Die Liebe in Sibirien

Der Tatarin Gusel Jachina ist mit „Suleika öffnet die Augen“ ein kraftvolles Debüt gelungen

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Zeit zu Zeit erscheint ein Roman einer unbekannten Autorin, der von vergessenen Zeiten und weit entfernten Gegenden erzählt und trotzdem sofort sein Publikum findet. Gusel Jachinas Debüt Suleika öffnet die Augen ist ein solcher besonderer Fall. 2015 in Russland erschienen und dort mehrfach – unter anderem mit dem Grand Prix des russischen Literaturpreises – ausgezeichnet, wird der Roman derzeit in 16 Sprachen übersetzt und demnächst in 24 Ländern veröffentlicht.

In ihrem Geleitwort ordnet Ljudmila Ulitzkaja ihre tatarische Kollegin Gusel Jachina in die Reihe der großen bikulturellen Schriftsteller ein, die einer der vielen Ethnien des sowjetischen Imperiums angehörten, aber auf Russisch schrieben: Fasil Iskander, Juri Rytcheu, Anatoli Kim, Tschingis Aitmatow. „Zu den Traditionen dieser Schule gehörten eine profunde Kenntnis des nationalen Materials, die Liebe zum eigenen Volk, ein von Würde und Respekt getragenes Verhältnis zu Menschen anderer Nationalitäten und ein sensibler Umgang mit der Folklore.“ All diese hohen Forderungen sieht Ulitzkaja in Jachinas Erstling eingelöst, und mehr noch: „Er besitzt die wichtigste Eigenschaft echter Literatur: Er trifft mitten ins Herz.“

Gusel Jachina erzählt in ihrem historischen Roman von der Deportation einer Gruppe von Bauern und Städtern zur Zeit der Entkulakisierung. Zur Erinnerung: Die Entkulakisierung ab 1930 war eine der großen Gewaltkampagnen in der sowjetischen Geschichte. Etwa vier Millionen Menschen waren von der Enteignung ihrer Bauernhöfe, von Vertreibung und Zwangsaussiedlung nach Sibirien betroffen; eine halbe Million von ihnen kam im Chaos der Entkulakisierung zu Tode. Das System der sowjetischen Arbeitslager, unter dem Kürzel Gulag bekannt geworden, nahm mit diesen Zwangsumsiedlungen seinen Anfang. Die entkulakisierten Bauern wurden in Sibirien ausgesetzt, um in Sondersiedlungen das Land zu kolonisieren. Die wenigsten kehrten zurück.

Gusel Jachina hat sich also ein großes (und noch wenig bearbeitetes) Thema vorgenommen. Ihr Roman beruht, wie sie in einem Interview sagte, zu Teilen auf den Erlebnissen und Erzählungen ihrer Großmutter. Zugute kam ihr zudem die Ausbildung an der Moskauer Filmschule: Jachina erzählt über weite Strecken im filmischen Präsens, versteht sich auf dramatische Wendungen und lässt den Point of View elegant von der Hauptprotagonistin Suleika auf weitere Figuren hinübergleiten.

Jachinas Roman beginnt mit der großartigen Schilderung eines Tages im Leben der muslimischen Bauersfrau Suleika. Sie wohnt in einem tatarischen Dorf, ist mit einem viel älteren Mann verheiratet und ihm demütig ergeben, wird von ihrer 100-jährigen Schwiegermutter schikaniert („Du bist und bleibst ein nasses Huhn“) und arbeitet bis zum Umfallen. Der sinnliche Detailreichtum zieht den Leser sofort und unwiderstehlich in diese fremde, düstere, patriarchalische Welt hinein. Auch Suleikas Innenwelt, halb muslimisch, halb magisch, wird geschickt entfaltet.

Als marodierende Kommunisten ihren Mann erschießen und Suleika vom Hof vertreiben, steht sie zunächst unter Schock: „Ihre Gedanken sind immer noch zäh und unbeweglich wie Brotteig. Die Augen sehen, was um sie herum geschieht, aber wie durch einen Vorhang. Die Ohren hören, aber die Klänge kommen wie aus weiter Ferne. Der Körper bewegt sich und atmet, aber es ist, als sei es nicht ihr eigener.“

Doch nach und nach, auf dem Weg in die Umverteilungskasematten von Kasan und dann im Güterzug, in dem sie, eingepfercht mit 50 weiteren Menschen, monatelang unterwegs ist, wird sie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich in eine neue Welt gezwungen.

Die Erzählung dieser monatelangen Tortur im Güterwagen auf dem langen Weg nach Ostsibirien ist das herausragende Kernstück des Romans. Jachina lässt eine Reihe von Figuren lebendig werden und erzählt die je eigenen Schicksale mit spürbarer Liebe: Es geht um die „ehemaligen Menschen“, vertriebene Künstler und gebildete Bürger aus Leningrad, den einst genialen, nun geistig entrückten Frauenarzt Professor Leibe aus Kasan, einen Kriminellen namens Gorelew, der die Vorherrschaft im Waggon übernimmt, sowie den Kommandanten Ignatow, der nur widerwillig den Auftrag annimmt, diese Gruppe nach Sibirien zu bringen.

Suleika ist schwanger und bringt in der sibirischen Einöde einen Sohn zur Welt. Die ehemals so feste Schale ihrer traditionellen, mythischen Weltsicht ist unter der Tortur der Deportation zerbrochen. Und Suleika atmet heimlich auf:

„Sie betete jetzt immer seltener und kürzer, gleichsam nebenbei. Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber in ihrem Kopf hatte sich ein sündiger, im Grunde ungeheuerlicher Gedanke eingenistet: Vielleicht war der Allmächtige so mit anderen Angelegenheiten beschäftigt, dass er sie – dreißig hungrige, abgerissene Menschen in der Tiefe des sibirischen Urmans – vergessen hatte? […] Das flößte ihr eine merkwürdige, irrsinnige Hoffnung ein: Es konnte doch sein, dass Allah, der ihr vier Kinder genommen hatte und ihr offenbar auch das fünfte nehmen wollte, sie einfach nicht bemerkte?“

Sie fällt allmählich vom Glauben ab, bleibt jedoch eine geduldige, unermüdliche Arbeiterin. Sie verliebt sich in Ignatow, den einstigen Mörder ihres Mannes, und diese beiderseitige Liebe lässt sich sehr viel Zeit.

Das ist gefällig geschrieben, schön zu lesen und geht auch wirklich zu Herzen. Doch im letzten Drittel verliert Jachina den Erzähl-Faden ein wenig. Es geht nun nicht mehr um die Entwicklung einer Frauengestalt in finstersten Zeiten. Es geht auch nicht mehr um die Schicksale der anderen Figuren, die von der sowjetischen Führung rücksichtslos enteignet und aus ihrer Welt gerissen wurden. Stattdessen wird nun eine recht klebrige Ergebenheit zum sowjetischen Kommandanten Ignatow zelebriert:

„Er war derjenige, der sie hier am Ende der Welt in Empfang genommen hat. Der sie in die Taiga trieb und über ihre Kräfte schuften ließ, der mit eiserner Hand die Planerfüllung durchsetzte, sie verhöhnte, ängstigte, bestrafte. Der für sie Häuser baute, ihnen zu essen gab, sich um Lebensmittel und Medikamente für sie kümmerte, sie gegenüber der Zentrale verteidigte. Der sie über Wasser hielt. Und sie ihn.“

Auf den letzten Seiten gerät die Darstellung der „Sondersiedlung“ vollends zur naiven Dorfmalerei: „In der Siedlung herrscht viel Getriebe – es ist Sonntag. An den weit geöffneten Fenstern flattern frisch gewaschene Gardinen im Wind, hinter den Zäunen blüht der Jasmin. […] Es riecht nach Rauch, Badehaus, frisch gehobeltem Holz, Milch und Plinsen.“ Die Tragödie der entwurzelten und gnadenlos ausgebeuteten Menschen weicht hier einem dumpfen Einverständnis – man hat sich abgefunden, eingerichtet. Suleika bleibt zurück, als ihr Sohn flieht, um in Leningrad an die Kunstschule zu kommen.

Suleika öffnet die Augen ist ein kraftvoller, poetischer, über weite Strecken mitreißender Roman. Er entführt mit überaus sinnlicher Sprache in die Zeit eines furchtbaren Leids, dem er am Ende jedoch nicht mehr gerecht wird.

Titelbild

Gusel Jachina: Suleika öffnet die Augen. Roman.
Mit einem Geleitwort von Ljudmila Ulitzkaja.
Übersetzt aus dem Russischen von Helmut Ettinger.
Aufbau Verlag, Berlin 2017.
541 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783351036706

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