Anarchisten im Weltall

Zur Neuübersetzung von Ursula K. Le Guins „The Dispossessed“

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im vergangenen Herbst wurde Ursula K. Le Guin 88 Jahre alt. Gern würde man sie die wichtigste lebende Science-Fiction-Autorin der Vereinigten Staaten nennen – oder die „Grande Dame der angloamerikanische Science Fiction“, wie es im Klappentext des vorliegendes Bandes geschieht –, liefe man damit nicht immer noch Gefahr, ihr Werk unter Wert zu verkaufen. Denn unabhängig von der Frage des Genres sollte man im Urteil über Le Guin nicht einem Mainstream folgen, der sorgfältig zwischen Science-Fiction oder Fantasy einerseits und anspruchsvoller Literatur andererseits unterscheidet. So es diesen Mainstream überhaupt noch gibt. Denn in einem großen Porträt für den New Yorker aus Anlass des Geburtstags würdigte jüngst erst Julie Phillips Le Guin für die Leistung, ebendiese Grenze nachhaltig unterlaufen zu haben: „The literary mainstream once relegated her work to the margins. Then she transformed the mainstream.“

Man mag daran zweifeln, dass das auch für die Verhältnisse hierzulande gilt. Doch eine jüngst erschienene neue deutschsprachige Ausgabe von Le Guins wirkungsreichstem Roman The Dispossessed (1974) unter dem Titel Freie Geister bietet immerhin eine gute Gelegenheit, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Es handelt sich bei Karin Nölles Neuübersetzung um die inzwischen bereits fünfte deutschsprachige Edition des Buches, für das die Autorin nach seinem Erscheinen mit mehreren der wichtigsten internationalen Auszeichnungen im Bereich der Science-Fiction-Literatur prämiert wurde, unter anderem mit dem Nebula und dem Hugo Award. Ebenso wie der ähnlich hochdekorierte erste Erfolgsroman von Le Guin, The Left Hand of Darkness (1969, deutsch unter den Titeln Der Winterplanet und Die linke Hand der Dunkelheit erschienen), gehört Freie Geister zu einer Reihe von Science-Fiction-Romanen, dem Hainish-Zyklus, in denen Le Guin sich mit einem Universum auseinandersetzt, dessen bewohnte Planeten ursprünglich durch Menschen vom Planeten Hain aus besiedelt worden sind. Nichtsdestoweniger handelt es sich um ein eigenständiges Buch, in dem sich die Autorin eines politisch sehr relevanten Themas annimmt: dem Projekt einer herrschaftsfreien Gesellschaft.

Anarres und Urras bilden ein Doppelplanetensystem in einer Umlaufbahn von Tau Ceti. Urras ist ein fruchtbarer, recht dicht besiedelter Planet, der auch in politischer Hinsicht der Erde nicht unähnlich ist: Es gibt verschiedene Staaten von unterschiedlichem Entwicklungsstand und mit unterschiedlichen politischen Verfassungen, die miteinander konkurrieren – allen voran A-Jo und Thu, die in einer stark an den West-Ost-Gegensatz zur Entstehungszeit des Romans erinnernden Spannung zueinander stehen, patriarchaler Kapitalismus versus sozialistische Diktatur. Die Bewohner des trockeneren, kargeren Nachbarplaneten Anarres hingegen leben unter Bedingungen von Anarchie, frei von politischer Herrschaft und hierarchischer Ordnung. Sie sind die Nachkommen einer Gruppe von Idealisten und Revolutionären, die Urras gut eineinhalb Jahrhunderte vor der Romanhandlung verlassen konnten beziehungsweise mussten, um auf Anarres ihre Gesellschaftsvorstellungen zu verwirklichen.

Shevek, ein Physiker und Mathematiker von Anarres, ist Le Guins Protagonist. Dank seiner herausragenden Erkenntnisse auf dem Gebiet der „edlen Wissenschaften“, die über strikte Naturwissenschaft in unserem Sinne hinausgehen, wird er eingeladen, als Gastforscher an die Universität von Jeu Eun zu kommen, die wichtigste Hochschule von A-Jo. Er ist der erste Anarrese seit der Besiedlung des Planeten, der mit einem der Raumschiffe, die sonst Bodenschätze nach Urras transportieren, dorthin zurückkehrt. Der Roman erzählt in abwechselnden Kapiteln seine Geschichte – einerseits von seiner Reise nach Urras, seinem Aufenthalt dort und schließlich seiner Heimkehr, andererseits die Geschichte seines Lebens bis zu seiner Abreise im Alter von etwa 40 Jahren.

Shevek arbeitet an einer allgemeinen Theorie der Temporalität. Man darf dies wohl als eine Variante der irdischen einheitlichen Feldtheorie verstehen, die im Hainish-Universum zudem zur wissenschaftlichen Grundlage interstellarer Kommunikation in Überlichtgeschwindigkeit werden wird. Es ist daher wenig verwunderlich, dass Shevek in A-Jo zum Ziel und Spielball verschiedener politischer und wirtschaftlicher Interessen wird, die sich auf seine Forschungsarbeit richten, aber auch seine Herkunft von Anarres betreffen. Shevek wird zur Symbolfigur von Widerstandsgruppen, die gegen die kapitalistische Ausbeutung der ärmeren Schichten in A-Jo aufbegehren und stattdessen nach einer sozialistischen oder anarchischen Gesellschaft streben.

Allerdings war auch Sheveks Vorleben auf Anarres durchaus nicht frei von Spannungen. Dort haben sich die Auswanderer von einst – als Anhänger der Lehre einer legendären Philosophin, Odo – ein scheinbar anarchistisches Utopia geschaffen: Es gibt keine politische Herrschaft mehr, kein persönliches Eigentum, keine engen Familienbande, stattdessen eine in autonomen Syndikaten organisierte Tauschwirtschaft und neue soziale Strukturen mit Schlafhäusern und Gemeinschaftsküchen. An die Stelle des Patriarchats sind Emanzipation, sexuelle Freiheit und genderneutrale Vornamen getreten. Selbst die Kunstsprache, die sich die Anarresen angeeignet haben, das Pravic, ist den gesellschaftlichen Vorstellungen der Odonier entsprechend organisiert; es gibt zum Beispiel keine Eigentum anzeigenden Verben oder Pronomen mehr beziehungsweise werden diese anders verwendet. Die Auflösung von Grenzen und Mauern zwischen den Menschen, die durch Ansprüche an Macht und Eigentum in die Welt getreten seien, bildet überhaupt den Kerngedanken der odonischen Philosophie.

Diese Utopie ist ganz ohne Zweifel der mehr als nur heimliche zweite Held des Romans. Wenn Le Guin in der Vorbemerkung zur 1976 erschienenen Neuausgabe ihres Romans The Left Hand of Darkness die Aufgabe der Science-Fiction als „Gedankenexperiment“ umschreibt, so gilt das analog auch hier: Es geht ihr darum, die Möglichkeit einer anarchischen Gesellschaft nachzubilden und sie mit der Wirklichkeit zu kontrastieren. Und doch ist es eine „zwiespältige“ Utopie, wie es der Untertitel der deutschen Ausgabe formuliert – im Original sogar noch um ein Grad schärfer: ein „ambiguous utopia“. Denn das anarchistische Projekt auf Anarres vermag in diesem Roman weder den Lebensstandard und Wohlstand zu verwirklichen, der vielen Menschen auf Urras selbstverständlich ist (Shevek muss auf Anarres, dem Wüstenplaneten, sogar eine jahrelange schwere Hungerkrise durchstehen), noch darf man sich das gesellschaftliche Zusammenleben unter Bedingungen der Herrschaftsfreiheit konfliktfrei vorstellen. Im Gegenteil. Wo nämlich der Staat als die machtvolle, regulierende, auch übergriffige und unterdrückerische Instanz wegfällt, als die er auf Urras fungiert, dort schlägt umso stärker ein freies Spiel gesellschaftlicher Kräfte durch, das geprägt ist von persönlichen Eitelkeiten, Zu- und Abneigungen, individuellem Streben nach Einfluss und auch ideologischen Grabenkriegen.

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat: Shevek muss als intelligentes und neugieriges Kind schon früh die Erfahrung machen, von seinen Mitmenschen zurechtgestutzt zu werden – er solle nicht „egoisieren“, heißt es dann, er dürfe nicht „propertär“ denken, wie man es auf Urras mache, so die gängigen Vorwürfe. Und auch später wird sein wissenschaftlicher Erkenntnisdrang durch die Eifersüchteleien von Konkurrenten ausgebremst und seine Absicht, nach Urras abzureisen, wird zum Gegenstand von heftiger Kritik und Anfeindungen. Bei aller Freiheitsliebe ist die herrschaftsfreie anarresische Gesellschaft stark antiindividualistisch. Sie straft Abweichler mit sozialer Ächtung oder gar Psychiatrisierung und verdankt ihre Geschlossenheit einer von Generation zu Generation vermittelten Gründungslegende mit klarem Feindbild (die „Archisten“ auf Urras) sowie der ideologisch verklärten Verehrung der Philosophin Odo.

Bei aller Klarheit ihrer gesellschaftskritischen Intention macht es sich Le Guin mit ihrer „zwiespältigen Utopie“ also durchaus nicht einfach. Die Staats- und Religionskritik des Anarchismus, die Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem und seiner Ausbeutung der Erde, der Feminismus und die sexuelle Revolution (wenn auch noch mit deutlich heteronormativem Vorzeichen) haben in diesem Roman ihre Spuren hinterlassen. Offenkundig sind die Früchte einer intensiven Auseinandersetzung mit Autoren wie Percy Shelley, Emma Goldman, Paul Goodman und Peter Kropotkin, die Le Guin an anderer Stelle selbst benennt. Doch der Roman gibt keine klaren Antworten, präsentiert keine eindeutig bessere Welt, die sich der kritisierten gegenüberstellen ließe.

Diese Komplexität und Vielschichtigkeit in den Deutungs- und Verständnisebenen des Textes machen die Lektüre des Romans auch nach über 40 Jahren und angesichts des veränderten weltpolitischen Kontextes unbedingt empfehlenswert. Dies gilt zumal, da mit der Übersetzung von Karen Nölle nun eine hervorragende Neuausgabe vorliegt. Sie gibt auch eine glänzende Antwort auf das Titelproblem: Die im Originaltitel The Dispossessed mitschwingende Mehrdeutigkeit – zwischen Besitzlosigkeit und Nichtbesessenheit – wurde in den bisherigen deutschen Ausgaben mit den Titeln Planet der Habenichtse (1976/1987/1999) beziehungsweise Die Enteigneten (2006) übergangen und beinahe ins Groteske verzerrt. Der neue Titel trifft die Lebenswirklichkeit oder wenigstens den Lebensanspruch der Anarresen sehr viel besser: Frei von Macht und Eigentum sehen sie sich als auch im Geiste befreit, befreit von den Dämonen des Besitzes, befreit zur friedlichen Gestaltung ihres Zusammenlebens. Inwieweit ihnen dies gelingt und inwieweit nicht, davon erzählt Le Guins Roman und gibt damit eine zeitlos lesenswerte Anregung.

Hinweis:

Mit der Erzählung Der Tag vor der Revolution hat Le Guin ihrem Roman eine Art Vorgeschichte geschrieben, die vom Todestag der legendären Philosophin Laia Asieio Odo erzählt – lange vor der Auswanderung der Odonier nach Anarres. Die 1974 erstmals veröffentlichte und dem 1972 verstorbenen Paul Goodman gewidmete Erzählung hat der Verlag der Freien Geister, ebenfalls neu übersetzt von Karen Nölle, frei verfügbar im Internet bereitgestellt.

Titelbild

Ursula K. Le Guin: Freie Geister. Eine zwiespältige Utopie.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Karen Nölle.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
432 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783596035359

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