Das georgische Nationalepos des hohen Mittelalters

Rustavelis „Der Recke im Tigerfell“ neu herausgegeben von Jost Gippert und Manana Tandaschwili

Von Mariam KarsanidzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mariam Karsanidze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Nationalepos

In diesem Jahr wird das 850. Jubiläum des Epos „Der Recke im Tigerfell“ gefeiert. Das Werk ist mittlerweile in 52 Sprachen übersetzt (von Hebräisch bis Koreanisch), darunter gleich mehrere Male ins Deutsche. Das Werk gilt als bedeutendstes Epos der georgischen Literatur.

Georgien ist ein Land mit einer relativ alten Literaturtradition (das erste nicht anonyme Werk stammt aus dem 5. Jahrhundert nach Christus). Die georgische Sprache hat keine verwandtschaftliche Beziehung zu anderen Sprachfamilien; der Versuch, eine Verwandtschaft zum Baskischen nachzuweisen, gilt als gescheitert. Außerdem verwendet das Georgische seit Beginn der Literaturtradition eine eigene Schrift, die bereits in Inschriften aus dem 4. Jahrhundert vor Christus belegt ist, wie große Ausgrabungen in Ostgeorgien ergeben haben.

Eine lebendige Literaturtradition, das Bewusstsein einer eigenartigen Sprache und einer eigenen Schrift führten zur Bildung einer starken kulturellen Identität. Rustavelis Epos ist zwar nur eines unter vielen georgischen Epen jener Zeit, aber es wurde doch zu einer formenden Kraft des georgischen Identitätsbewusstseins.

Kein christliches Epos

Genauso wichtig für die georgische Identitätsbildung war die Religion: Seit dem Jahre 337 ist das Christentum Staatsreligion in Sakartvelo (so nennen die Georgier ihr Land). In der Folgezeit stand das kleine Land oft unter Fremdherrschaft, doch die Religion konnte erhalten bleiben. Das Christentum wirkte besonders im Kampf gegen den Islam identitätsstiftend.

Christentum und „Der Recke im Tigerfell“: Hier lauert ein Widerspruch, der offenbar früh von kirchlichen Vertretern erkannt wurde. Rustaveli spricht von der Gleichstellung der Frau und vermittelt Ideale von Freundschaft und von der Liebe zwischen Mann und Frau, die nicht immer mit den (wechselnden) kirchlichen Vorstellungen übereinstimmten: „Verderber des Christentums“, der „üble Niedertracht lehrte“, heißt es in einem Bericht von 1758. Dennoch blieb Rustavelis Epos wichtig für die Georgier und wird oft als zweite Bibel, das Buch der Bücher oder das „Gewissen der Nation“ bezeichnet. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte das Buch zur Mitgift. Viele Georgier konnten das Epos auswendig, auch wenn sie weder schreiben noch lesen konnten. Bis heute ist es üblich, im Alltag aus Rustavelis Epos zu zitieren. Das Epos war stets und ist bis heute für jeden Georgier Richtschnur für Gesetz und Sitte.

Kosmopolitismus und Frauenemanzipation

Rustavelis Epos wird getragen durch die Überzeugung, dass der Mensch sein Schicksal gestaltet. Bemerkenswert ist, dass dies allein durch bedingungslose Freundschaft und Liebe gelingt. Die hohen Ideale der Freundschaft kennen keine politischen oder religiösen Grenzen. Ein besonderes Kennzeichen des Werks ist tatsächlich der Kosmopolitismus: Unter den fünf Hauptfiguren werden drei verschiedene Sprachen gesprochen. Welcher Religion sie angehören, scheint nebensächlich. Vergebens suchten spätere Interpreten nach religiösen Symbolen. Die interkulturelle Toleranz spielt eine Schlüsselrolle für den Erfolg im Kampf gegen das Schicksal. Zur Toleranz gehört auch die durchgängige Gleichstellung von Mann und Frau: Ausgehend von einem Reich, das durch eine Frau regiert wird, entstehen Frauengestalten, die ihr Schicksal in die Hand nehmen. „Löwenbrut, ob männlich, weiblich, bleibt doch immer Löwenbrut“ (Strophe 39).

Sprache

Schwieriger zu beschreiben ist die poetische Sprache, ihre Musikalität und die Harmonie der Verse: Rustaveli schreibt in der sogenannten Schairi-Form, was zunächst die Strophenform bezeichnet und bedeutet, dass jede Strophe aus vier Versen mit jeweils gleichem Reim und 16 Segmenten besteht; jeder Vers umfasst 16 Silben und ist zusätzlich durch eine Zäsur nach der achten Silbe gekennzeichnet. Im Epos erscheint der georgische klassische Schairi-Vers in zweierlei Spielarten: Hohe (symmetrische) und Niedere (asymmetrische) mit Silbenzahlenverhältnis 3:5:8. Nach dem ästhetischen Bedürfnis des Dichters für die Vermeidung der Eintönigkeit wechseln die beiden Formen ohne feststellbare Regel. Die Silbenzahlen der „niederen Versifikation“ entsprechen dem Prinzip des Goldenen Schnitts. Dieses Bauprinzip gibt es in vielen Kulturen der verschiedensten Epochen und ist vor Rustavelis Epos in georgischen Gedichten zu finden; aber Rustaveli war wohl der erste, der ein großes Epos (zwischen 1591 und 2029 Strophen) nach dem Prinzip des Goldenen Schnitts konzipiert hat. Die vorliegende Übersetzung des österreichischen Autors Hugo Huppert aus dem Jahre 1955 ist gerade deshalb bemerkenswert, weil er die originalen Schairi-Verse und auch die vielfältigen stilistischen Eigenheiten des Originals bewahrt. Die jetzt vorliegende Ausgabe von 2014 ist geschmackvoll und einladend gestaltet: Die Einleitung der Herausgeber informiert über den neusten Stand der Rustaveliforschung. Die Abbildungen sind aus einer Handschrift aus dem 17./18. Jahrhundert entnommen.

Datierung und Überlieferung

Die Überlieferung ist relativ einheitlich, obwohl keine Handschriften aus der Zeit vor 1646 existieren. Frühere Manuskripte sind wahrscheinlich den zerstörerischen Invasionen der Mongolen im 13. und 14. Jahrhundert zum Opfer gefallen. Seit 2013 sind 94 aufbewahrte Handschriften des Epos in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen. Dennoch sind die Abweichungen der einzelnen Handschriften klein.

Die Frage der Datierung ist komplizierter. Ausgangspunkt ist die Widmung im Prolog: Das Werk ist der Königin Tamar, die 1178 gekrönt wurde, gewidmet. Auch wird die Krönung im Text künstlerisch verarbeitet, und auch dort ist eine Frau „König“ (wie die Chroniken berichten, ließ sich Tamar „König“ nennen). Aber wann das Werk geschrieben wurde, lässt sich daraus nicht ableiten. In Georgien wird der im Prolog erwähnte König David mit Tamars zweitem Ehemann identifiziert, den sie 1187 (oder 1189) heiratete und der 1206 starb. Weil man annehmen könnte, dass die genannte Person zum Zeitpunkt der Niederschrift am Leben war, leitet sich eine Datierung um 1200 bis spätestens 1206 ab. Doch weil der Inhalt so fortschrittlich ist, sind immer wieder Stimmen vernehmbar, die das Epos für ein Werk aus der Zeit der Renaissance halten.

Über den Verfasser

Die einzige Quelle, die über den Dichter berichtet, ist sein Werk selbst. Der Dichter nennt sich „Rustveli“ in der siebten und achten sowie in den letzten Strophen seines Werkes. Zudem gibt es ein Fresko in Jerusalem, das laut Beischrift von einem Shota Rustaveli gemalt wurde: Laut einem Bericht des 18. Jahrhunderts ist damit der Autor des Epos „Der Recke im Tigerfell“ gemeint. Das Fehlen von Zeugnissen ist überraschend, weil im damaligen Georgien mehrere ausführliche Geschichtsbücher entstanden, darunter auch Chroniken. Außerdem ist das rege geistliche Leben unter Tamar in den Bänden der beiden damals neugegründeten Bibliotheken dokumentiert. Trotz intensiver Suche sind die ältesten literarischen Quellen, die über das Epos beziehungsweise über Rustaveli berichten, erst seit Beginn des 16. Jahrhunderts nachweisbar. Selbst vereinzelte Zitate außerhalb der eigentlichen handschriftlichen Überlieferung des Epos reichen kaum weiter zurück. Zum Beispiel berichten die Herausgeber der vorliegenden Übersetzung von einer Inschrift in einem ehemaligen Höhlenkloster für Frauen, die dem 14. oder 15. Jahrhundert zugerechnet werden kann. Eine überzeugende Erklärung konnte bis jetzt nicht gegeben werden, aber es gibt konkrete Fälle, wo Rustavelis Werk von der Kirche bekämpft wurde (bis hin zu einer Bücherverbrennung im 18. Jahrhundert), sodass eine frühe Unterdrückung durch die Kirche eine Erklärung für das Verschwinden des Namens Rustavelis in den überlieferten Dokumenten sein könnte.

Andere nennenswerte Übersetzungen ins Deutsche

Es existieren sechs Übersetzungen ins Deutsche sowie zwei Kinderbücher. Von Arthur Leist (Dresden/Leipzig 1889) stammt die älteste Übersetzung, die den Text zumeist in kreuzgereimten fünfhebigen Jamben wiedergibt. Ruth Neukomm (Erstausgabe Zürich 1974) hat eine schöne Prosaübersetzung erarbeitet. Es gibt auch eine Prosa-Nacherzählung für Kinder und Jugendliche: Der Recke im Tigerfell. Eine alte Geschichte aus Georgien, nach Rustaweli in Prosa erzählt von Viktoria Ruika-Franz (Berlin 1976; die 4. Auflage erschien 1989, ein Nachdruck 1991).

Hinweis: Der aktuelle Stand zur Forschung der georgischen Schrift ist nachzulesen bei Heinz Fähnrich: Die ältesten georgischen Inschriften. Brill, Leiden 2013.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Schota Rusthaweli: Der Recke im Tigerfell. Ein altgeorgisches Poem.
Deutsche Nachdichtung von Hugo Huppert.
Reichert Verlag, Wiesbaden 2014.
264 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783954900459

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