Sieg der Perspektivlosigkeit

Jurgita Ludavičienė zeichnet in ihrer zweisprachigen Anthologie „Kein Streicheln“ mit 14 jungen litauischen Autoren ein Bild einer Generation wie ein Tritt in die Realität

Von Carina AlexanderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Alexander

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unser Bild von der Generation Y in Litauen ist durch die bisher stiefmütterliche Rezeption der litauischen Literatur hierzulande zu Beginn noch völlig unbestimmt und leer. Im Vorwort von Kein Streicheln verspricht die Herausgeberin, dass 14 junge litauische Autoren mit zahlreichen Gedichten und Kurzgeschichten es nun unsanft ausfüllen werden. Mit dem Bild der westeuropäischen Generation Y im Kopf öffnet man gespannt auf die Weltanschauungen, Wünsche und Träume der jungen litauischen Autoren die Anthologie.

Dabei fallen die Texte aus dem Buch heraus, wie viele kleine Puzzleteile, die verteilt und zusammengefügt werden wollen und es wird schnell klar – das Bild ist ziemlich dunkel. Auch nachdem alle Stücke ausgebreitet sind, ergibt sich noch kein Ganzes, denn da fast alle Teile schwarz sind, ist es besonders mühsam, sie zusammenzufügen. Zudem ist hierfür einiges an Hintergrundwissen zur Geschichte Litauens von Nöten. Erst dann lässt sich auf unserem dunklen Hintergrund eine bedrückende Szenerie voller Zweifel und Trauer ausmachen.

Der Autor Mindaugas Nastaravičius fügt mit seinen Gedichten einen Mann in unser Bild, der sich wünscht, den Tod seiner Familie ungeschehen zu machen, indem er einfach die Augen schließt, und auch in vielen weiteren Gedichten anderer Autoren spielt der Verlust von Angehörigen und ihre Trauer eine große Rolle. Wir sehen durch Aivaras Veiknys Augen Kinder während des Krieges Krieg spielen, bis es plötzlich ernst wird. Es muss eine Eiseskälte herrschen, die den Schmerz betäubt. Einige Autoren benutzen in ihren Gedichten häufig das Motiv von Fluss und Wasser, womöglich eine Anspielung auf Litauens Flusslandschaft, und zeigen sie als lebensnotwendig aber auch als totbringend. Doch die wunderschöne Natur Litauens rückt weit in den Hintergrund des Krieges und eines Lebens unterdrückt von der Sowjetunion.

Litauen ist 1991 unabhängig geworden und seit 2004 Mitglied der EU. Das bedeutet, alle Autoren haben Erfahrungen mit dem Leben unter der Sowjetunion gemacht und berichten von ihren Entbehrungen. Obwohl Litauen zu den Ländern mit der höchsten Selbstmordrate zählt, hofft man nach zahlreichen depressiven Puzzleteilen auf ein paar hellere und hoffnungsvollere Momente, Wünsche und Träume. Auf der Suche danach wühlt man sich durch manche kryptische und unverständliche Teile, doch endlich findet man einige wenige.

In Mykolas Saukas Kurzgeschichte It macht sich ein junger Mann Sorgen darüber, dass er zu viel von sich im Internet preisgibt, und erschafft daraufhin nur noch Profile von sich, die nicht wirklich mit ihm übereinstimmen. Žygimantas Kudirka untermalt diese Sorgen ironisch und prangert die zu hohe und offene Internetbenutzung in seinem Gedicht 99 Arten am Computer zu sterben an. Damit spricht er nicht nur ein Problem von litauischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, sondern ein fast überall bekanntes.

In Tomas Vaisetas Kurzgeschichte Die Bettlerversammlung klingt die Enttäuschung über den Staat und die Hauptstadt Vilnius an und auch bei der Generation Y außerhalb Litauens, schwindet das Vertrauen in die Regierung. Hier und auch in der Kurzgeschichte Hamburg von Rimantas Kmita zeichnet sich eine zunehmende Furcht und Ablehnung gegenüber Kriegsflüchtlingen und „Dunkelhäutigen“ ab. Besonders deutlich wird das, als in Kmitas Geschichte die Jungs bei einem Auswärtsspiel in Deutschland zum ersten Mal einen von ihnen so genannten „Neger“ außerhalb von MTV sehen und sich ärgern, dass er überhaupt in einer deutschen Mannschaft spielen darf.

Die lang ersehnten Motive von Hoffnung und Liebe gelangen durch Ieva Krivickaitės und Ilzė Butkutė in unser Puzzlebild, wenn auch leider nicht so optimistisch wie erhofft. Die beiden Autorinnen setzen junge Frauen hinzu, die zum einen sehr religiös sind und sich zum anderen naiv fragen, ob man die Liebe kaufen kann. Vielleicht muss man der Liebe auch nur die Tür öffnen, aber das können sie nicht, weil „Mama ihnen immer gesagt hat, man soll keine Fremden reinlassen.“ Sonst steht die Liebe nur im Zusammenhang mit der ewigen Liebe zu Gott und verlorenen Personen.

Die wenigen hoffnungsvollen jungen Litauer in unserem Bild sitzen auf gepackten Koffern und blicken ins Ausland, besonders nach Großbritannien, Irland und Schweden und machen damit auf die große Auswanderung aufgrund der Perspektivlosigkeit in Litauen aufmerksam. So bleibt das Bild von der Stimmungslage der litauische Generation Y nach kurzem Aufleuchten von Farbe überwiegend dunkel. Manchmal gar nicht so verschieden von unserer eigenen, aber weitaus pessimistischer. Ein Buch das umarmt werden will, obwohl es um sich tritt.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jurgita Ludavičienė (Hg.): Kein Streicheln. Junge Literatur aus Litauen.
Zweisprachige Ausgabe.
Übersetzt aus dem Litauischen von Magda Doering, Berthold Forssman und Markus Roduner.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2017.
245 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783954628124

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