Narziss im Zwiespalt

Rudolf Borchardts „Sonett auf sich selbst“

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Rudolf Borchardt

SONETT AUF SICH SELBST

Aus Sturm und Traum auffahrend, wo ich saß,
In einen Spiegel blickt ich heut hinein
Und wußte nicht von mir, und sah mit Pein
Das Antlitz meines Feindes aus dem Glas
Emporgesandt: von fleckiger Schatten Schein
Die Lippe überwildert, schien etwas
Dumpf hinzuknirschen zwischen Angst und Haß:
Ich sollt es sein; und möchte dies nicht sein!

Wir sind nicht, was wir sind; der Himmel, kaum
Vom Meer zu kennen, schleift mit Dunst beschwert
Und brütet Auswurf: aber gieße Traum
In deinen Becher; und mit Nordwind gärt
Die wundervolle See, und wildem Schaum,
Durch den das heilige Schiff mit Helden fährt.

Narziss, als er sich über die thespische Quelle beugte, war entzückt: Er verliebte sich. Kaum dass er sein eigenes Spiegelbild erkannt hatte, litt er darunter, „seine Liebe zu besitzen und doch nicht zu besitzen“, wie Karl Kerényi schreibt. Aber er erfreute sich auch an seiner Qual. Sein Bild, so glaubte er, würde ihm wenigstens treu bleiben.

Es ist schwer vorstellbar, dass der klassisch gebildete Rudolf Borchardt nicht an diesen Mythos dachte, als er 1902 das Sonett auf sich selbst schrieb. Er notierte es für Otto Deneke im Januar auf die Rückseite eines Porträtfotos und trug es einen Monat später in das Gästebuch Hugo von Hofmannsthals ein, dem er bis zum Ende ein treuer, aber auch schwieriger Freund war. Das Sonett auf sich selbst war zunächst ein Selbstbildnis für Freunde. Mit dem Druck hatte es der Autor nicht eilig. Es erschien erst 11 Jahre nach seiner Entstehung, 1913 in den Jugendgedichten.

Borchardt, als er in den Spiegel blickt, ist befremdet: vom eigenen Gesicht, dem Bartschatten („von fleckiger Schatten Schein/ Die Lippe überwildert“) und den dumpfen Zügen „zwischen Angst und Haß“. Er sieht seinen „Feind“: den, der er am wenigsten zu sein glaubt. Das unschmeichelhafte Antlitz ist ein Schock, der nur den einen Wunsch hervorbringt: „Ich sollt es sein; und möchte dies nicht sein!“

Die zwei Quartette sind ein furioser Auftakt. Ein Anti-Narziss wird hier vorgeführt – oder führt sich vor: Nicht entzückt, sondern abgestoßen vom eigenen Aussehen, mit sich hadernd, ja überworfen. Das Spiegelbild ist ihm nicht mehr als ein Zerrbild: Er möchte anders sein, als er ist. Die Selbstbetrachtung mit gemischten Gefühlen verwandelt der Dichter aber in einen Augenblick der Erkenntnis, die über seinen Fall hinausreicht: „Wir sind nicht, was wir sind“.

Die lapidare Feststellung der Selbstverfehlung könnte ein gleichfalls furioses Finale sein. Wir alle, bedeutet sie uns, erfüllen unsere Möglichkeiten nicht; wir alle sind uns nicht treu. Wir sind nicht wir selbst. Borchardt treibt sein Gedicht jedoch über die starke Sentenz hinaus. Er geht weiter – und er kehrt zurück: an den Anfang, den man leicht überliest. Da fährt das Ich verstört aus „Sturm und Traum“ auf. Was nun, in den Terzetten, daran anknüpfend folgt, ist eben das Traumstück.

Es ist genau betrachtet ein Seestück, das den Quellen-Mythos vom Narziss hinter sich lässt. Der Seefahrer-Mythos von der Art der Argonautenfahrt ist eine Fantasie vom Aufbruch ins Neue, Unbekannte, auf die offene See hinaus. In ihr spiegelt man sich nicht – auf ihr man wird, was man nicht ist: ein Held, ‚wunderbar’ und ‚wild’, unterwegs, wie ein Pilger zu sich selber, in einem ‚heiligen Schiff’ auf unwirtlichem Meer. Erst vom Ende her versteht man den Anfang ganz: Was das Ich im Spiegel sieht, ist ein Schatten seiner selbst und bleibt weit hinter dem zurück, was es sein könnte – würde der Traum die Wirklichkeit, für die ihn das Ich nimmt, während es ihn träumt. 

Mit diesem Traum von eigener Größe nimmt das Sonett eine gloriose Wendung – und sie wäre vielleicht eine zu gloriose, die noch die Verblendung des Narziss überträfe, hätte das Gedicht nicht eine Zirkelstruktur. Aus seinem Traum wird das Ich nämlich wieder „auffahren“ und noch immer sein, was es ist: mit dem nicht eins, was es (von sich) liebt. Was bleibt, ist der unaufhebbare Zwiespalt von Selbst-Bildnis und Selbst-Bild.

Rudolf Borchardt: Gedichte. Textkritisch revidierte Neuedition der Ausgabe von 1957. Herausgegeben von Gerhard Schuster und Lars Korten. Klett-Cotta Verlag Stuttgart 2003. 635 Seiten, S. 109.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz