Wege der Übertragung

Über die Sprache der Liebe bei Platon, Shakespeare, Freud und Lacan

Von Achim GeisenhanslükeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Achim Geisenhanslüke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1. Platon, Lacan und die Sprache der Dichtung

Als Jacques Lacan sich 1960 in seinem Seminar mit dem Freudschen Begriff der Übertragung auseinandersetzt, wählt er einen – zumindest auf den ersten Blick – überraschenden Weg. Nachdem er einleitend klargestellt hat, dass am Anfang der psychoanalytischen Praxis nicht allein das Wort, sondern zugleich die Liebe war – „Au commencement de l’expérience analytique, rappelons-le, fut l’amour“[1], predigt Lacan mit der Stimme des Propheten und Märchenerzählers –, widmet er die ersten zehn Sitzungen einem ausführlichen Kommentar des Platonischen Symposions. Was er bei Platon findet, ist jener Zusammenhang von Sprache und Liebe, den der Begriff der Übertragung nicht allein in seiner psychoanalytischen, sondern bereits in seiner antiken rhetorischen Bedeutung als Grundlage der Metapher verkörpert.[2]

Lacan wie nach ihm Roland Barthes in Fragments d’un discours amoureux und Julia Kristeva in Histoires d’amour interessiert das Zusammenspiel zwischen der Frage nach dem Wesen des Eros, die Platon im Symposion entfaltet, und der nach der Sprache der Liebe, die sich vor allem im agonalen Aufeinandertreffen von Dichtern und Philosophen, von Aristophanes, Agathon und Sokrates in der zweiten Hälfte des Gastmahls manifestiert. Wenn am Anfang der Psychoanalyse, den Lacan im Symposion erkennen will, der Zusammenhang von Sprache und Liebe steht, dann stellt sich allerdings die Frage, welche Vorgaben dieser Anfang für alle Versuche macht, die auf ihn aufbauen oder sich von ihm absetzen, um das Phänomen der Liebe theoretisch zu fassen. Die Frage ist um so dringlicher, als Platon mit der Dichtung und der Philosophie zwei unterschiedliche Antworten auf das Problem des Wesens und der Sprache der Liebe gibt, um abschließend mit dem unvermittelten Auftritt der skandalumwitterten Figur des Alkibiades den Triumph des Sokrates über seine Gegner zu feiern. Die Apologie der sokratischen Position, die das Symposion in einer komplexen narrativen Rahmung des Gastmahls und der dramatischen Abfolge von sechs miteinander konkurrierenden Lobreden auf den Eros inszeniert, trifft so eine Entscheidung, die keineswegs selbstverständlich ist und jenseits der Selbsteinsetzung des Meisterdiskurses der Philosophie der Begründung bedarf.

Das betrifft insbesondere den Vergleich der Sokratischen Rede mit derjenigen, die ihr unmittelbar vorausgeht und zweifellos den rhetorischen Höhepunkt des Wettstreits darstellt: der Agathons. Zwar hat Agathon gerade für die sprachliche Brillanz seiner Rede von Seiten der Philosophie nur Spott und Häme geerntet. Rainer Thiel spricht im Blick auf Agathon von einem „Aggregat disparater und aus keinerlei einheitlichem Prinzip fließender Überlegungen, die ganz assoziativ aneinander gereiht sind“[3], Richard Hunter bemängelt ein narzisstisches „self-consciousness with its own technique and structure“[4] und „Agathon’s pleasure in paradoxe“[5], das ihn an die von Platon verfemte Sophistik zurückverweise. Am weitesten in der Diskreditierung Agathons ist aber Lacan selbst gegangen, der in ihm „le con des cons, le plus con de tous, et même le seul con intégral“[6] erkennt. Die lustvolle Infamisierung Agathons verrät einen auffällig destruktiven Trieb, der sich gerade auf die Figur richtet, die Sokrates am nächsten und am entferntesten zugleich zu sein scheint: am entferntesten, weil Agathons sorgfältig bereitete Wortspiele den sophistisch inspirierten Kontrapunkt zu der sokratischen Rede markieren, am nächsten, weil Sokrates nichts anderes im Sinn hat, als dem im Symposion in der privilegierten Figur des Gastgebers auftretenden Agathon so nah wie möglich auf den Leib zu rücken.

So beginnt das Symposion bereits mit einem Geplänkel um die Gunst, wer seinen Platz neben Agathon einrichten darf: „Hierher, Sokrates, lege dich zu mir, damit ich durch deine Nähe auch mein Teil bekomme von der Weisheit, die sich dir dort gestellt hat im Vorhof“ (Symp. 175d), fordert Agathon Sokrates eingangs auf, um sich ironisch im wörtlichen Sinne als Parasitdarzustellen, der neben dem Gott sitzt und der dessen Weisheit abzuschöpfen sucht.[7] Wo Agathon der Weisheit des Sokrates zu bedürfen scheint, da stellt sich umgekehrt die Macht der Rede, über die Agathon verfügt, als Bedrohung für Sokrates heraus. So vergleicht Sokrates die Wirkung, die von Agathons Rede ausgeht, im Rahmen seiner Kritik der Sophistik zunächst mit der des Gorgias, dann aber in einer wiederum ironischen Wendung mit der des Medusenhaupts, der Gorgo: „Mir wird bange, Agathon möchte das Gorgische Haupt, das gewaltige im Reden, am Ende seiner Reden gegen meine Rede loslassen und mich selbst zum Steine verstummen machen.“ (Symp. 197c) Sokrates’ seltsam ungelenk anmutende Verknüpfung der Namen von Gorgias und Gorgo zielt nicht nur darauf ab, Agathon als monströse Figur des unwissenden Sophisten bloßzustellen.[8] In ihr äußert sich darüber hinaus die archaisch anmutende Angst vor einer weiblichen Ursprungsmacht, verkörpert durch die Medusa, die in der mythischen Überlieferung als Mutter des Pegasus nicht zufällig auch am Ursprung der Dichtung steht.[9] Mit dem unvermittelten Vergleich zwischen Agathon, Gorgias und der Medusa gibt sich die sokratische Position als der Versuch zu erkennen, im symbolischen Wettstreit zwischen Athene und Medusa und im Anschluss an das mythische Vorbild des Perseus einen philosophischen Schutzschild gegen die unheimliche Macht der Dichtung zu errichten, die der bei den Spielen erfolgreiche Tragödiendichter Agathon wie kein anderer verkörpert.

Vor diesem Hintergrund stellt sich allerdings zugleich die Frage, was an der Rede des Agathon so anstößig ist, dass es Sokrates’ Unwillen erregen kann. Denn wer von dem Tragödiendichter Agathon eine Rede über die zerstörerische Wirkung der Liebe erwarten würde, wie sie das Epos oder die Tragödie vor Augen führen, wird enttäuscht. Von allen Reden des Symposions ist die des Agathon vielmehr diejenige, die zu einem uneingeschränkten Lob des Eros findet. Für Agathon ist Eros schlicht der glückseligste unter den Göttern, „weil der schönste und beste.“ (Symp. 195a) Jung und schön wie Agathon selbst sei Eros – kein Wunder, das die Forschung kritisch auf das narzisstische Selbstbildnis reagiert hat, das Agathon ganz unverblümt zu präsentieren scheint.

Agathon erkennt in Eros nicht nur den jüngsten und schönsten Gott, sondern auch den, dem sich jeder freiwillig unterwirft. Die Herrschaft des Eros, so Agathon, ist völlig gewaltfrei: „denn Gewalt trifft den Eros nicht.“ (Symp. 196b) Als gewaltfreie Herrschaft aber sei die des Eros zugleich ein Paradigma der Gerechtigkeit. Mit der Idee, dass die Herrschaft des Eros gewaltfrei sei, zielt Agathon zugleich auf einen weiteren Punkt, mit dem er seine Rede beschließt. Es ist die These, dass Eros sich am Ursprung der Dichtkunst befinde. „Jeder wenigstens wird ein Dichter, wär’ er auch den Musen fremd vorher, den Eros trifft.“ (Symp. 196e) Agathon spricht Eros als den eigentlichen Urheber aller Künste an. Darum habe Eros auch als Gott der Dichtkunst zu gelten, denn die Liebe zum Schönen, die am Ursprung alles Guten stehe, finde in der Dichtung ihr vollkommenes Echo. Mit einer großen rhetorischen Geste, einer enumeratio aller Leistungen des dichterischen Eros, beendet Agathon seine Rede, um zugleich darauf hinzuweisen, dass sie selbst sich nichts anderem als der dichterischen Kraft des Eros verdanke: „Diese Rede, sprach er, o Phaidros, sei von mir dem Gotte dargebracht, teils Spiel enthaltend, teils auch ziemlichen Ernst nach bestem Vermögen.“ (Symp. 197e)

Die leichtfüßige Verbindung von Spiel und Ernst, mit der Agathon seine Rede beschließt, weist auf die doppelte Stoßrichtung seiner Rede hin. Ihre Schönheit verdankt sich der rhetorischen Kunstfertigkeit des Dichters, der das Lob des Eros so weit steigert, dass die Liebe zum Schönen am Ursprung aller erstrebenswerten Güter und Techniken stehe. Es ist gerade diese poetische Fertigkeit, die im Mittelpunkt der philosophischen Kritik Agathons, „the criticism of a speech in which style had triumphed over content“[10], gestanden hat. Die Kritik steht aber in einer erstaunlichen Übereinstimmung mit den Intentionen Agathons, für den die dichterische Rede Schönheit und Wahrheit zu vereinbaren hat. Agathon trifft damit eine zentrale Aussage über das Wesen der Dichtkunst, die er zugleich rhetorisch umsetzt: Dichtung ist für ihn in einem ganz grundsätzlichen Sinne eine erotisierte Form der Rede, eine Rede, die den Eros nicht auf einen Gegenstand der Welt, sondern auf dessen sprachliche Nennung bezieht: „Agathons metrisch ausgefeilte Wortkaskaden sind im Symposion das einzige Beispiel eines Eros, der sich auf die Gestalt der Sprache richtet. Vielleicht ist es das, was Sokrates erstarren lässt“[11], kommentiert Martin von Koppenfels. Dichtung ist Übertragung des Eros auf die Sprache, so lautet die zentrale These von Agathon.

Mit der Bestimmung der Dichtung als erotisierter Rede verbindet Agathon darüber hinaus einen Gedanken, der erst in der anschließenden Rede des Sokrates seine volle Tragweite erweisen wird: die Tatsache, dass das erotische Begehren immer Begehren von etwas ist. „Agathon incidentially introduces what will become a crucial idea: erôs must be erôs for something.“[12] Agathon geht davon aus, dass der Eros, um es in der Sprache der Phänomenologie zu sagen, intentional ist: Das Begehren ist immer auf einen Gegenstand bezogen, der sich erst durch es konstituiert. Und noch in einem weiteren Sinne verpflichtet sich Agathon der Intentionalität des Begehrens: Er meint, dass der dem Begehren zugrundeliegende Gegenstandsbezug als eine Form der Erfüllung zu verstehen sei und Eros selbst die Erfüllung aller Qualitäten ist, die dem begehrten Gegenstand zukommen. Es ist diese poetische Idee einer geradezu universell vom Geist des Eros erfüllten Welt, gegen die sich Sokrates in seiner Rede zur Wehr setzt. Seine Strategie besteht zunächst in einer förmlichen Widerlegung der Position des Agathon, die an die frühen Streitgespräche mit den Sophisten anknüpft, und der darauf aufbauenden These, dass die Intentionalität der Liebe nicht durch Erfüllung, sondern durch Abwesenheit bestimmt sei – kein Wunder, dass Lacan sein Vorbild nicht in Agathon, sondern in Sokrates sieht.

Sokrates setzt in seiner Widerlegung des Agathon dementsprechend bei dessen zentraler These, der Intentionalität der Liebe, an, um diese zugleich in Frage zu stellen: „ist sie Liebe von nichts oder etwas?“ (Symp. 199e), so lautet die einfache Frage, die Sokrates an Agathon stellt. Dieser hatte den Eros auf scheinbar selbstverständliche Weise als Liebe von etwas dargestellt, so dass allen Formen des erotischen Begehrens ein eigener Gegenstandsbezug innewohnt. Die Argumentation des Sokrates besteht in der schrittweisen Widerlegung dieser Auffassung. Seiner Meinung zufolge ist Liebe nicht Liebe von etwas, sondern Liebe von etwas, das der Liebende nicht besitzt, also Liebe von nichts. Sokrates verbindet seine erste daher mit einer zweiten Frage: „ob die Liebe das, dessen Liebe sie ist, begehrt oder nicht?“ (Symp. 200a) Agathon hatte Liebe als eine unmittelbare Form der erotischen Erfüllung verstanden, die sich auf alle Dinge beziehen kann, auf den körperlichen Vollzug der Liebe wie die Dichtung als Erotisierung der Welt gleichermaßen. Wenn Sokrates die Frage nach dem Begehren in die nach dem Eros einführt, dann stellt er die Frage nach dem Gegenstandsbezug der Liebe neu. Er erweitert die Fragestellung daher um eine dritte: „Und ob sie wohl schon habend, was sie begehrt und liebt, es begehrt und liebt oder es nicht habend?“ (Symp. 200a) Es ist die Antwort auf diese dritte Frage, die die entscheidende Differenz zwischen Sokrates und Agathon markiert. Denn Sokrates zufolge verkörpert der Eros ein Begehren, das sich auf einen Gegenstand richtet, über den der Begehrende selbst nicht verfügt. Agathons poetischem Lob erotischer Fülle begegnet Sokrates mit der spröden These von der Negativität des Begehrens im Zeichen des Mangels, in der Lacan zugleich den Ursprung der Psychoanalyse erkennen wollte. Sokrates gibt daher ein grundsätzlich anderes Bild des Eros als Agathon. Der sokratische Eros ist nicht schön, sondern selbst der Schönheit bedürftig. Damit ist die Rede des Agathon formal widerlegt. Was ihr bleibt, ist ein schönes Nichts, das Geplänkel der sprachlichen Gestaltung.

Die Konsequenzen, die Lacan in seinem Seminar aus der sokratischen Widerlegung Agathons zieht, beziehen sich nicht allein auf den philosophischen Gehalt beider Reden, sondern auf die gattungspoetischen Folgen, die sich aus ihnen ergeben. Die sokratische Argumentation begreift Lacan als eine Widerlegung nicht allein des Agathon, sondern der Tragödie überhaupt, zugleich aber als eine Selbstwiderlegung der Philosophie, der allein die Komödie gerecht werden könne. Auf den philosophischen Sieg der Wahrheit über die Tragödie und Komödie, den Platon im Symposion inszeniert, reagiert Lacan mit einer Volte ins Komische, die sowohl die Thesen als auch die sprachliche Gestaltung des Seminars kennzeichnet. Im Unterschied zum tragischen Dummkopf, den er in Agathon zu erkennen meint, will Lacan kein Trottel der Philosophie sein, sondern ihr burlesker Clown, derjenige, der dem Diskurs der Philosophie nicht auf den Leim geht, sondern diesen selbst in all seiner Lächerlichkeit bloßstellt.

Lacans Lektüre lässt sich von zwei komplementären Thesen leiten. Die erste geht davon aus, „que l’amour est un sentiment comique“[13], die zweite fügt dem hinzu, „que l’amour, c’est de donner ce qu’on n’a pas.“[14] Beide Thesen, formuliert in der Form von Sentenzen, die den Analytiker in eine gefährliche Nähe zu den inkriminierten Sophisten rückt, sind eng miteinander verknüpft. Ein komisches Gefühl ist die Liebe, da der Liebende sich von einem Gefühl überwältigen lässt, das nicht er, sondern das ihn kontrolliert. Lacan geht so in seinem Seminar auf Distanz zur Liebe und den mit ihr einhergehenden Verdummungsprozessen, um zugleich die Frage zu stellen, wie sich das Begehren des Analytikers von der Dummheit der Liebe lösen lässt. Den Grund für die jederzeit ins Komische abdriftende Dummheit der Liebe, die sich aus dem Symposion entnehmen lässt, ist die Einsicht in die Negativität des Begehrens, die schon Sokrates in seinen Ausführungen formulierte. Der Liebende ist für Lacan ein Subjekt des Begehrens, das Begehren aber auf einen unaufhebbaren Mangel ausgerichtet, auf das fehlende Objekt, das nur in seiner Abwesenheit zum Gegenstand des Begehrens werden kann. Die Komödie der Liebe beruhe auf der schlichten Tatsache, dass der Liebende in dem Geliebten zwar das vermutet, was ihm zur Erfüllung fehlt, dieser darüber aber gar nicht verfüge: „Ce qui manque à l’un n’est pas de ce qu’il y a, caché, dans l’autre. C’est là tout le problème de l’amour.“[15] Lacan begreift die Liebe als eine komische Szene, die einen Betrug vor Augen führt, den keiner der Beteiligten erkennt, sondern nur der Zuschauer – in diesem Fall der Analytiker, der sich in seiner therapeutischen Arbeit Tag für Tag mit den Fallstricken der Liebe im Zeichen der Übertragung auseinandersetzen muss.

2. Von der Komödie zur Tragödie der Liebe. Shakespeares „Romeo and Juliet“

Wenn Liebe im Wesentlichen „un sentiment comique“[16] ist, wie Lacan meint, dann entzieht sie sich der gattungspoetischen Form der Tragödie, für die im Symposion Agathon einstand. Dementsprechend gibt es auch keine antike Tragödie, in der, so wenig wie im Epos, das Gefühl der Liebe als solches im Mittelpunkt stünde. Es ist erst Shakespeare, der das Thema der Liebe tragödienfähig gemacht hat. Romeo and Juliet ist die erste Tragödie der Liebe und sie ist, wie im Folgenden auszuführen sein wird, in gewisser Weise auch die einzige geblieben, neben dem Tristan-Stoff im höfischen Roman die Matrix all dessen, was bis heute mit dem Thema der Liebe verbunden wird. In ihr erscheint die Liebe nicht als ein zerstörerischer Affekt, der den Menschen überwältigt, sondern als ein umfassendes Gefühl, das die Einstellung der Liebenden zu sich und zur Welt für immer verändert. Aber noch etwas anderes verändert sich durch Shakespeares Begründung der Liebe: die Sprache. Sie entfernt sich von den überlieferten poetischen Konventionen und gewinnt eine Eigenmacht, die ganz aus der neuen Erfahrung der Liebe hervorgeht.

Dennoch sind auch Shakespeares Inaugurierung einer neuen Sprache der Liebe in der Tragödie enge Grenzen gesetzt. Auch wenn Shakespeare mit Romeo and Juliet die Tragödie der Liebe schlechthin erschaffen hat: In Übereinstimmung mit Lacans Formel vom komischen Gefühl ist Liebe für Shakespeare zunächst und vor allem ein genuines Thema der Komödie, wie As you like it, A Midsummer Night’s Dream oder Love’s Labours Lost eindrucksvoll zeigen. „In either aspect, positive or negative, comedy can become the ground from which, or against which, tragedy develops“[17], stellt Susan Snyder vor diesem Hintergrund fest. Die Komödie steht in dieser Funktion allerdings nicht allein. Vielmehr markiert die durch den Petrarkismus überlieferte Sprache des Sonetts einen zweiten Referenzpunkt, in den sich Shakespeares Darstellung der Liebe in Romeo and Juliet einschreibt.

Dass Shakespeare sich in Romeo and Juliet auf die von Petrarca vorgegebenen Gesetze der dichterischen Sprache der Liebe einlässt, zeigt schon der vorgeschaltete Prolog, der den Chor auftreten lässt. In der Form des Sonetts steht „death-marked love“[18] am Beginn wie am Ende der Tragödie. Immer wieder flicht Shakespeare Sonette in seine Tragödie ein, um die petrarkistische Sprache der Liebe aufzunehmen und zugleich zu travestieren. Inge Lemberg hat festgestellt, „daß die Sonettdichtung sowohl für die Motivik wie für die Stilmittel von Romeo and Juliet eine wesentliche literaturhistorische Grundlage bildet.“[19] Dass die Liebe, die in Romeo and Juliet zum Gegenstand der Darstellung wird, darüber hinaus von Beginn an vom Tod gezeichnet ist, nimmt die Dialektik von Liebe und Tod auf, die Platon im Symposion angedeutet und Freud in Jenseits des Lustprinzips weiter ausgeführt hat.

Dem Doppel von Tod und Liebe entsprechend begleiten Trauer und Klage die Tragödie der Liebe. So erscheint Romeo zu Beginn des Dramas als Inbegriff des Melancholikers, der sich in seiner dunklen Seele „an artificial night“ (I/1.138) kreiert. Ein Bruder Hamlets im Geiste, kennt der Prinz nur das Schwarz der Nacht. Der Grund seiner Trauer ist unerfüllte Liebe: „Not having that which, having, makes them short“ (I/1.162), sei der Anlass seines Leidens. Die Negativität des Begehrens, die das Symposion so nachdrücklich herausgestellt hatte, bestimmt auch die Erfahrung, die Romeo mit der Liebe macht. Dass, was er begehrt, besitzt er nicht. Gerade die von ihm so offen zur Schau gestellte Trauer über diesen Umstand aber wird bei Shakespeare zum Gegenstand des Spottes. Die Klage über Romeos Unglück bleibt sprachlich ganz im Bereich des Konventionellen. Seine Darstellung erfolgt in der für den Petrarkismus typischen Metaphorik des Sehens. Das Auge des Liebenden richtet sich auf die Geliebte, vermag sie jedoch nicht zu erfassen: „Love is a smoke made with the fume of sighs; / Being purged, a fire sparkling in lovers’ eyes“ (I/1.188-189). Immer wieder findet Romeo schöne Sentenzen, um sein Unglück zu beklagen. Seinen Freunden geht er damit allmählich auf die Nerven. Allzu berechenbar ist seine Klage um die Sprödheit der Geliebten.

Vor dem Hintergrund der leidvollen Erfahrungen, die die Freunde mit dem unglücklichen Romeo machen, ersinnt der gewitzte Benvolio einen Therapievorschlag. Um die spröde Geliebte zu vergessen, soll Romeo sich andere Frauen anschauen, die Augen von dem Anblick der schönen Angebeteten kurieren. Benvolio folgt dem Ratschlag Ovids: Wenn Liebe eine Kunst ist, die gelernt sein will, dann können aus der gleichen Hand auch die Heilmittel gegen die Liebe erlernt werden: „Kommt hört meine Lehren, ihr jungen betrogenen Männer, / die ihr Liebesbegehrn täuschte auf jegliche Art. / Lernt zu gesunden durch ihn, durch den zu lieben ihr lerntet; eine Hand bringt euch Wunde und Hilfe zugleich“[20], heißt es einleitend in den Remedia amoris. Nur auf den ersten Blick irritierend scheint vor diesem Hintergrund zu sein, dass Romeo zu Beginn des Dramas unheilbar verschossen in eine Dame namens Rosaline ist. Noch unmittelbar vor dem Fest der Capulets, wo er Julia das erste Mal begegnet, rühmt er ihre Schönheit: „One fairer than my love! The all-seeing sun / N’er saw her match since first the world begun.“ (I/2.93-94) Ganz im Zeichen des Petrarkismus vergleicht er Rosaline mit dem Anblick der Sonne, die ihn blendet. Der unvermittelte Sprung von Rosaline zu Juliet schreibt sich in eine Logik ein, die zunächst Ovids rhetorischer Kunstform der Liebe verpflichtet zu sein scheint, sich dann aber unvorhergesehen verselbständigt. Die tragische Ironie des Stücks liegt in der Tatsache beschlossen, dass die Kur nur allzu gut gelingt, dass Romeo mit Juliet auf jemanden trifft, der den Substitutionsprozessen der konventionellen Liebe nicht unterworfen sein will. In Juliet entdeckt Romeo etwas, das er vorher nicht kannte, die Singularität einer Liebe, die durch nichts zu ersetzen ist, es sei denn durch den Tod, der noch über die Liebe und das Leben hinausreicht. Er entdeckt darüber hinaus aber noch etwas anderes, nämlich eine neue Sprache der Liebe, die im Mittelpunkt der Tragödie steht.

Julia verwandelt Benvolios Liebeskur so in eine Sprachkur. Sie bezieht sich auf die vertrauten Vorgaben der petrarkistischen Liebesdichtung: In Julia ruft Romeo das Licht und die Sonne an, die ihn erwärmen, wie er es bereits im Fall Rosalines getan hatte. „But soft, what light through yonder window breaks? / It is east and Juliet is the sun.“ (II/2.2-3) Romeos Rede gehorcht wiederum einer konventionelle Liebestopik: Augen, Himmel und Sterne ruft der geblendete Liebhaber auf, um seine Julia in der gebotenen Distanz zu beschreiben. Auf seine kunstvolle und nicht eben kurze Rede erwidert Julia nur ein einziges Wort: „Ay me!“ (II/2.25) Was Julia Romeo zu verstehen gibt, ist die simple Tatsache, dass sie sich von ihm nicht angesprochen fühlt. Sie fordert ihn daher dazu auf, seine Sprache zu ändern. Die Offenbarung der wechselseitigen Liebe geschieht im Zeichen eines Bruchs mit den sprachlichen Konventionen, den Juliet vollzieht, indem sie ihre Liebe zu Romeo gesteht. In das Bild der spröden Laura Petrarkas fügt sie sich nicht ein. Sie will nicht angesungen werden, um sich dann doch nicht zu ergeben, lieber schon sich gleich ergeben, wenn nur anders zu ihr und von ihr gesprochen wird. So weist sie Romeos allzu gefälligen Schwur an den Mond entrüstet zurück: „Do not swear at all, / Or if though wilt, swear by thy gracious self, / Which is the god of my idolatry, / And I’ll belief thee.“ (II/2.112-115) Julias Ideal der Liebe findet seinen Ausdruck in der Geburt des „gracious self“ als dem eigentlichen Gegenstand der dichterischen Sprache im Zeichen der Liebe. Dieses gracious self ist nicht allein der Gegenstand der wechselseitigen Anbetung der Liebenden, sondern zugleich ein Gegenentwurf zu dem sokratischen Götterbild, das Alkibiades in den Bann geschlagen hat. Denn im Unterschied zum agalma, das Alkibiades im Symposion als fetischisierende Substitution eines unaufhebbaren Mangels einführt, ist das gracious self unmittelbare körperliche Präsenz und zugleich Geburt eines neuen Selbst durch den Eros. In der Liebe, die Julia ihm sprachlich aufdrängt, ist Romeo nicht allein auf sie, sondern zugleich auf sich selbst zurückgeworfen. Erst durch Julia wird er zu einem unverwechselbaren Ich im emphatischen Sinne: Romeo ist der einzige und unersetzbare Gegenstand ihrer Idolatrie, ein Bild, in das dieser sich erst einfügen muss, indem er die gebotene Distanz zur Geliebten aufgibt. Die Liebe erfolgt aus einem radikalen Bruch mit der Konvention. Die Szene endet dementsprechend auch mit einem Heiratsversprechen, das nicht der Mann der Frau, sondern Julia Romeo gibt.

Auch die Hochzeit erfolgt in einem Reich, das sich außerhalb der überlieferten Formen der Konvention befindet. Das betrifft nicht nur die heimliche Zeremonie, aus der die Familie ausgeschlossen ist, sondern auch die neue Sprache der Liebe: „Conceit more rich in matter than in words / Brags of his substance, not of ornament.“ (II/6.30-31) Shakespeares rhetorisch versierte Kritik der Rhetorik errichtet eine neue Poetik des Gefühls. An die Stelle der Wörter treten die Dinge, an die des sprachlichen Ornats die Substanz der Liebe, die sich in der Eheschließung erfüllen soll. Das Eheglück ist zwar nur von kurzer Dauer. Durch die allzu frühe Trennung von ihrem Mann gewinnt Julias Sprache der Liebe jedoch zugleich eine neue Qualität. „Come gentle night, come loving black-browed night, / Give me my Romeo and when I shall die / Take him and cut him out in little stars, / And he will make the face of heaven so fine / That all the world will be in love with night / And pay no worship to the garish sun.“ (III/2.20-25) Die neue Sprache der Liebe arbeitet mit den gleichen Elementen wie die alte. Sie ruft die Sterne und den Himmel und mit ihnen eine ganze Kosmologie an. In der neuen kosmologischen Ordnung wird die Sonne aber durch die Nacht ersetzt. Wie im mythischen Beispiel des Orpheus, auf das sich schon Phaidros im Symposion bezogen hatte, verbindet sich Liebe mit Trauer und gewinnt so eine neue Ausdruckskraft. Anders als im Mythos um Orpheus aber ist es die Frau, die hier die aktive Rolle übernimmt. Julia begehrt Romeo, und sie will nicht nur seine unsterbliche Seele, sondern seinen ganz und gar diesseitigen Körper. Ihr Begehren ist auf den abwesenden Romeo gerichtet, diese Abwesenheit aber ist kein struktureller Mangel, sondern Intensivierung der Präsenz des Gefühls der Liebe.

Damit kehrt Shakespeare die Negativität des Begehrens um, die Sokrates dem Eros unterstellt hat. Sokrates hatte Agathons Übertragung des Eros auf die Sprache auf spektakuläre Weise unterbrochen, um sich selbst ins Zentrum des erotischen Begehrens zu stellen, das im Symposion im Zeichen der Negativität zur Verhandlung steht. Julias Begehren geschieht unter umgekehrten Vorzeichen. Zwar ist der Gegenstand ihres Begehrens der abwesende Romeo. Julia aber begehrt ihn nicht, weil sie ihn nicht haben kann, sie trauert nur, dass sich ihr Begehren nicht auf der Stelle im Hier und Jetzt erfüllen lässt. Ihre Übertragung richtet sich nicht auf die Leerstelle, die Sokrates unter Berufung auf seine Lehrerin in Sachen Liebe Diotima scheinbar unaufhebbar in das Begehren eingezeichnet hat, sie richtet sich auf den begehrten Körper, der momentan entzogen bleibt, gerade darin aber ihre Liebe über die Trennung hinaus bestätigt. Die räumliche Distanz zwischen Romeo und Julia lässt das Begehren nur wachsen, richtet es darüber hinaus aber auf Erfüllung, nicht auf Leere und Mangel aus. Vom Eros besessen, geraten Romeo und Julia außer sich. Lorenzo erkennt in Romeo daher auch nur noch einen „mad man“ (III/3.52). In Romeo and Juliet ist Liebe Wahnsinn, ein Wahnsinn aber, der nicht zum Gegenstand der philosophischen Kritik wird, sondern eine Form der mania verkörpert, die an Agathons Ideal einer vom Eros beseelten Welt erinnert.

Ihre Erfüllung findet die Liebe – nicht anders als im Othello – in einer einzigen Brautnacht. Sie bleibt im Text ausgespart. In der wiederum durch die Tradition vermittelten Form der Aubade berichtet Shakespeare nur von dem Danach. Die letzte Begegnung von Romeo und Julia im Leben erfolgt so im doppelten Zeichen von Liebe und Trennung, dem nur noch der Tod folgt. Shakespeare ruft die Tradition des Morgenliedes auf, um der ganz und gar erfüllten Liebe wie der Notwendigkeit der Trennung Rechnung zu tragen: Der Liebhaber muss die Geliebte verlassen, beide zögern den Abschied bis zum Letzten heraus. In diesem Fall hält sich Shakespeare an die geschlechterpolitischen Konventionen: Julia bittet Romeo, noch zu bleiben, Romeo aber folgt ‚männlich’ der Notwendigkeit des Abschiedes, von dem beide noch nicht wissen, dass es einer für immer ist. Missgestimmt, „out of tune“ (III/5.27) wie die ungeliebte Lerche, beginnt der Tag mit der unvermeidlichen Trennung vom Geliebten, die die sprachliche Form der Aubade fordert. Die Trennung steht jedoch nicht nur im Zentrum des Morgenliedes, das Romeo und Julia im Duett anstimmen, sondern weitet sich zum Vorgriff auf das traurige Ende aus. Als sie sich das nächste Mal sehen, ist Romeo tot, weil er Julia tot gesehen hat.

Angesichts der wenig vielversprechenden Ausgangssituation ihrer Liebe ist Julia schon früh von Todesahnungen erfüllt. „Methinks I see thee now thou art so low, / As one dead in the bottom of a tomb. / Either my eyesight fails, or thou look’st pale.“ (III/5.55-57) Vor ihrem inneren Auge wölbt sich das Grab, in dem sie ihre letzte Ruhestelle finden soll. Der Saft, den der Mönch Lorenzo Julia gibt, damit sie in einen todesähnlichen Schlaf versinkt, nimmt so die doppelte Bedeutung von Gabe und Gift auf, die der Begriff des pharmakon bereithält, der, wie Jacques Derrida gezeigt hat, schon bei Platon eine große Rolle spielt.[21] Auch Romeo aber hat sich sein pharmakon beschafft: ein Gift von einem Apotheker im Tausch mit schnödem Gold. „Eyes, look your last; / Arms, take your last embrace, and lips, O you / The doors of breath, seal with a righteous kiss/ A dateless bargain to engrossing death. / Come, bitter conduct, come unsavoury guide. / Though desperate pilot now at once run on / The dashing rocks thy seasick weary bark. / Here’s to my love.“ (V/3.112-119). Sein Selbstmord ist eine letzte Liebeserklärung an Julia, die Möglichkeit, ihr zu zeigen, dass er sie mehr liebt als das eigene Leben. Das Erstaunliche ist, dass seine Botschaft ankommt. Noch im Tod erreicht sein Liebesgruß die Angebetete, die die unverhoffte Gelegenheit ergreift, um seinen Gruß zu erwidern. Sie drückt dem Toten einen letzten Kuss auf den Mund, um das gleiche Gift zu trinken wie er: „O Churl! A cup clos’d in my true love’s hand? / Poison, I see, hath been his timeless end. / O churl. Drunk all and left no friendly drop / To help me after? I will kiss thy lips.“ (V/3.162-164) In ihrem Abschiedsgruß an Romeo verschmelzen Eros und Tod bis zur Ununterscheidbarkeit. Der Kuss allein bringt den erhofften Tod jedoch nicht. Verzweifelt, aber entschlossen wie schon zu Beginn des Dramas, ersticht Julia sich und hinterlässt so eine barocke Szenerie voller Leichen: Paris, Romeo und sie selbst liegen als körperliche Reste auf der Bühne verstreut, ein stummer Vorwurf an die Überlebenden. Als Sühnegaben stiften die hilflosen Väter ein goldenes Denkmal der Geliebten.

Die Liebe zwischen Romeo und Julia findet so ihre Erfüllung im Tod – eine Lösung, die Goethes Werther in monologischer Form aufnehmen wird. Die Gruft ist zugleich die Krypta des Geheimnisses, das Romeo und Julia aneinander bindet und den Eltern erst posthum in einem Brief offenbart wird. Der kryptische Raum des Todes, in dem der letzte Kuss stattfindet, ist dem Eros jedoch nicht einfach entgegengesetzt. In ihm findet die Übertragung einen letzten möglichen Adressaten. Der Tod wird zum Gegenstand eines Begehrens, das die Liebenden über sich und das Leben hinausträgt. Shakespeare bestätigt so, was schon Agathon in seiner Lobrede auf den Eros vorgebracht hatte: Eros, nicht Thanatos, ist der mächtigste aller Götter. Seine Allmacht erstreckt sich noch auf den Tod, der die Liebe zwar unterbricht, zugleich aber für immer in den nächtlichen Sternenhimmel einschreibt, der dem von Kerzen erleuchteten Grabgewölbe korrespondiert. In Romeo and Juliet hat Shakespeare einen Mythos der Liebe geschaffen, der eine Dauer verspricht, die über den Tod hinweg andauert.

3. Nach Shakespeare. Freud und der Eros

Shakespeare hat in Romeo and Juliet die Grundlagen für die moderne Sprache der Liebe geschaffen. Nicht nur Goethe ist ihm in seinen frühen Gedichten und dem Werther gefolgt. Die Übertragungsleistung, die der Sprache der Liebe zugrunde liegt, hat in der Moderne ein breites Echos gefunden, und das nicht von ungefähr in dem sprachlichem Medium, das dem Begriff der Übertragung vielleicht am nächsten steht: dem Brief. Von Klopstock und Meta Moller über Goethe und Charlotte von Stein, von Kleist und Wilhelmine von Zenge bis zu Kafka und Felice Bauer ziehen sich die Übertragungsketten, die die Sprache der Liebe errichtet. Noch Freud partizipiert in seinen Brautbriefen an dieser Tradition. So ist es auch kein Wunder, dass gerade der Shakespeare-Bewunderer Freud sich in seinem Werk immer wieder mit dem Thema der Liebe und dem Problem ihrer Versprachlichung auseinandergesetzt hat.

Freud entwickelt aber eine andere, weniger empfindsame Begrifflichkeit als seine Vorgänger: „Wir gebrauchen das Wort Sexualität in demselben umfassenden Sinne, wie die deutsche Sprache das Wort ‚lieben‘.“[22] (VIII 120) Die Ersetzung des romantischen Terminus ‚Liebe’ durch den der Sexualität bedeutet einen ersten Schritt zur Demystifizierung des Begriffes. Durch die Erweiterung des Wortes Sexualität auf alle libidinösen Bindungen des Menschen erotisiert Freud die Welt zwar. Anders als Agathon im Symposion aber poetisiert er sie nicht. Freuds Auffassung ist in diesem Punkt der des Aristophanes näher: Er geht wie dieser von einer ursprünglichen Bisexualität aus und unterstreicht in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie im unmittelbaren Rekurs auf das Symposion, „die poetische Fabel von der Teilung des Menschen in zwei Hälften – Mann und Weib –, die sich in der Liebe wieder zu vereinigen streben“ (V 34), sei die schönste Entsprechung der populären Theorie des Geschlechtstriebes. In seiner nüchternen Darstellung der Sexualität aber entspricht seine Position am ehesten der des Arztes Eryximachos, der Aristophanes von seinem Schluckauf heilt. In der Begrifflichkeit des Platonischen Symposions ist Freud kein poetischer Erotiker wie Agathon, aber auch kein philosophischer Erotiker wie Sokrates, und erst recht kein Komiker wie Lacan. Ihn beseelt das nüchterne Pathos der Wissenschaft. Dieses aber bestehe in einer möglichst vollkommen Lösung von jeder unmittelbaren Lusterfüllung. Das unterscheidet die Psychoanalyse Freuds Selbstverständnis zufolge sowohl von der Dichtung als auch von der Philosophie: „Die Wissenschaft ist eben die vollkommenste Lossagung vom Lustprinzip, die unserer psychischen Arbeit möglich ist.“ (VIII 67) Die Wissenschaft beruht auf einer Lossagung vom Eros, die sich selbst dem Eros des Wissens verdankt, dem schon Sokrates im Symposion nachgegangen war – in dieser paradoxen Formel lässt sich die psychoanalytische Auffassung der Erotik zusammenfassen. Eine vollkommene Loslösung vom Eros scheint auf diese Weise zwar nicht möglich zu sein. Die harte Arbeit der Wissenschaft ist das Äußerste, was dem Menschen gegeben ist. Freud, nicht umsonst auch ein großer Liebhaber Goethes, entwirft ein heroisches Bild der Psychoanalyse als einer Wissenschaft der Entsagung.

Anmerkung der Redaktion: Die Beobachtungen, Analysen, Reflexionen und Thesen dieses Essays hat Achim Geisenhanslüke in seinem kürzlich erschienenen Buch „Die Sprache der Liebe. Figurationen der Übertragung von Platon zu Lacan“ (Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016) erweitert und vertieft.

Anmerkungen

[1] Jaques Lacan, Le Séminaire. Livre VIII. Le transfert. 1960-61, Paris 2001, S. 12.

[2] Vgl. Aristoteles, Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, 1457b.

[3] Rainer Thiel, Irrtum und Wahrheitsfindung. Überlegungen zur Argumentationsstruktur des platonischen Symposions, in: Stefan Matuschek (Hg.): Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposion und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne, Heidelberg 2002, S. 5-16, hier S. 13.

[4] Richard Hunter, Plato’s Symposium, Oxford 2004, S. 71.

[5] Ebd., S. 72.

[6] Jacques Lacan, Le séminaire. Livre VIII. Le transfert, S. 464.

[7] Zum Zusammenhang von Gast und Parasit vgl. Manfred Schneider, Der Jude als Gast, in: Peter Friedrich/Rolf Parr (Hg.): Gastlichkeit. Erkundung einer Schwellensituation, Heidelberg 2009, S. 49-69. Schneider, der sich in seiner Analyse kritisch mit Michel Serres’ Untersuchung zum Parasiten auseinandersetzt, führt das zusammengesetzte Wort Para-sitos auf die archaische Sitte zurück, als die Opfernden mit den Göttern speisten, wie Athenaios im Gelehrtenmahl berichtet. Ebd., S. 59f.

[8] „The Gorgias/Gorgon Head in the middle of the dialogue, then, is an integral part of the sympotic imagery in the rest of the dialogue“, so Elisabeth Belfiore, Poets at the Symposion, in: Pierre Destrée/Fritz Georg Herrmann (Hg.): Platon and the Poets, Leiden/Boston 2011, S. 155-174, hier S. 173.

[9] Vgl. die Darstellung der Geburt des Pegasus bei Hesiod, Theogonie. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Karl Albert, Sankt Augustin 1983, Vers 280-286.

[10] Ebd., S. 81.

[11] Martin von Koppenfels, Ein komisches Gefühl. Lacan als Leser des Symposion, in: Eckart Goebel/Elisabeth Bronfen (Hg.): Narziss und Eros. Bild oder Text?, Göttingen 2009, S. 269-295, hier S. 294f.

[12] Richard Hunter, Plato’s Symposium, S. 73.

[13] Jacques Lacan. Le Sémaire. Livre VIII. Le transfert, S. 46.

[14] Ebd.

[15] Ebd., S. 53.

[16] Ebd., S. 46

[17] Susan Snyder, The Comic Matrix of Shakespeare’s Tragedies. Romeo and Juliet, Hamlet, Othello, and King Lear, Princeton 1979, S. 5.

[18] William Shakespeare. The Arden Shakespeare. Third Series. Romeo and Julietz. Edited by René Weis, London/New York 2012, The Prologue, Vers 9.

[19] Inge Leimberg, Shakespeares ‚Romeo und Julia’. Von der Sonettdichtung zur Liebestragödie, München 1968, S. 209.

[20] Ovid, Remedia amoris. Heilmittel gegen die Liebe. Lateinisch/Deutsch, hrsg. und übers. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2011, Vers 41-46.

[21] Vgl. Jacques Derrida, La pharmacie de Platon, in: La dissémination, Paris 1972, S. 69-198.

[22] Alle Freud-Zitate beziehen sich auf die Ausgabe: Gesammelte Werke, hrsg. von Anna Freud, Frankfurt am Main 1999, in Klammern Angabe des Bandes in römischen und der Seitenzahl in arabischen Ziffern.

Titelbild

Achim Geisenhanslüke: Die Sprache der Liebe. Figurationen der Übertragung von Platon zu Lacan.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
220 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783770560400

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