzes Kapitel, das einzige, das von der ersten bis zur letzten Zeile nur von einem Autor handelt.

Im Dezember 1957 hatte er ihn persönlich kennen gelernt und kurz zuvor seinen ersten Artikel über ihn publiziert, eine Rezension zur polnischen Ausgabe des Romans Der Tod in Rom. Bald darauf schrieb er seinen vermutlich ersten Brief an Koeppen, der allerdings in keinem der beiden für den Briefwechsel einschlägigen Archive (in Greifswald und Marbach) erhalten ist. Der Antwort Koeppens vom 20. Oktober 1957 lässt sich jedoch entnehmen, dass Marceli Ranicki (wie der in Polen lebende Kritiker damals hieß) ihn auf seine Rezension aufmerksam gemacht hatte: „Dass mein Roman ,Der Tod in Rom’ bei Ihnen schon erschienen sein soll, überrascht mich etwas. Ich habe noch kein Exemplar der polnischen Übersetzung zu sehen bekommen. Ich werde mir erlauben, Ihnen die deutsche Ausgabe durch meinen Verleger zu schicken.“

Seit 1957 schrieben sich der Autor und der Kritiker in mehr oder weniger großen Abständen Briefe – und wurden Freunde. Im September 1961 erschien in der Zeit ein längerer Artikel von Reich-Ranicki mit dem Titel Der Fall Wolfgang Koeppen. Ein Lehrbeispiel dafür, wie man in Deutschland mit Talenten umgeht. Man ist schlecht mit ihm umgegangen, sollte das „Lehrbeispiel“ zeigen: Keiner der drei Romane – Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom – aus den Jahren 1951 bis 1954, beklagte Reich-Ranicki, „wurde zu einem Verkaufserfolg, keiner erhielt einen Preis, kein Taschenbuchverlag interessierte sich für Tod in Rom.“ Dass dies bei dem Autor zu einer Krise geführt habe, sei nicht verwunderlich. Der Romancier Koeppen sei „von seiner eigentlichen Aufgabe weggedrängt“ worden und habe sich als „Ausweichmöglichkeit“ Reiseberichten verschrieben.

Dass Koeppen im Jahr darauf mit der angesehensten Auszeichnung literarischer Leistung im deutschen Sprachraum, dem Büchner-Preis, geehrt wurde, kann als Reaktion auf Reich-Ranickis Kritik verstanden werden. Der Kritiker selbst formulierte diese Vermutung mit Vorsicht und im Gestus der Bescheidenheit, aber seine Genugtuung über die Nachricht ist in der Gratulation vom 19. Juni 1962 (dem frühesten seiner Briefe an Koeppen, die derzeit aufzufinden sind) deutlich erkennbar:

Sie werden sich wahrscheinlich kaum vorstellen können, wie sehr mich die Nachricht über den Büchner-Preis erfreut, ja fast beglückt hat – wenn dieses Verbum nicht  einen allzu pathetischen Klang hätte. Denn im Grunde gibt es für den Kritiker keine grössere Freude als die Anerkennung des Autors, für den er sich einsetzt – auch wenn zwischen seinen Bemühungen und der Autors Preiskrönung vielleicht kein Kausalzusammenhang besteht. Wie dem auch sei: Ich gratuliere Ihnen schon jetzt vom ganzen Herzen.

Die hohe Auszeichnung beendete Koeppens Schreibkrise allerdings nicht. In einem Zeit-Artikel vom 27. April 1973 beklagte Reich-Ranicki abermals das Ausbleiben neuer Bücher von Koeppen. 1961 sei sein bislang letztes erschienen. Und er stellte die Frage: „Sollte sich nicht die Wissenschaft seines Werkes endlich annehmen?“ In einer späteren Fassung des Artikels fügte er hinzu: „Worauf wartet eigentlich die Germanistik?“ Dass die Literaturwissenschaft im „Fall Koeppen“ nicht mehr lange auf sich warten ließ, dabei auch kritisch Koeppens Umgang mit der eigenen Vergangenheit reflektiert und ihn inzwischen nicht bereits wieder vergessen hat, zeigt der Themenschwerpunkt der Juni-Ausgabe 2016 von literaturkritik.de mit älteren und neuen Beiträgen ausgewiesener Koeppen-Experten.

Einen besonderen Hinweis verdient dabei die editionswissenschaftlich fundierte, gedruckt und digital vorliegende Neuausgabe jenes Fragments Jugend, das vor 40 Jahren erschien. An dessen Entstehung und Erfolg hatte Reich-Ranicki zusammen mit Siegfried Unseld, dem Leiter des Suhrkamp Verlages, maßgeblichen Anteil. Seit dem 110. Geburtstag Koeppens am 23. Juni 2016 ist unter der Adresse http://www.suhrkamp.de/jugend ein Musterbeispiel dafür allgemein zugänglich, was die Editionswissenschaft mit den Techniken der Digitalisierung gegenwärtig zu bieten hat. Diese Textgenetische Edition wird die gedruckten Ausgaben von Jugend nicht ersetzen, aber sie ermöglicht es, das Verständnis für die legendär lange und schwierige Entstehungsgeschichte eines bedeutenden literarischen Werks erheblich zu vertiefen, und kann damit vielleicht dazu beitragen, das Interesse an Wolfgang Koeppen neu zu beleben. Der Autor und seine Werke haben es fraglos verdient – und diejenigen, die ihn mit unendlicher, freundschaftlicher Geduld unterstützt haben, ebenfalls.