Bilanzen zur Lebensmitte im heutigen Frankreich

In seinem großen Gesellschaftsroman „Die Summe unseres Glücks“ gelingen François Roux eindringliche Portraits

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie kann man das Leben eines Menschen erzählen? Mit welchen Auswahlentscheidungen und Darstellungsmitteln lassen sich gar eine ganze Gesellschaft sowie die Verschiebung ihrer Werte und Stimmungen in einem Roman einfangen? Angesichts der unendlich vielen Detailereignisse und Umstände eines Menschenlebens liegt die Lösung dieser poetischen Kardinalfrage insbesondere des biografischen Romans wie des Gesellschaftsromans zweifelsohne in der Auswahl aufschlussreicher Episoden. Aus dem zeitlichen Kontinuum und der Weite der Räume müssen bedeutsame Momente ausgesucht und diese dann in eine überzeugende Anordnung gebracht werden. Im Hinblick auf die Darstellung einer ganzen Gesellschaft und ihrer historischen Veränderungsprozesse stellt sich das Problem von Selektion (relevanter Figuren und ihrer Zeiten, Räume, Ereignisse) und narrativer Kombination der ausgewählten Figuren und Ereignisse noch dringlicher.

Da eine moderne Gesellschaft ein riesiges Aggregat ist aus vielen Berufswelten, aus städtischen wie ländlichen Milieus und Lebensweisen, haben sich schon die großen Romanciers des 19. Jahrhunderts, allen voran der bedeutende Realist Honoré de Balzac und der Erfinder des Naturalismus Emile Zola dafür entschieden, die Mannigfaltigkeit des zu Erzählenden auf eine Serie von Romanen zu verteilen. Balzacs Comédie humaine schwoll auf über 100 Romane an. Zolas Gesellschaftsgeschichte des zweiten Kaiserreichs, dargestellt an den Abkömmlingen von drei Generationen der Familie Rougon-Macquart, umfasst 20 dicke Romane. Wie das Anliegen des sozialgeschichtlich orientierten Romans etwas weniger umfangreich zu bewerkstelligen ist, hatte vor etwa 10 Jahren der Engländer Jonathan Coe vorgemacht. In zwei Romanen stellte er eine kleine Gruppe von Figuren im England der 1970er-Jahre dar: In Erste Riten (The Rotter‘s Club) zeigte er sie als Teenager kurz vor dem Schulabschluss. Im zweiten Roman, Klassentreffen (The Closed Circle) präsentierte er das gleiche Personal 20 Jahre später in Thatchers England der 1990er-Jahre.

Der bisher eher als Filmemacher hervorgetretene französische Autor François Roux bewundert Jonathan Coe, aber auch Familiendurchleuchter wie den Amerikaner Jonathan Franzen. Zudem liebt er den spannenden Erzählfluss der klassischen Romane Alexandre Dumas’. Von Jonathan Coe hat er nun das treffliche Rezept übernommen, eine Gruppe junger Freunde zuerst am Startpunkt ihres eigenständigen Lebens, also in der Zeit zwischen Schulabschluss und Studien- oder Berufsbeginn, zu beschreiben. Und dann einen zweiten gründlichen Blick auf Momente ihrer Midlife Crisis und erster Bilanzen zu werfen, um so zu beleuchten, was aus den Träumen, Plänen und Wünschen der Jugendlichen 30 Jahre später geworden ist. Roux verdichtet diese beiden entscheidenden Lebensphasen in einem 600-seitigen Roman. Und er zeigt seine vier Klassenkameraden aus der Bretagne vor dem Hintergrund zweier französischer Präsidentenwahlen: 1981 dem historischen Sieg der Linken unter François Mitterand sowie dem neuerlichen aber weit weniger euphorischen Sieg der desillusionierten Linken um François Holland 2012. Durch die politischen Szenarien und Stimmungsberichte sowie durch die Beschreibung der Berufswelten und Familienkonstellationen entwirft er ein Panorama der sich wandelnden französischen Gesellschaft um die Jahrtausendwende.

Wen hat sich der als Dokumentarfilmer und Theaterautor erfahrene Schriftsteller nun als Hauptfiguren für sein Gesellschaftspanorama ausgewählt? Sein Ich-Erzähler Paul ist ein homosexueller Schauspieler und Autor, der sich mal schmerzvoll, mal euphorisch von seinem autoritären Vater, einem Provinzgynäkologen, frei macht und in Paris sein Leben in die Hand nimmt. Wobei er allerdings erst spät zu einem Gefühl von Selbstgewissheit und Glücklichsein gelangt, nämlich am Ende, wenn die anderen, zumindest beruflich erfolgreicheren Figuren in schwere Krisen stürzen. Diese Erzählerfigur des streckenweise auch auktorial erzählten Romans trägt nach dem Bekenntnis des Autors autobiografische Züge. Sein Klassenkamerad Rodolphe wiederum engagiert sich schon als Student beim antikommunistischen, wirtschaftsfreundlichen Flügel der sozialistischen Partei. Er bringt es, obwohl er es trotz Fleiß‘ und Begabung nicht auf die elitäre Kaderschmiede der ENA schaffte, zum Parlamentsabgeordneten. Sehr hilfreich ist ihm dabei seine zwar nicht schöne, doch herzensgute und treue Frau, deren zu Reichtum und Einfluss gekommener Vater als Bauunternehmer eng mit den Sozialisten verbunden ist. Wohin sich die Karriere Rodolphes und seines Schwiegervaters entwickelt, sei hier nicht verraten. Doch leuchtet der Roman sehr präzise die verschiedenen Milieus und Positionen der französischen Linken und insbesondre des PS aus. Der aktuelle Premierminister Manuel Valls hat dem Autor in Gesprächen Auskunft gegeben zur Partei und ihren berüchtigten Strömungen sowie zum Kreis der jungen Anhänger des Reformsozialisten Michel Rocard in den 1980ern.

Der dritte im Bunde, Tanguy, entstammt dem bretonischen Kleinunternehmertum. Er steigt durch sein Studium an einer renommierten Wirtschaftshochschule und seine Heirat mit einer amerikanischen Millionenerbin ins höhere Management einer Konsum- und Luxusgütermarke auf – bevor er nach beruflichem Burnout und (durch seine Libertinage eingebrockter) Scheidung tief fällt. Benoît schließlich bleibt als einziger in der Bretagne, lebt bei seinen Großeltern auf ihrem Bauernhof und entwickelt sich, von seinen Freunden lange unterschätzt, zu einem eigenbrötlerischen, von der Kunstszene und der Werbung umworbenen Starfotografen. In der abgehobenen Welt der Werbung begegnen sich der Manager Tanguy und der berühmte Fotograf Benoît nach Jahren wieder.

Man sieht, dass die ausgewählten Lebenswege vorderhand allesamt in bürgerlichen Berufswelten verlaufen. Doch kommen über die Herkunftsmilieus ihrer Eltern auch die Mitarbeiter einer im Konkurrenzkampf schrumpfenden Fischverarbeitungsfabrik oder die als Gewerkschafter in der Elektroindustrie arbeitenden streng kommunistischen Eltern des Reformsozialisten Rodolphe immer wieder in den Blick. Der 1957 geborene Autor entfaltet somit ein Gesellschaftstableau, in dem gewiss nicht alle Stände und Regionen präsent sind. Dennoch schaltet er geschickt zwischen Pariser Politik- und Künstlerkreisen und der abgelegenen Provinz hin und her. Zwar fehlen in seinen meist sehr eindringlich gezeichneten Psycho- und Paar-Portraits ein wenig die (im fortpflanzungsfreudigen Frankreich doch eigentlich häufigen) Familien mit Kindern. Und auch die Berufswelten sind etwas einseitig mit exzentrischen künstlerischen, politischen oder wirtschaftlichen Berufen besetzt, so dass es keine normalen Angestellten, Lehrer, Dienstleister oder Arbeiter als Hauptfiguren gibt. Doch finden sich, etwa über die prekär beschäftigten Dienstleister, die bei der Vernissage der spektakulären Ausstellung Benoîts in der mondänen Galerie von Rodolphes Frau die Häppchen reichen oder über einen Supermarktangestellten, den Benoît portraitiert, treffliche Bemerkungen zum ökonomischen Auseinandertriften der französischen Klassengesellschaft. Hier kann man Roux‘ Geschick im eindringlichen Schildern von psychischen Motivationen und Bewusstseinslagen wie in der Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen kaum genug rühmen. Es dürfte wenige zeitgenössische Schriftsteller geben, die so trefflich beobachten und formulieren und einem dabei doch nicht das Gefühl geben, dass wir es hier mit einem Thesenroman oder mit zurechtgezimmerten Charaktermasken zu tun haben. Seine Figurenportraits fallen allesamt fesselnd und überzeugend aus.

Wenn Roux in mehreren Anläufen die Art der realistisch-typisierenden und zugleich enigmatischen Portraitfotokunst seines Protagonisten Benoît schildert, so darf man in diesen Charakterisierungen seiner eindringlichen Abbildungskunst wohl auch eine implizit poetologische Selbstaussage über das Ziel seines Romans erkennen:

In Wirklichkeit wollte Benoît hautnah an die innere Wahrheit der Menschen heran, er wollte die Körper und Gesichter in ihrer Zerbrechlichkeit, ihrer Vergänglichkeit festhalten. Sodass die Gegenwart ihres Todes – der ihm selbst von Kind an vertraut war – in seiner Arbeit ständig durchschien. Jeder Körper, ob reich oder arm, ob anerkannt oder vernachlässigt, wurde zur abstrakten Gestalt, die irgendwann vom unwiderruflichen Lauf der Zeit verschluckt werden würde. Bestimmt hätte sich der eine oder andere von ihm politische Statements gewünscht, aber Benoît war von keinem gesellschaftlichen Engagement getrieben. Er begnügte sich damit, zu beobachten und durch seine Haltung einen magischen Moment entstehen zu lassen, in dem sich der Mensch ganz offenbarte.

Gegen Ende des Romans, wenn die Mehrzahl der Figuren in heftige Sinnkrisen und Zusammenbrüche gerät, stellt Paul zunehmend die Frage nach dem Lebensglück. Er entdeckt für sich die bescheidene Zufriedenheit in einer an Johann Wolfgang von Goethes Lob der Resignation erinnernden Manier. Nun gesteht auch der umworbene Fotograf, dass seine Kunst der trefflichen Darstellung der Anderen auf seiner eigenen Angst und Verletzlichkeit beruht: „Ich glaube, ich habe endlich begriffen, warum ich Fotos mache […]. Weil ich eine Scheißangst habe, deshalb. Es ist so viel einfacher, zu zeigen, was die anderen zerfrisst, als das zu zeigen, was mich selbst fertigmacht. Es ist so viel einfacher, zu delegieren, wenn man nicht den Mut aufbringt, auszudrücken, was man wirklich denkt, oder nicht?“

Während in manchen Passagen die Beschleunigungswut und Profitgier der turbokapitalistischen Wirtschaftsweise beschrieben und kritisiert wird, verharrt der Roman insgesamt in einer ziemlich französischen Binnenwelt – trotz seiner knappen episodischen Hinweise auf die asiatischen Künstler in der Galerie von Rodolphes Frau, auf die US-amerikanischen Konzernzentrale in Tanguys Firma oder auf die Auslandstourneen durch französische Kulturinstitute, in denen Pauls Schauspielkarriere versandet. Im Grunde ist hier doch Frankreich, und am Ende sogar die France profonde, die ländliche Küstenlandschaft der Bretagne, der Dreh- und Angelpunkt des Interesses. Aber gerade als ein solches mit feinem Pinsel gezeichnetes Panorama französischer Gegenwartsgeschichte sucht dieser Roman als Seismograf von Stimmungslagen seinesgleichen. Seine Themenvielfalt zeugt von einer wachen Zeitgenossenschaft. Sie reicht vom schwierigen homosexuellen Coming out in den 1980er-Jahren über die Aids-Katastrophe, den neoliberalen Optimierungsdruck der Betriebe, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung bis zu den privaten Narben im Burnout oder den Schwierigkeiten, sich für einen Partner zu entscheiden und sich dauerhaft zu binden.

Roux’ großen Roman liest man, nicht zuletzt auch wegen der wohlformulierten Übersetzung von  Elsbeth Ranke, gebannt wie einen Unterhaltungsroman. Und dabei erfährt man sehr viel über alte französische Rangordnungen und Karriereverbünde, aber auch über neuere Krisen und Enttäuschungen. Der französische Titel Le Bonheur national brut indiziert noch besser als der deutsche Buchtitel die Verbindung von kritischem Blick auf die Wirtschaftsentwicklung und die Frage nach Glück und Zufriedenheit im erbarmungslosen Konkurrenzwettlauf in der Wirtschaft wie in der Politik und den Künsten. Das ‚Brutto-Glücksprodukt‘ ist nämlich jene alternative Messgröße für den Erfolg von Nationen und Wirtschaftseinheiten, die nicht mehr einfach nach den monetären Summen fragt, die umgesetzt werden (und in denen eben auch Ausgaben für Unfälle, Krankheitskosten oder Umwelt- Reparaturen als positive Beiträge zur Volkswirtschaft gewertet werden), sondern nach dem Glück, das ermittelt werden soll mittels Umfragen nach dem Wohlbefinden in einer Gesellschaft. Hier schneiden viele reiche, westliche Gesellschaften bekanntlich schlechter ab als so manches monetär unterprivilegierte Land.

Roux’ Titel deutet in diese Richtung, auch wenn die Frage nach dem Glück im Buch eher unterschwellig mitläuft und nicht penetrant oder systematisch verhandelt wird. Aber das ist vielleicht auch ganz gut so. Denn Romane, die sich allzu direkt mit dem Glück oder Unglück befassen, laufen doch stets Gefahr, in Kitsch oder gefühlsduseliger Melodramatik zu enden. Roux vermeidet diese Abstürze und würzt seinen Generations- und Gesellschaftsroman mit den wuchtigen existenziellen Fragen nach Glück, Zeit und Tod.

Titelbild

François Roux: Die Summe unseres Glücks. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Elsbeth Ranke.
Piper Verlag, München 2015.
638 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492056939

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