Du sollst dir ein Bild machen

Helmut Böttiger verneigt sich in „Celan am Meer“

Von Anna EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Helmut Böttiger reist an einen Ort in der Bretagne, an dem Paul Celan mehrere Wochen verbrachte und schrieb. In Celan am Meer berichtet er von den dort entstandenen Gedichten Celans – erschienen 1963 im Band Die Niemandsrose – sowie dem Haus, in dem er lebte, der Gegend und der Landschaft. Der Autor, Literaturkritiker sowie ehemaliger Literaturredakteur der „Frankfurter Rundschau“, hat bereits zu Orten Paul Celans publiziert und spricht von dem Dichter aus der Perspektive des Kenners: Er überblickt Werk und Leben desselben und gewährt Schlaglichter auf seine Briefe, Übertragungen, Lektüre, Orte und literarische Entwicklung. An bestimmten Stellen geht Böttiger tiefer mit leichtem Ton, etwa wenn er sich auf Briefe des Paares Gisèle Celan-Lestrange und Paul Celan bezieht.

Das Buch enthält Kapitel über einzelne Gedichte und das Leben und Werk Celans, gerahmt und verortet durch die Ankunft, den Aufenthalt und die Abreise eines „wir“, das Böttiger und eine unbekannte Begleitung umfasst. Der schlanke Band erschien erstmals 2006 und liegt nun überarbeitet und in ansprechenden Blautönen gehalten in gebundener Form im Wallstein Verlag vor.

Celan am Meer fokussiert die Jahre 1960/61 – in den Augen Böttigers ein Wendepunkt in dessen Leben. Er erhielt 1960 den Büchner-Preis, während gleichzeitig der Literaturbetrieb die Goll-Affäre debattierte: Claire Goll warf Celan vor, ihren Mann Ivan plagiiert zu haben, was sich später als unbegründet erwies, aber antisemitische Äußerungen evozierte und Celan in tiefe Zweifel stürzte. Lestrange schlug daher Anfang 1961 vor, Paris und damit den Literaturbetrieb für ein Jahr zu verlassen. Celan war 1954 erstmals in der Bretagne gewesen, erneut 1957, auch weil seine Schwiegermutter in der Nähe lebte. In dem Dorf Trébabu verbrachte das Paar 1960 dann zwei Wochen sowie zwei Monate im folgenden Jahr mit Sohn Eric. Sie wohnten in einem Nebenhaus auf dem Gelände des Schlosses Kermorvan. Was für eine Zeit war das, in die sich Böttiger knapp 50 Jahre später gedanklich begibt?

Er gibt Überblicke und ruft Situationen in Erinnerung, über die man eventuell bereits gelesen hat. Das Buch ist sowohl vertiefend für Fortgeschrittene im Werke Celans als auch erhellend für Neulinge. Für die Erläuterungen der Gedichte, die in der Bretagne entstanden sind, nimmt sich der Autor Zeit. Le Menhir beispielsweise bereitet Böttiger vor: Er beschreibt den Weg zu dem Stein, den Celan gesehen hat, schildert seinen eigenen Eindruck des Steins worauf das Gedicht Strophe für Strophe folgt – diese Herangehensweise geht auf.

Der Band stellt keine selbstreflexive Studie über die Beziehung Böttigers zu den Gedichten Celans dar. Wenn er dessen Werk beschreibt, dann kenntnisreich und voller Anerkennung. Wenn er auf die Landschaft eingeht, dann im Stil eines nüchternen Beobachters. Selten schmiegt Böttiger sich an Celans Stil an, sondern liefert seine Perspektive auf die Verbindung von Dichtung und Landschaft. Die bretonische Küste und das Gestein betrachtet er dementsprechend nicht aus der Sicht eines Geologen, sondern eines Archäologen, der mit literaturwissenschaftlichen Methoden die Schichten aus Phänomen, Sprache, Biografie und Zeit differenziert.

Es ist nicht notwendig, die Orte in der Bretagne zu sehen oder über sie zu lesen, um Celans Werk zu begreifen, auch nicht, um sein Leben zu verstehen. Man muss sich kein Bild machen. Aber dass jemand diesen Ort aufsucht – und Böttigers Besuch bei den ehemaligen Vermietern zeigt, dass das bisher nur wenige getan haben – ist gleichwohl eine Bereicherung. Böttiger überhöht seine Erkundungen nicht als große Pilgerfahrt im Sinne eines „Auf-den-Spuren-von“, sondern der Band liest sich eher wie eine Serie von Postkarten, gesendet von einem interessierten, klugen Freund.

Zwischen Gedichts- und Landschaftsinterpretation gibt der Text aufschlussreiche Informationen, beispielsweise über Celans Prozess des Schreibens, über Lyrik als Czernowitzer Gesellschaftsspiel oder über den Ton in Celans frühen Gedichten: „Seine ersten Gedichte sprachen im unverwechselbaren Ton Rilkes, das Versmaß war elegisch und voller Trauer und Verzicht. Hier blühte es und überblühte, hier lag alles in einem schweren, mächtigen Aroma, eine dunkle Pracht.“ An solchen Stellen ist fraglich, ob es sich um eigene Thesen oder zusammenfassende Forschung handelt. Böttiger verzichtet auf Fuß- oder Endnoten, erwähnt jedoch einige zentrale Bücher am Ende des Bandes. Mitunter ufert das Buch Richtung Celans Geliebten aus – Ingeborg Bachmann, Brigitta Eisenreich und Diet Kloos-Barendregt – oder überhöht die Leidensfähigkeit der Ehefrau Celan-Lestrange.

Der Autor stellt uns die Bretagne als vormenschlich und überzeitlich vor. Das ist manchmal additiv und vorhersehbar. Dagegen gewinnt der Band durch Böttigers ausgezeichnete Beschreibungen von Fotografien Celans. Das Treffen mit dem Verwalter des Schlosses, in dessen Garten die Celans wohnten, ist spannend erzählt. Auch wirft das Buch weiterführende Fragen auf, etwa zu Celans Verhältnis zur französischen Sprache oder der ökonomischen Situation des Paares um das Jahr 1960.

Brauchte Celan die Bretagne, dieses Dorf Trébabu ganz im Westen des Landes? Nein, denn die Familie kaufte sich später ein Haus in der Normandie, näher am Wohnort Paris. Aber die Landschaft ging in die Gedichte ein und ja, Celan brauchte die Zuflucht. Böttiger konstatiert: „wir sind im Celan-Land, aber wir wissen nicht, wo es beginnt, wo es endet, wo es existierte, es ist ein Wörterland.“ Ob der Griff zum Band Die Niemandsrose oder die Fahrt in die Bretagne bevorzugt wird, kann jeder für sich entscheiden – aber warum „oder“? Ich kann aus meinem Selbstversuch nur bestätigen, was die Leser bereits vermuten mögen: Das Buch eignet sich hervorragend für die Tage an der französischen Küste.

Titelbild

Helmut Böttiger: Celan am Meer.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
140 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835330436

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