Unter Wahrung des Briefgeheimnisses

Sigrid Weigel zu den Korrespondenzen Ingeborg Bachmanns

Von Christine KanzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Kanz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Parmesankäse führte sie auf die heiße Spur. Ingeborg Bachmann hatte ihn in Italien erstanden und dem Freund Peter Szondi übergeben. Der wiederum verspricht in einer Postkarte vom April 1968 an Gershom Scholem und dessen Frau Fania, den damals noch so kostbaren weil seltenen Käse nach Jerusalem weiterzuschicken. Solcherlei Partikelchen von Lebensspuren brachten Sigrid Weigel dazu, auch dem kulturtheoretischen Dialog Scholem - Bachmann noch intensiver nachzugehen. Schon länger hatte sie Korrespondenzen zwischen dem Werk Bachmanns und dem des jüdischen Denkers vermutet. Deshalb unternahm sie eine Reise nach Jerusalem - zum Nachlaß Scholems. Unter anderem fand sich hier ein Gedicht des jüdischen Philosophen an Bachmann vom Februar 1967 - eine verspätete Einrede gegen ihren Ghetto-Essay "Was ich in Rom sah und hörte" von 1955. Er muß ihn kurz nach ihrer Bekanntschaft in Rom am 10.1.1967 gelesen haben und fand ihn wohl eine Spur zu optimistisch. Denn er las aus ihm eine Hoffnung auf die messianische Erlösung ab, die es aus seiner Sicht nach dem Zivilisationsbruch der Shoah nicht mehr geben kann. Deshalb lautet die erste Zeile seines Gedichts an Bachmann auch: "Im Ghetto sahst du, was nicht jeder sieht". Denn die Shoah, so sieht es auch Weigel, bedeutete das Ende einer messianischen Rede, jeglichen Stillstand von Hoffnung.

Doch dies ist nur eine der Lebensspuren Bachmanns, die die Literaturwissenschaftlerin in so vielen Nachlässen suchen ließ. Wenn der Nachlaß Bachmanns gesperrt ist, so heißt das aus ihrer Sicht noch lange nicht, daß man nicht doch ihren unzähligen Korrespondenzen mit Schriftstellern, Philosophen, Intellektuellen nachspüren kann. Man muß sich dann eben an die der möglichen oder gesicherten Briefpartner Bachmanns halten. Manchmal hat man Glück und stößt auf Originalbriefe oder Postkarten der Autorin. Und wenn es ein ordentlicher Briefeschreiber war, dessen Nachlaß man gerade unter die Lupe genommen hat, dann gibt es sogar Durchschläge der Briefe an Bachmann. Wie bei Scholem etwa, in dessen Nachlaß in der Handschriftenabteilung der "Jewish National and University Library" in Jerusalem sich die Abschrift eines Gedichtes an Bachmann befindet, an jenes "Fräuleins" also, das sich für ihn bei einem von Adorno arrangierten Treffen in Rom im Januar 1967 als eine so "höchst interessante und interessierte philosophische Gesprächspartnerin entpuppte". Oder man entdeckt einen Brief an Siegfried Unseld, in dem Scholem seine Trauer über Bachmanns Tod im Oktober 1973 bekundet. Vor allem aber kann man aus Postkarten erfahren, wer sich wann und wo bei der Schriftstellerin aufgehalten hat. Daß sich Peter Szondi etwa im April 1968 mit ihr in Rom traf und sie gemeinsam eine Postkarte an Theodor W. Adorno geschrieben haben, geht aus einem Brief des Frankfurter Philosophen an Szondi vom 5. Mai 1968 hervor: "Unterdessen ist auch die Karte mit Ingeborg eingetrudelt, tausend Dank". Daß Bachmann mit Adorno ein so persönlicher Kontakt verband, untermauert die These von ihrer auch theoretischen Korrespondenz. Einige der Überlegungen Adornos schlagen sich in den Texten Bachmanns nieder, nicht nur in den "Todesarten", sondern auch in eher unbekannten kurzen Erzählungen wie etwa dem "Lächeln der Sphinx". Der Einfluß zentraler Gedanken der "Kritischen Theorie" auf Bachmanns Werk ist größer, als die Forschung bisher vermutete, die sich bis heute insbesondere auf die Wittgenstein-Rezeption Bachmanns oder ihre Auseinandersetzung mit Heidegger konzentriert. Dies kann Weigel anhand der vorgefundenen Schriftzeugnisse nun einmal mehr bestätigen.

Weigel hatte Glück bei ihren Archivbesuchen - und kann den Leserinnen und Lesern ihrer fulminanten Bachmann-Monographie daher neue Dialogspuren präsentieren. Neben Briefauszügen Scholems, Adornos, Unselds oder Hannah Arendts stellt sie zum Beispiel auch Bachmanns Korrespondenzen mit Alfred Andersch, Paul Celan, Wolfgang Hildesheimer, Uwe Johnson, Hermann Kesten oder Hans Werner Richter vor. Weigels Ziel ist deutlich: An die Stelle von besserwisserischen Zeitzeugen treten in diesem Buch Zeugnisse. Sie lassen das fein gestrickte Netz der vielfältigen und komplexen Lektürefäden, die das Werk Bachmanns durchziehen, erahnen.

Ein zentrales Ergebnis ist dabei einmal mehr die Bestätigung der These, daß Bachmann vor allem anderen eine große Intellektuelle war. Was einigen Männern ganz offensichtlich Mißbehagen bereitete. Etwa dem zeitweiligen Lebensgefährten und Schreibkonkurrenten Max Frisch, der dieses Unbehagen ausführlich in seinem autobiographischen Bekenntnistext "Montauk" beschreibt. Weigel weist die nicht plausibel zu begründende, innerhalb der Germanistik jedoch inzwischen verfestigte Behauptung, daß es vor allem Frischs Roman "Mein Name sei Gantenbein" sei, in dem der Schweizer Autor Privatangelegenheiten Ingeborg Bachmanns als literarisches Material mißbraucht habe, als unhaltbar zurück. Denn wirklich unverhüllte Anspielungen auf Bachmann gibt es nur in "Montauk". Und zweitens räumt sie mit dem 'Opfermythos Bachmann' auf. Fast nie, so Weigel, bemühen sich die zahlreichen Nachrufporträts der vor allem männlichen Schriftstellerkollegen und Literaturkritiker "um die Darstellung eines intellektuellen Profils der Autorin". Heinrich Bölls viel zitierter Ausspruch "Ich denke an sie wie an ein Mädchen" etwa ist da nur ein Beispiel von vielen. Für Weigel liegt insbesondere in dieser Verkennung das eigentliche Drama der begabten Schriftstellerin: "Die Bannung der Autorin in eine imaginäre Unschuld (im doppelten Sinne) ist Effekt der offensichtlichen Zumutung, Weiblichkeit und Intellektualität in einer Person zu begegnen. Wenn es eine Tragik der Arbeitsbedingungen Bachmanns gegeben hat, dann war es diejenige einer permanenten Konfrontation mit genau dieser Abwehr einer weiblichen Intellektualität im kulturellen Zusammenhang und die damit verbundene permanente Kränkung." Angst und daraus resultierend Abwehr oder Kritik, gelegentlich auch Degradierung statt Respekt brachten nicht wenige der Kollegen und Literaturkritiker ihr entgegen, einschließlich Walser, Johnson, Frisch, Baumgart oder Reich-Ranicki. Die naive, chaotische, unsichere, mädchenhafte Frau, kurz: die "Taschentuchfallenlasserin" (Demski) weckt Beschützerinstinkte, vielleicht Zuneigung - mehr nicht. Die an Intellektualität, Selbstreflexion und Belesenheit überlegene Schriftstellerkollegin dagegen bereitet eher Unbehagen.

Distanz zu wahren - das ist daher ein großes Anliegen, das Sigrid Weigel mit dieser Gesamtdarstellung des Werkes verfolgt. Nicht von ungefähr hatte Bachmann den Protagonisten in ihrer Erzählung "Das dreißigste Jahr" ausrufen lassen: "Abstand, oder ich morde! Haltet Abstand von mir."

So schreibt Weigel gegen weitere Mythen an, die auch vor dem Tod der Schriftstellerin nicht haltmachen. Fast vergnüglich, wenn sie nicht den Tatsachen entsprächen, ließen sich jene Passagen lesen, in denen es um die Entdeckermythen geht, die sich um die viel zu früh verstorbene Schriftstellerin ranken: Hans Weigel will sie entdeckt haben, Hans Werner Richter aber genauso, ein Herr Häcker jedoch auch oder - peinlichstes Beispiel - ein damals wie heute unbekannter Schriftsteller namens Adolf Opel, der eine vor Jahrzehnten gemeinsam mit der Autorin unternommene Reise zum Anlaß für einen teuren Bildband mit nachgestellten Photos genommen hat. Der spärliche Text besteht hauptsächlich aus Passagen des "Franza"-Fragments von Bachmann. Tote können sich nicht wehren. Vor allem nicht gegen die zerstörerische Aneignung ihrer Hinterlassenschaft. Zur Vorsicht mahnt deshalb Sigrid Weigel immer wieder, auch wenn oder gerade weil für sie selbst diese Hinterlassenschaft von so großem Interesse ist.

Die Literaturwissenschaftlerin veröffentlicht mit dieser Monographie die Summe ihrer jahrzehntelangen Überlegungen und Forschungsergebnisse zu jener Autorin, über die sie von Beginn ihrer Laufbahn an gearbeitet hat. Auch in ihren grundlegenden Aufsatzsammlungen über deutschsprachige literarische Texte von Frauen, "Die Stimme der Medusa", oder dem kulturgeschichtlich ausgerichteten Band "Topographien der Geschlechter" räumt sie dem Werk Bachmanns einen hohen Stellenwert ein. In den letzten Jahren orientierte sich die ehedem offen feministisch argumentierende Literaturwissenschaftlerin mehr und mehr an kulturhistorischen und interkulturellen Fragestellungen, reflektierte etwa über Kommunikationsmedien wie das Telefon in der Literatur, die Verbindungslinien von Poststrukturalismus und Kritischer Theorie oder über die geschichtstheoretischen und kunstphilosophischen Positionen Walter Benjamins. Und sie setzte sich verstärkt mit der Geschichte des Judentums, der Shoah sowie der Nachkriegsgeschichte auseinander. Dabei entdeckte sie auch das Werk Gershom Scholems für sich. Dies alles schlägt sich in ihren letzten Publikationen nieder, auch in der vorliegenden.

Kämpferisch wie ehedem zeigt sich Weigel vor allem dann, wenn sie die Neuausgabe der "Todesarten" attackiert, die 1995 bei Piper erschien und seither also in einer kritischen und umfassend kommentierten Neuedition vorliegt. Die Erben Bachmanns haben die für die Erfordernisse textphilologischer Arbeit relevanten Textpartien des bis zum Jahr 2025 gesperrten Nachlasses zugänglich gemacht und zur Veröffentlichung freigegeben. Die Kritische Ausgabe beruht somit auf den zur Zeit bekannten Überlieferungsträgern. Die Bachmann-Forschung, die sich, seit den achtziger Jahren vor allem auch unter feministischen Perspektiven, exzessiv mit den Romanen "Malina" und dem Romanfragment "Das Buch Franza" (früher: "Der Fall Franza") befaßt hat, steht also vor einer zum Teil stark veränderten Textgrundlage, gerade was das Fragment anbelangt. An der Neuedition der "Todesarten" wird seit ihrem Erscheinen herumgekrittelt, mehr noch: man streitet heftig über sie. Welche Texte gehören nun wirklich zum Umkreis des "Todesarten"-Projekts, welche unmittelbar dazu, welche nicht? Gräben haben sich aufgetan; Prozesse werden geführt, die allein schon Stoff für neue Publikationen bieten (vgl. Heidelberger-Leonard, deren Studie dazu in dieser Ausgabe von literaturkritik.de ebenfalls rezensiert wird). Kurzum: die Bachmann-Forschung ist derzeit in zwei Lager gespalten: in das der Anhänger der Werkausgabe von 1978, die nach Maßgabe der Freundinnen der Autorin, Inge von Weidenbaum und Christine Koschel, die den Nachlaß als erste sortiert hatten, zusammengesetzt ist. Und in das Lager der Befürworter der Kritischen Edition: Robert Pichl, der Gralshüter der Bachmannschen Privatbibliothek, sowie Dirk Göttsche und Monika Albrecht haben die Kritische Ausgabe mit geradezu kriminalistischem Spürsinn erarbeitet und ihr einen instruktiven Kommentar beigefügt, in dem den offenen Rändern des Projekts Rechnung getragen wird.

Daß sie der Anhängerschaft der ersten Ausgabe angehört, daraus macht Sigrid Weigel keinen Hehl. So verweist sie auf die zahlreichen Interviews von Bachmann, die ihrer Ansicht nach belegen, daß diese zu einem publikationswürdigen Anfangszustand geschweige denn zu einer sie zufriedenstellenden Realisierung des geplanten "Todesarten"-Zyklus nie wirklich vorgedrungen ist. Den 1971 veröffentlichten Roman "Malina" bezeichnete Bachmann selbst als den lang gesuchten Anfang der "Todesarten". Die zwei zuvor geschriebenen Bücher sah sie als Bestandteil von deren Fortsetzung an. Weigel schreibt dazu: "Wenn man Bachmanns Hinweis auf das 'noch nicht geschriebene Buch' ernst nimmt, dann bezeichnet der Titel 'Todesarten' eine Leerstelle, die durch 'Malina' und tausend Seiten Fragmente umschrieben wird. Jede Edition ihres Nachlasses steht somit vor der Herausforderung, mit dem uneindeutigen Autorkommentar zum überlieferten Textmaterial - zwischen 'fertig' und 'noch-umzuarbeiten' umzugehen. In jedem Fall gilt es, ein work in progress zu würdigen, ohne die offenen Probleme, für die die Autorin selbst (noch?) keine Darstellungsform gefunden hatte, durch eigene Lösungen zu schließen." Genau diesen falschen Ehrgeiz wirft Weigel nun den Herausgebern der Kritischen Ausgabe vor. Das Ziel der kritischen Edition des "Todesarten"-Projekts, den Versuch aus Fragmenten, Brüchen und Leerstellen eine lückenlose Überlieferungsgeschichte zu dokumentieren, ist aus ihrer Sicht einfach nur "paradox". Sie plädiert statt dessen dafür, sich an die Angabe der Autorin zu halten, also "Malina" textkritisch zu überarbeiten und die zwei Romanfragmente "Franza" und "Fanny Goldmann" in allen Fragmentteilen anzuschließen. "Eine Alternative", so Weigel, "wäre die Edition des gesamten zugänglichen Nachlasses", denn dann erläge man nicht dem "editorischen Ehrgeiz" bei der Entscheidung, welche Texte man dem "Todesarten"-Projekt zuordnet, welche nicht. So sei, was nun vorliege, allenfalls "ein Zwitter: eine Teiledition des zugänglichen Teils des Nachlasses unter dem Titel der 'Todesarten'."

Noch fragwürdiger erscheinen ihr die Kriterien, nach denen ediert wurde. Das von den Neueditoren angeführte Argument der "Motivgenese", d.h. der Wiederkehr von Figuren, Motiven oder Handlungselementen, hätte zu anderen Textzusammenstellungen führen müssen, so die Literaturwissenschaftlerin. Nach ihrer Auffassung gehörten demnach der Erzählband "Das dreißigste Jahr" und auch das Hörspiel "Der gute Gott von Manhattan" unbedingt in eine Kritische Edition der "Todesarten".

Neben solchen Ermahnungen zu mehr Respekt gegenüber Bachmann und ihrem Werk, auch was "die Frage des Umgangs mit Hinterlassenschaften" anbelangt, folgt Weigel unter anderem den Spuren der Psychoanalyse-Rezeption im "Todesarten"-Projekt oder rückt das Trauma, die Problemkonstante des Bachmannschen Werkes schlechthin, gedächtnistheoretisch ins Zentrum.

Hilfreich und informativ ist die ausführliche Chronik am Ende, in der großer Wert auf die politischen Aktivitäten Bachmanns gelegt wird. So führt Weigel neben Bachmanns Beitritt zum "Komitee gegen die Atomrüstung" im April 1958 das Engagement der Autorin gegen den Algerien-Krieg 1960, gegen den Vietnamkrieg und gegen die Verjährung von Naziverbrechen an. Aber auch die große Zahl der begonnenen und wieder verworfenen Pläne sowie abgebrochenen Projekte der Autorin wird deutlich. Wichtig für das Verständnis ihres komplexen Werkes sind außerdem die Verweise auf gesellschaftspolitische Kontexte sowie auf ihre kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Shoah und dem jüdischen Denken. Sie untermauern noch einmal, was diese Monographie insgesamt sehr stringent herausarbeitet: Bachmann hat ein 'Denken nach Auschwitz' vollzogen und sie hat mit ihren literarischen Texten dazu beigetragen, es anderen zu ermöglichen.

Sigrid Weigels Monographie ist ein Meilenstein in der Bachmann-Forschung. Die von ihr unternommene Gratwanderung, eine Gesamtdarstellung zu schreiben, die einerseits das "Briefgeheimnis" Bachmanns wahrt, andererseits die Vielzahl an Korrespondenzen mit anderen Denkern verdeutlicht, ist ihr gelungen. Damit zeichnet sie ein überzeugendes Profil der bedeutenden Intellektuellen Bachmann nach.

Titelbild

Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaft unter Wahrung des Briefgeheimnisses.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999.
605 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3552049274

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